Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

AYMO BRUNETTI

Im Ausnahmezustand!

September 2018

Der Kollaps der Lehman-Brothers hatte im Herbst 2008 zur weltweiten Finanz- und
Wirtschaftskrise geführt. Ein Jahrzehnt später ist die Weltwirtschaft laut dem Schweizer
Ökonomen Aymo Brunetti (55) immer noch von Nachwirkungen der Krise gekennzeichnet.
Im Interview mit „Thema Vorarlberg“ sagt der Buchautor: „Bevor die Geldpolitik nicht
normalisiert ist, ist diese Finanzkrise nicht ausgestanden.“ Ein Gespräch über einstige
desaströse Geschäftsmodelle, Bankenstürme – und gezogene Lektionen.

Wir leben – so lautet der Titel Ihres aktuellen Buchs – zehn Jahre nach der Krise nach wie vor im wirtschaftlichen Ausnahmezustand … 

Die Jahre unmittelbar nach der Krise waren ein totaler wirtschaftlicher Ausnahmezustand, in jeder Hinsicht. Aber wir befinden uns auch heute noch in einem Ausnahmezustand in der Geldpolitik und zumindest ins speziellen Situationen in anderen wichtigen wirtschaftspolitischen Bereichen. Die Weltwirtschaft ist nach wie vor in vielerlei Hinsicht von den Nachwirkungen der Krise gekennzeichnet. 

Gehen wir zehn Jahre zurück? Zum Herbst 2008, zum Kollaps der Lehman-Brothers, der die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise ausgelöst hatte … 

Die Entscheidung, Lehman-Brothers keine staatliche Hilfe zu gewähren und in Konkurs gehen zu lassen, hatte einen weltweiten Sturm ausgelöst. Das Grundproblem war, dass diese US-Investmentbank über den Geldmarkt derart stark mit anderen Finanzinstituten vernetzt war, dass ihr Konkurs einen Flächenbrand auslöste, der innerhalb kürzester Zeit das gesamte Finanzsystem erfasste. Denn Lehman hatte sich praktisch bei der gesamten Finanzindustrie direkt oder indirekt verschuldet; die Bank musste jeden Tag aufs Neue rund 200 Milliarden Dollar ihrer Schulden auf den Geldmärkten refinanzieren. Mit dem Konkurs wurden nun all diese Schulden schlagartig wertlos. Und das führte dazu, dass so gut wie alle größeren Banken um ihr Überleben kämpfen mussten … 

Dabei hatte die Krise Ihren Worten zufolge bereits ein Jahr zuvor mit einem „unsichtbaren Bankensturm“ begonnen. Was war da passiert? 

Man muss vorausschicken, dass sehr viele Banken einen Großteil ihrer Geschäfte nicht mehr durch Einlagen finanziert hatten, sondern dadurch, dass sie sich auf den Finanzmärkten bei anderen Banken verschuldeten. Und dann kam die Subprime-Krise, ausgelöst von US-Geschäfts- und Investmentbanken, die in großem Stil äußerst zweifelhafte Häuserkredite an nicht kreditwürdige Leute vergeben hatten. Mit dem Argument, dass den Banken zur Sicherheit ja die Häuser blieben, schien das bei den bis dorthin ständig steigenden Immobilienpreisen ein gutes Geschäft zu sein. Doch 2006 brach dieser Boom. Erstmals seit 30 Jahren sanken die landesweiten Häuserpreise. Immer mehr konnten ihre Kredite nicht bedienen, immer mehr Häuser kamen auf den Markt. Bis dann nicht mehr klar war, welche Investmentbank durch diese zweifelhaften Hypothekarkredite eigentlich wie viel verloren hatte. Auf den elektronischen Finanzmärkten bekamen daraufhin sehr viele große Banken Schwierigkeiten, zu Geld zu kommen. Das war ein unsichtbarer, aber eigentlich ein klassischer Bankensturm – der im Kleineren das vorwegnahm, was dann im Herbst 2008 im Großen passierte. Das Feuer schwelte weiter, um sich dann mit dem Lehman-Kollaps flächendeckend auszubreiten.

