J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Gefährdet – Verschollen – Ausgestorben

September 2019

Vom Schwund in der Insektenwelt und den Schwierigkeiten, ihn zu quantifizieren.

Eines ist augenscheinlich: Die Zahl der Insekten hat in den letzten Jahrzehnten deutlich abgenommen. Für Menschen, die unsere Mitbewohner bewusst wahrnehmen und beobachten, ist dies eine unleugbare Tatsache. Hinweise gibt es genug: Auf der ehemaligen Wiese mit Margeriten, Kuckucks-Lichtnelken und Wiesen-Bocksbart, wo ich einst mit kindlichem Interesse Insekten beobachtet habe, stehen heute Häuser, umgeben von totgemähten Rasen. Und die restlichen Wiesen sind zu sterilen Hochleistungs-Grasplantagen verkommen – ohne Insekten. Aber selbst Fachleute stehen vor einem unlösbaren Problem, wenn es gilt, diesen Rückgang in Zahlen zu fassen: Es gibt keine Langzeitstudien, und es gibt nur für wenige Tiergruppen verlässliche Daten über die Artenvielfalt und die Häufigkeit der einzelnen Arten in früheren Zeiten. Gefährdungseinstufungen in Roten Listen müssen daher immer auf einer Kombination von tatsächlichen Beobachtungen und der Entwicklung des jeweiligen Lebensraums beruhen. Aber wann muss eine Tierart als (regional) ausgestorben betrachtet werden? Einige Beispiele sollen die Komplexität dieser Frage darstellen, einer Frage, die nie schlüssig beantwortet werden kann.

Die Zahl der Insektenforscher in Vorarlberg ist überschaubar. Hauptberuflich zu diesem Zweck angestellt ist nur einer von ihnen – an den Tiroler Landesmuseen. Gelegentlich verirren sich Spezialisten aus den übrigen Bundesländern über den Arlberg, sei es aus privatem Forscherdrang, sei es für ein zeitlich befristetes Projekt. Damit muss eine flächendeckende Durchforschung Vorarlbergs immer Utopie bleiben. Nur aus der stichprobenartigen Untersuchung ausgewählter Standorte für jeden einzelnen Lebensraumtyp kann auf die Gesamtfläche geschlossen werden. Diese Tatsache, sowie die Kenntnis über mögliche Veränderungen der Lebensräume, müssen für eine Gefährdungseinstufung genügen. Auch wenn heute objektivierbare Richtlinien die Erstellung von Roten Listen erleichtern und nachvollziehbar machen, kann eines nicht ersetzt werden: Die Erfahrung des Spezialisten.

Die Gemeine Stubenfliege / Musca domestica

Im Schatten der wenigen beliebten Tiergruppen werden andere von der Wissenschaft kaum wahrgenommen. Unser Wissen über die Fliegen Vorarlbergs beruht im Kern auf der Sammlung eines Amateurs, die um 1900 im Großraum Lochau-Hörbranz zusammengetragen worden ist. Dazu kommen Streufunde anderer Sammler aus demselben Zeitraum. Lediglich über die Schwebfliegen und Schnaken liegen moderne Bearbeitungen vor. Für alle anderen Fliegen-Familien fehlen die Experten für eine Bestandsaufnahme. Und natürlich sind auch die frühen Sammlungen lückenhaft. Während Sie diese Zeilen lesen, wird vielleicht das eine oder andere Individuum der Gemeinen Stubenfliege um Ihren Kopf surren – und das, obwohl diese Art in Vorarlberg offiziell gar nicht existiert! Kein einziger wissenschaftlicher Nachweis von Musca domestica ist in der Datenbank der inatura dokumentiert. Selbst bei den beiden „Tagen der Artenvielfalt“ in Hohen­ems hielt man es für unnötig, ein derartig alltägliches Insekt in die Beobachtungslisten aufzunehmen.

