J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Fasziation fasziniert

Mai 2020

Man kann es als Spielerei, als eine Laune der Natur ansehen. Schnell denkt man an Mutation, an spontane Veränderungen im Erbgut der Pflanze. Aber die Ursachen für einen bandförmigen Stängel und eine ungewöhnliche Verbreiterung der Blüte sind vielschichtiger.

Gelb leuchten die Blüten des Löwenzahns auf grüner Wiese. Aus der Ferne sehen sie alle gleich aus. Manche haben sich eben erst geöffnet und sind noch jung und klein, andere nähern sich bereits dem Verblühen – ihre Größe mag unterschiedlich sein, aber in ihrem Grundbauplan zeigen sie keine Abweichung von jenen Merkmalen, die in jedem Pflanzenbuch als Bestimmungskriterien angeführt sind. Schaut man aber genauer, so mag man – mit etwas Glück – unter all den gleichförmigen Blüten eine entdecken, die vom Grundschema abweicht. Sie ist in die Länge gezogen, ja sie wirkt beinahe, als sei sie aus mehreren nebeneinander wachsenden Einzelblüten zusammengesetzt, gleichsam ein „siamesischer Mehrling“ des Pflanzenreichs. Sie sitzt auf keiner hohlen, zylindrischen Röhre. Auch ihr Stängel ist verbreitert, und er kann verdreht sein oder an mehreren Stellen aufgeplatzt.
Was im Jahr 1841 als „complicierte Monstrosität“ umschrieben wurde, ist heute als Verbänderung bekannt. Die wissenschaftliche Bezeichnung „Fasziation“ ist vom lateinischen fascia entlehnt, was als „Binde“ oder „Bandage“ übersetzt werden kann. In Ostösterreich fand dieses Wort als „Fasche“ Eingang in die (populär-) medizinische Alltagssprache. Auch das lateinische fascis = Bündel geht auf denselben Wortstamm zurück. Und mit einem flachgedrückten Bündel kann man so manchen verbänderten Pflanzenstängel ja durchaus vergleichen. Die „Monstrosität“ ist aus dem wissenschaftlichen Wortschatz nicht ganz verschwunden. Bis weit ins 20. Jahrhundert wurden abnorme Wachstumsformen so bezeichnet, und gelegentlich wird sogar dem wissenschaftlichen Artnamen der Zusatz „forma monstrosa“ beigefügt.
„Compliciert“ ist diese Monstrosität tatsächlich. Obwohl bereits vor 180 Jahren erstmals beschrieben, sind ihre tatsächlichen Ursachen und deren Wirkungsweise weiterhin unklar. Bekannt ist lediglich, was mit der Pflanze im Detail geschieht, nicht aber, wie dieses Geschehen letztendlich ausgelöst wird. Hier ist es angebracht, einen Blick zurück in die Entwicklungsgeschichte der Pflanzen zu werfen. Deren Landgang, die Eroberung des Festlands wird im frühen Ordovizium vor 480 bis 460 Millionen Jahren begonnen haben. Obwohl sich bereits damals eine nicht zu unterschätzende Formenvielfalt entwickelt hatte, war in der ersten Zeit ein Charakteristikum allen ursprünglichen Pflanzen gemein: Es gab keine Seitensprossung, sondern der Spross spaltete sich an der Spitze symmetrisch in zwei gleichartige Teile. Im Laufe der Evolution entstanden daraus Pflanzen, bei denen einer der Sprosse bevorzugt wurde, bis dann vor rund 415 Millionen Jahren auch die seitliche Sprossung und letztendlich die Bildung von Blättern möglich wurden. Damit war der Weg frei für Farne und Samenpflanzen, wie wir sie heute kennen. Doch irgendwo im genetischen Code der Pflanzen haben sich Erinnerungen an diese ursprünglichen Baupläne erhalten. Sie sind unvollständig und nur passiv vorhanden, und sie haben normalerweise keinerlei Bedeutung für Wachstum und Form. Doch manchmal, aus Gründen, über die wir nur spekulieren können, werden diese archaischen Gene reaktiviert, und die Pflanze „erinnert“ sich an den urtümlichen Bauplan. Es kommt wieder zu dichotomen Verzweigungen, doch nun bleiben sie unvollständig, und die Spitze des Sprosses wird lediglich seitlich verbreitert. Dadurch wird auch das nachfolgende Gewebe nicht mehr zylindrisch, sondern band- oder kammförmig ausgebildet. Infolge innerer Spannungen ist es häufig verdreht. Verbänderung kann alle Pflanzenteile (Wurzeln, Sprossachsen, Blätter, Blütenstände, Blüten und Früchte) sowohl krautiger als auch verholzender Pflanzen betreffen. Gar nicht selten wachsen aus der Blattrosette derselben Pflanze gleichzeitig verbänderte und völlig normale Stängel. Und ein verbänderter Stängel ist noch lange kein Garant für abweichend geformte Blüten.
Wodurch dieses archaische Wachstumsmuster reaktiviert wird, liegt weiterhin im Dunkeln. Wahrscheinlich gibt es gar keinen universellen Auslöser. Bakterien werden ebenso als Ursachen genannt, wie Pilzinfektionen, Milbenbefall und ionisierende Strahlung. Dass verbänderter Löwenzahn auffallend oft an intensiv bewirtschafteten Äckern und Wiesen gefunden wird, legt die Vermutung nahe, dass auch Herbizide und Düngemittel als Stimulatoren für das genetische Alternativprogramm wirken können.
Ist das Phänomen auch grundsätzlich schon lange bekannt, so wird es dennoch selten wissenschaftlich dokumentiert. Statistiken, welche Pflanzenfamilien oder gar Gattungen in welchem Ausmaß von Fasziation betroffen sind, müssen notgedrungen unvollständig bleiben. Grundsätzlich erscheint aber keine Pflanzenart vollständig davor gefeit. Neben dem Löwenzahn neigt vor allem das Gänseblümchen gern zur Verbänderung, und im Extremfall kann bei ihm eine beinahe hufeisenförmige Blüte entstehen. Auch bei so unterschiedlichen Pflanzen wie Fingerhut und Glyzinie wurde diese „complicierte Monstrosität“ bereits beobachtet, und bei Sommerwurz und Natternkopf trugen verbänderte Stängel völlig normale Blüten. Ärgern sich auch manche Pflanzenfreunde über die „entstellten“ Gewächse, so ist dieses Phänomen bei gewissen Kakteen nicht nur erwünscht, sondern wird dort bewusst gezüchtet: Fasziation kann bei manchen Arten sogar vererbt werden!

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