Um zu illustrieren, was ein Bankensturm ist, verwenden Sie eine Szene aus einem alten Film … 

In der Hollywood-Schnulze „Ist das Leben nicht schön“ vergibt George Bailey mit seiner Bank in einer kleinen Stadt Hypothekarkredite. Bailey, gespielt von James Stewart, will gerade in die Flitterwochen aufbrechen, als er sieht, dass sich vor seiner Bank eine Schlange gebildet hat. Die Leute wollen alle ihr Geld zurück. Von einem Konkurrenten war das unwahre Gerücht gestreut worden, Baileys Bank sei in großen Schwierigkeiten. Nun ist die kleine Bank zwar vollkommen solvent, aber das Grundproblem ist Folgendes: Die Gelder der Einleger sind nicht flüssig, sie sind als Kredite an Bürger vergeben. Es ist nicht genügend Bargeld da, Bailey kann unmöglich allen Einlegern alle Einlagen auszahlen. Doch er schafft es, die Leute zu überreden, nur einen Teil ihres Geldes abzuheben, die Bank ist gerettet. Das ist Hollywood. Aber: Baileys Problem ist das Problem jeder realen Bank. 

Soll heißen? 

Keine Bank kann all ihren Einlegern zu jeder Zeit das gesamte Geld zurückzahlen. Der Großteil der Mittel ist langfristig gebunden. Kämen alle gleichzeitig, um all ihr Geld abzuheben, wäre das ein Bankensturm. Und die Bank wäre zahlungsunfähig. 

Und das passierte, in größerem Maßstab, im August 2007? 

Ja. Gegen die Bankenstürme, die Baileys Problem waren, hatte man als Reaktion auf die Große Depression der 1930er-Jahre mit der staatlichen Einlagensicherung eine Lösung gefunden. Das funktionierte, es gab über Jahrzehnte hinweg keine Bankenstürme mehr. Nur begannen Banken vor 2007 eben in immer größerem Maßstab, sich nicht mehr über Einlagen zu finanzieren, sondern über den Geldmarkt bei anderen Banken – und das äußerst kurzfristig, mit Ein-Tages-Krediten. Und dafür gab es keine Einlagensicherung. 

Im Film gerät James Stewart allerdings unverschuldet in Not, ein bedeutender Unterschied! 

Man muss da differenzieren. Es ist klar, dass sehr viele Banken damals sehr viele problematische Dinge gemacht haben. Aber es gab auch wesentlich mehr lokale, kleinere Geschäftsbanken, die keine riskanten Kredite vergeben und bei diesem Spiel überhaupt nicht mitgespielt hatten. Die könnte man, wenn Sie so wollen, auch als James-Stewart-Banken beschreiben. Nur ist das große Problem an einer Systemkrise: Es wird nicht mehr unterschieden zwischen guten oder schlechten Banken. Es werden alle erfasst. 

War es die Gier Einzelner, die zum Kollaps führte? Oder die Gier eines ganzen Systems? 

Na ja, Gier. Ökonomen sprechen von Anreizen. Und wenn es Anreize für vermeintlich risikolose Gewinne gibt … Das große Problem ist vielmehr, wenn Gewinne privat und Verluste sozial sind. Ganz große Banken konnten vor dem Herbst 2008 das Risiko eingehen, sehr riskante Geschäfte zu machen, weil sie wussten: Geht es gut, verdienen sie sich dumm und dämlich. Geht es schlecht, werden sie vom Staat gerettet, was ihre Verluste begrenzt. Das Grundproblem ist also nicht die Gier oder der Anreiz, Gewinn zu machen, sondern der Umstand, dass die vollen Verlust- Risiken nicht bei denen liegen, die tatsächlich das Risiko eingehen. Das ist der Kern des „Too-big-to-fail“-Problems. 

Auf das sich die Lehman-Brothers ja fälschlicherweise verlassen hatten. 