Die Schlupfwespen / Familie Ichneumonidae

Sind bei den Fliegen wenigstens einige Familien leidlich gut untersucht, so betreten wir bei den Schlupfwespen völliges Neuland. Mit etwa 3000 Arten sind die Ichneumonidae mit Abstand die artenreichste heimische Insekten­familie. Angesichts dieser Vielfalt erscheint die Zahl von 833 um 1900 gesam­melten Belegen in nur 384 Arten geradezu lächerlich. Seither sind genau 40 Datensätze hinzugekommen, von denen etliche nur auf Gattungsniveau bestimmt werden konnten. Denn die Vertreter dieser Insektenfamilie sind sehr schwer zu identifizieren, und für manche Untergruppen steht europaweit schlicht keine Bestimmungsliteratur zur Verfügung. Der einzige Schlupfwespen-Spezialist Österreichs ist völlig ausgelastet und hat keine Zeit, einen Blick über den Arlberg zu wagen. Damit kann auch die Frage, welche Arten gefährdet beziehungsweise welche der historisch nachgewiesenen Arten inzwischen ausgestorben sein könnten, nie beantwortet werden.

 

Die Kleine Zangenlibelle  / Onychogomphus forcipatus

Neben den Schmetterlingen gehören die Libellen zu den besser untersuchten Insektengruppen Vorarlbergs. Damit war es auch hier naheliegend, eine Art nach einer längeren Nachweislücke als „verschollen/ausgestorben“ zu klassifizieren – so geschehen bei der Kleinen Zangenlibelle. Sie bevorzugt warme Bäche und Flüsse mit kiesigem oder sandigem Ufer, kann aber auch am Ufer größerer Seen angetroffen werden. Auch bei dieser Art gibt es nur einen einzigen historischen Beleg, entnommen am 7. Juni 1900 in Bregenz. Ob der Fund am Ufer des Bodensees erfolgte, oder aber an der Bregenzer Ach, ist auf dem Sammlungs­etikett nicht vermerkt. Da kein weiterer, jüngerer Nachweis vorlag, wurde die Art 2001 in Vorarlberg für „verschollen oder ausgestorben“ erklärt. Aber 2017 zeigten sich mehrere Individuen an zwei Stellen an/nahe der Dornbirner Ach. Onychogomphus forcipatus ist eine große, auffällige Libelle, die mit Sicherheit nicht unbemerkt geblieben wäre. Also können wir davon ausgehen, dass sie tatsächlich mehr als ein Jahrhundert lang gefehlt hat, um in jüngster Zeit wieder nach Vorarlberg einzuwandern.

 

Der Kleine, der Große und der Kahle Griesel / Nysius ericae, Nysius thymi und Nysius senecionis

Die Wanzen wurden erst in jüngerer Zeit vergleichsweise gut untersucht. Eine nicht geringe Anzahl ihrer Arten lässt sich auch ohne mikroskopische Präparate gut voneinander unterscheiden. Daneben gibt es andere Wanzen, die sich nur anhand ihrer Geschlechtsorgane eindeutig bestimmen lassen. Dazu gehören die Bodenwanzen der Gattung Nysius, die in Vorarlberg mit drei Arten vertreten ist. Von allen drei liegen wenige Streudaten aus den Jahren 1918/19 und 1934-36 vor. Lediglich Nysius senecionis konnte zwischen 2001 und 2004 wiedergefunden werden. Nysius ericae und Nysius thymi hingegen bleiben verschollen. Die lange Beobachtungslücke ist leicht erklärt: Bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts hat in Vorarlberg niemand bewusst nach Wanzen gesucht, und niemand stand zur Verfügung, sie mittels Genitaluntersuchung zu identifizieren. Erst in den ausgehenden 1990er-Jahren fand diese Insektengruppe wieder Beachtung. Seither gehören die Wanzen zu den in allen Großprojekten berücksichtigten Tieren, und demnächst soll auch eine Rote Liste erscheinen. Doch ein einziger Forscher muss sich schon aus zeitlichen Gründen darauf beschränken, ausgewählte Lebensräume stichprobenartig zu untersuchen. Wer weiß, vielleicht könnten bei einer flächendeckenden Studie auch Nysius ericae und Nysius thymi wiederentdeckt werden – sollen sie doch „an günstigen Orten in großer Zahl anzutreffen“ sein.

 

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.