J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Fremd und namenlos – ein invasiver Weberknecht

November 2018

„Jede anthropogene Einbringung einer Art in eine neue Umgebung ist als ökologisches Roulette, als Experiment des ,Zauberlehrlings’ Mensch zu sehen, dessen Ausgang ungewiss ist.“

Die Warnung des Umweltbundesamts in seiner großen Zusammenschau der in Österreich neu eingewanderten und eingeschleppten Pflanzen und Tiere ist ernst zu nehmen. Waren und Lebensmittel kennen keine geografischen Grenzen mehr, und die Tourismusindustrie hat auch die entlegensten Flecken auf unserem Planeten erschlossen. Als „blinde Passagiere“ im Urlaubsgepäck, im Verpackungsmaterial, im Container oder im Laderaum gelangen gebietsfremde Tierarten in Gegenden, die sie aus eigener Kraft nie hätten erreichen können. Nicht selten leben sie in ihrer neuen Heimat jahrelang von der Wissenschaft unbemerkt, bis die neugierige Anfrage eines Laien den Blick des Forschers auf sie lenkt. Selbst dann bleibt ungewiss, welche Auswirkungen sie langfristig auf das heimische Ökosystem haben werden. Nur wenige Arten bereiten wirklich Probleme – die meisten bleiben unauffällig und bereichern das heimische Artenspektrum. Den wenigen „Problemarten“ aber sollte unser besonderes Augenmerk gelten.

Woher er kommt, ist ebenso unbekannt wie das Jahr, in dem er im westlichen Zentral-Europa angekommen ist. Der „Namenlose Rückenkanker“ wurde erstmals 2004 in Nijmegen (Niederlande) entdeckt. Die bis dahin unbekannte Weberknecht-Art könnte um das Jahr 2000 per Schiff dort eingetroffen sein. Aber im Grunde ist dies reine Spekulation, und die tatsächliche Ankunft lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Die Art war rasch der Gattung Leiobunum („Rückenkanker“) zugeordnet. Ebenso rasch war klar, dass es sich wahrscheinlich um eine für die Wissenschaft neue Art handelt. Und damit begann das nomenklatorische Dilemma. Ohne das Herkunftsgebiet zu kennen, ist es so gut wie unmöglich herauszufinden, ob die Art in ihrer ursprünglichen Heimat nicht doch schon gültig beschrieben und benannt wurde – wer hätte die Zeit und die Sprachkompetenz, alle einschlägigen Veröffentlichungen zu durchforsten! Nach den Regeln der zoologischen Nomenklatur aber hat der älteste verfügbare Name Vorrang. Wenn sich die Art jedoch als weltweit neu für die Wissenschaft herausstellen sollte, muss die Benennung im ursprünglichen Verbreitungsgebiet erfolgen – alles andere wäre nach heutigen ethischen Maßstäben verpönt. Doch das Herkunftsland ist weiterhin unbekannt.

Um dennoch verwechslungsfrei vom Neuankömmling sprechen zu können, wird er provisorisch als Leiobunum sp. A („die Art A“) bezeichnet, und auf Deutsch eben als „Namenloser Rückenkanker“. Seit seiner Entdeckung in den Niederlanden hat sich der Weberknecht rasch ausgebreitet. Der erste Nachweis für Österreich erfolgte 2007 in Lauterach. Es sollte elf Jahre dauern, bis das nächste Exemplar in Vorarlberg (diesmal in Andelsbuch) gesichtet wurde. Inzwischen liegen auch Nachweise aus Höchst sowie aus dem inatura-Areal in Dornbirn vor. Östlich des Arlbergs ist die Art nur in der Steiermark und in Kärnten bekannt geworden. Fast alle Fundorte liegen nahe bei Speditionen und stark befahrenen Straßen, was eine Verschleppung mit dem Fernverkehr nahelegt.

Wie sieht er nun aus, der „Namenlose Rückenkanker“, und wo ist er zu entdecken? Es ist ein knopfförmiges Tier von kaum mehr als einem halben Zentimeter Körpergröße. Wie bei allen Weberknechten sind Vorder- und Hinterleib direkt miteinander verbundenen, und die Augen sitzen mitten auf dem Vorderkörper erhöht auf einem Hügel. Der Körper ist dunkelbraun, teilweise schwarz gefärbt mit grünlich-metallischem Schimmer. Vor allem die Weibchen zeigen auch helle Flecken. Das auffallendste an dem Tier sind seine Beine – sie können bis zu neun Zentimeter lang werden. Leiobunum sp. A ist nachtaktiv und wurde bisher ausschließlich im Außenbereich an Gebäudemauern gefunden. Dort finden sich die Tiere manchmal in großer Zahl zu „Weberknechtknäueln“ zusammen.

Welche Auswirkungen die Ausbreitung des „Namenlosen Rückenkankers“ in Zukunft haben könnte, hat eine andere Weberknecht-Art gezeigt: Der Apenninenkanker (Opilio canestrinii) hat in den letzten Jahrzehnten den heimischen, ursprünglich weit verbreiteten Wandkanker (Opilio parietinus) fast vollständig verdrängt! Ähnliches ist bei Leiobunum sp. A zu befürchten, besonders wenn es ihm gelingen sollte, die Hauswände zu verlassen und sich im freien Gelände zu etablieren. Die invasive, zu Massenauftreten neigende Art bevorzugt dieselben Nahrungsressourcen und Lebensräume wie zahlreiche andere Weberknechtarten. Massenauftreten sind es auch, die zu wirtschaftlichen Schäden führen können. An ihren Tagesruheplätzen hinterlassen die Tiere unansehnliche, typische gelblich bis ockerfarbene Kotrückstände – bei Einzelindividuen kein Problem, aber wenn sich Hunderte, manchmal sogar Tausende Tiere zusammenfinden, wird dies sehr wohl zu einer sichtbaren Beeinträchtigung der Fassade führen. Und dann ist da noch der Ekel-Faktor. Zwar spielt bei den Weberknechten die Arachnophobie (die Angst vor Spinnentieren) nur eine untergeordnete Rolle, und die Tiere werden im Volksglauben und in der Öffentlichkeit meist positiv wahrgenommen. Wenn aber bei einem Massenauftreten die Langbeiner durcheinanderwuseln, sinkt die Bereitschaft rapide, die neuen Mitbewohner zu dulden. Zu Ihrer Beruhigung: In Österreich wurden noch nie Ansammlungen von mehr als 20 Exemplaren gezählt!

Angesichts von Mobilität, Globalisierung und Klimawandel ist auch in Zukunft mit der Einwanderung neuer Tierarten zu rechnen. Ihre Ausbreitung wird man kaum aufhalten können, ohne gleichzeitig die angestammte Fauna zu gefährden. Umso wichtiger ist es, die Neuankömmlinge frühzeitig zu erkennen und durch Monitoring eine adäquate Wissensgrundlage für den Umgang mit diesen Arten zu schaffen. Jede einzelne Beobachtungsmeldung ist dafür von Bedeutung!

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.