Ja, genau. Drei Monate zuvor war mit „Bear Stearns“ eine ähnlich große Investmentbank noch durch eine staatliche Aktion gerettet worden. Lehman war deshalb vermutlich implizit davon ausgegangen, dass man sie nicht scheitern lässt. Denn die Sache ist an sich klar: Ist eine Bank klein, hat ihr Konkurs eher minimale Effekte auf andere Banken. Ist sie aber groß, kann ihre Pleite sehr viele andere Banken mit in den Abgrund reißen und damit das Bankensystem als Ganzes gefährden. Das ist die Quintessenz des Lehman-Desasters. Diese Bank hatte dermaßen viele und hohe ausstehende Schulden bei anderen Banken, dass ihr Untergang die katastrophale Abwärtsspirale auf den Finanzmärkten auslöste. Aber zurück zu diesem „Too-big-to-fail“-Problem: Gewissen Marktteilnehmern – und zwar den besonders großen, die normalerweise besonders viel Geld verdienen – eine Staatsgarantie zu geben, ist in einer Marktwirtschaft eine vollkommen unhaltbare Situation. Das ist unfair, es ist aber auch extrem ineffizient, weil man damit erst recht Anreize gibt, zu große Risiken zu nehmen. Das ist eine der ganz klaren Lektionen, die man nach dem Lehman-Kollaps gezogen hat: Mit entsprechenden Maßnahmen dieses „Toobig- to-fail“-Problem einzudämmen oder sogar bestmöglich zu eliminieren. 

Von welchen Maßnahmen sprechen Sie da? 

Viele Banken hatten vor der Finanzkrise teilweise absurd dünne Eigenkapitaldecken. Im Zuge der Bankenregulierungsveränderung mit Basel III wurden Banken seit der Krise zusätzliche Kapitalanforderungen auferlegt: Sie müssen heute mehr Eigenkapital haben, um mehr Verluste tragen zu können. Sie müssen nun zudem auch überzeugend darlegen können, was im Fall des Scheiterns passiert. Also wie sie in einem Krisenfall systemrelevante Teile am Leben erhalten könnten, ohne dass der Staat eingreifen muss. Ökonomen sprechen da von „skin in the game“: Ist die eigene Haut betroffen, geht man eben vorsichtiger ans Werk. Die Banken sind heute in einem deutlich besseren Zustand, sie sind wesentlich besser kapitalisiert, sie haben einen besseren Brandschutz. 

Sie schreiben, dass die heutige wirtschaftliche Situation nach wie vor stark von den Nachwirkungen der Finanzkrise – und den Maßnahmen zu deren Krisenbekämpfung – gekennzeichnet sei. 

Am extremsten ist das an der Geldpolitik zu sehen. Als die Finanzkrise ausbrach, hatte man sehr aggressiv mit der Geldpolitik reagiert – und das seither fortgeführt. Die Geldpolitik ist heute in einem Ausmaß expansiv, wie man sich das vor der Finanzkrise nie hätte vorstellen können. Es ist heute mehr Geld, mehr Liquidität im Umlauf als jemals zuvor in der Wirtschaftsgeschichte. Und ich sage da in Kurzform: Bevor die Geldpolitik nicht normalisiert ist, ist diese Finanzkrise nicht ausgestanden. Das wird noch eine ganz schwierige Aufgabe sein. Es ist gefährlich, wenn diese extrem expansive Geldpolitik nicht wieder rechtzeitig normalisiert wird … 

Was sind die Risiken? 

Wartet man zu lange mit einer Normalisierung, besteht das Risiko, dass eine starke Inflation entsteht, weil einfach zu viel Geld da ist. Zum Teil sieht man diese Inflation bereits; die Vermögenspreise – Immobilien, Aktien, Obligationen – sind im historischen Vergleich bereits auf einem extrem hohen Niveau. Mit einer Normalisierung der Geldpolitik könnten diese Risiken reduziert werden, allerdings ist das Timing da die ganz große Herausforderung: Normalisiert man zu schnell, kann es einen sehr starken Einbruch der Vermögenspreise geben und dadurch wieder Krisen auslösen. 

Apropos. Sie schreiben: „Der Risikoappetit auf den Finanzmärkten ist heute in gewisser Hinsicht ähnlich groß wie unmittelbar vor Ausbruch der großen Finanzkrise!“ 

Auch deshalb spreche ich in gewissen Bereichen noch von einem Ausnahmezustand. Das ist dieser extrem expansiven Geldpolitik geschuldet. Weil Geld praktisch nichts kostet, weil es extrem billig ist, an Geld zu kommen und Geld verzweifelt irgendwelche Anlagemöglichkeiten sucht, sind klassische traditionelle Investitionsmöglichkeiten total ausgereizt. Die Immobilienpreise sind praktisch überall sehr hoch. Also gehen die Finanzmärkte, die Marktteilnehmer inzwischen stärker auch in riskante Investitionen und es gibt gewisse Indikatoren, die zeigen, dass die Risikobereitschaft bereits wieder ähnlich groß ist wie vor der Finanzkrise. Aber eben aus einem anderen Grund: Sie ist deshalb so groß, weil so viel Geld herum ist. Nicht, weil man so wahnsinnig optimistisch wäre, sondern weil das Geld eben irgendwo angelegt werden muss … 

Gibt es weitere Nachwehen der Krise? 

Die Verschuldungssituation in vielen Ländern hat sich drastisch verschlechtert. Die Schweiz und Deutschland sind da eine gewisse Ausnahme, aber die allermeisten Länder haben durch die Maßnahmen eine extrem starke Erhöhung der staatlichen Verschuldungsquote. Und das wissend, dass in den nächsten paar Jahrzehnten das Problem der Bevölkerungsalterung die Verschuldungssituation der Staaten noch verstärken wird. Ein großes Problem! 

Welche Nachwehen der Krise spürt der Einzelne? 

Der Einzelne spürt die Auswirkungen der Krise auch an den extrem tiefen Zinsen. Sowohl die kurzfristigen als damit zusammenhängend auch die langfristigen Zinsen sind so tief wie noch nie in der Wirtschaftsgeschichte. Die expansive Geldpolitik hat das in negativem Sinn extrem zugespitzt. Als die Finanzkrise ausbrach, hatte man Angst vor einer zweiten Großen Depression. Die Große Depression der 1930er-Jahre war im Prinzip ein Totalzusammenbruch der Nachfrage und insbesondere der Investitionen. Und einer der Punkte, die man daraus gelernt hatte: Wenn man einen solch starken Schock hat, dann versucht die Zentralbank möglichst tiefe Zinsen zu halten, damit es attraktiv ist, zu investieren. Unmittelbar nach der Krise war das unbestritten das Richtige. Dass die Zinsen aber auch heute noch immer massiv tief sind, das sehen viele Ökonomen kritisch. 

Von Historiker Philipp Blom stammt das Zitat, die Menschheit lerne nichts aus der Geschichte, nur aus Traumata. Ließe sich das auch bei diesem Thema sagen? 

Ja. Menschen vergessen schnell. Man lernt wohl wirklich nur aus traumatischen historischen Erlebnissen. Aus der Großen Depression der 1930er-Jahre hat man deswegen gelernt. Man hat die Umstände, die das gesamte System hatten kollabieren lassen, genau analysiert und deswegen auf die Finanzkrise 2008 wesentlich besser reagieren können. Queen Elizabeth hatte am Höhepunkt der Krise 2008 britische Ökonomen gefragt: „Wieso hat das niemand kommen sehen?“ Ich hätte der Queen geantwortet: „Es wäre ein bisschen viel verlangt, eine Finanzkrise vorauszusehen. Aber wir haben immerhin gewusst, wie darauf zu reagieren ist.“ 

Vielen Dank für das Gespräch!

Aymo Brunetti geboren am 20. Februar 1963, ist ordentlicher Professor am Departement Volkswirtschaftslehre der Universität Bern und Direktor des Center for Regional Economic Development (CRED) derselben Universität. Zudem leitet er den vom Bundesrat eingesetzten Beirat zur Zukunft des Finanzplatzes Schweiz. Brunetti studierte Nationalökonomie an der Universität Basel und ist Autor zahlreicher Bücher und Artikel. Das Interview basiert auf Brunettis hochaktuellem Buch „Ausnahmezustand. Das turbulente Jahrzehnt nach der Großen Finanzkrise“, hep verlag ag, Bern, 2018.

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