Günther Groß

Hat „ewiges Eis“ in Vorarlberg noch Zukunft?

Juli 2016

„Schön bist du, mein Heimatland, eisgekrönt im Alpenland“ heißt es in der dritten Strophe eines Vorarlberger Volkslieds, doch die „eisgekrönten“ Gebiete werden seltener und ziehen sich immer mehr in die Kare der höchsten Berggipfel zurück. Einzelne Gletschernamen sind bereits aus den Landkarten verschwunden, Bergnamen wie die „Schneeglocke“ oder der „Gletscherrücken“ in der Silvrettagruppe verlieren ihre Bedeutung, Übergänge wie der Litzner Sattel oder die Getschner Scharte sind eisfrei geworden und gewohnte Gipfelanstiege müssen verlegt werden.

Vorarlbergs Gletscherfläche umfasst heute etwa 10 km², vergleichbar mit der Gemeindefläche von Thüringerberg, Koblach oder Langenegg. Ihr Anteil an der Landesfläche war nie sehr groß und schwankte zwischen 0,4 Prozent heute und rund 1,1 Prozent in den Zeiten großer Gletscherausdehnung wie zuletzt um 1850/55. Auch der Flächenanteil an der gesamtösterreichischen Vergletscherung ist mit knapp 2,5 Prozent nur gering. Trotzdem sind die Gletscher im kleingekammerten Landschaftsbild des Ländles präsent und gehören zur landschaftlichen Vielfalt zwischen Bodensee und Piz Buin.

Der Schwerpunkt der Vorarlberger Vergletscherung liegt heute verstärkt in der Silvrettagruppe, obwohl auch niedrigere Gebiete außerhalb davon noch Gletscher oder Gletscherspuren aufweisen. Auf die letzte mit heutigen Verhältnissen vergleichbare wärmere Zeit des Hochmittelalters folgten ab 1300 n. Chr. kühlere Verhältnisse, die zwischen 1600 und 1850 als „Kleine Eiszeit“ ihren Höhepunkt erreichten. Damals hatte Vorarlberg die zweieinhalbfache Gletscherfläche, wobei auch heute eisfreie Gebiete vergletschert waren, etwa Sulzfluh (Sporagletscher), Madrisa oder Spullerschafberg. Seither schmelzen die Gletscher zurück, nur unterbrochen durch zwei ausgeprägte Vorstoßperioden um 1920 und 1980. Heute existieren außerhalb der Silvretta noch Gletscher im Rätikon an der Schesaplana (2965 m, Brandner Gletscher) und den Drei Türmen (2830 m, Eistobel), in der Verwallgruppe am Kaltenberg (2896 m) und an der Östlichen Eisentaler Spitze (2752 m) sowie in den Lechtaler Alpen bei der Valluga (2809 m), der Roten Wand (2704 m) und der Braunarlspitze (2649 m). Diese Gletscher lagen in den letzten drei Jahrzehnten und vermehrt in den letzten Jahren unterhalb der für das Entstehen und Bestehen der Gletscher wichtigen Schneegrenze und waren zur Gänze von der Abschmelzung betroffen. Sie haben oft kein Nährgebiet mehr und kaum mehr eine Fließbewegung. Das Ergebnis ist ein starker Eisschwund, ein Einsinken und Zerfallen, oft begleitet von starker Schuttbedeckung.

Die in größere Seehöhe reichenden Gletscher der Silvrettagruppe können unter derzeitigen klimatischen Bedingungen in kleinerer Größe weiterbestehen. Der Zustand und die Längenänderungen von vier Vorarlberger Gletschern werden im Auftrag des Österreichischen Alpenvereins erhoben. Entstanden ist der Gletschermessdienst vor 125 Jahren (1891) mit einem „Aufruf“ an Sektionen, Bergführer und Mitglieder, sich an Gletscherbeobachtungen zu beteiligen. Als erster Gletscher in Vorarlberg wurde 1902 der Großvermunt-Gletscher (Vermunt- und Ochsentaler Gletscher) vom Gletschermessdienst erfasst. Ausgeweitet wurden die Messungen seit 1924 auf den Klostertaler Gletscher und später auf den Litzner, den Schneeglocken- und den Schattenspitz-Gletscher. Die Messungen am Litzner und am Schattenspitz-Gletscher mussten wegen deren starken Rückgangs wieder eingestellt und auf die fotografische Erfassung beschränkt werden. Die Messergebnisse werden jährlich veröffentlicht, die Messberichte und Fotobeilagen werden im Gletschermessarchiv des Österreichischen Alpenvereins in Innsbruck verwaltet. Die Gletscherbeobachtungen und -messungen zeigen, dass sich die Gletscher in ihrer Rückbildung noch nicht an das höhere Temperaturniveau angepasst haben.

Der starke und beschleunigte Rückgang der Gletscher in den letzten drei Jahrzehnten führte zu großen Anstrengungen, die Gletscher- und Klimageschichte der vergangenen Jahrtausende genauer zu erfassen. Auch in der Silvrettagruppe gelang es, oberhalb der heutigen Baumgrenze mithilfe der Jahrringchronologie kalendergenau datierbares Holzmaterial aus hochgelegenen Moorgebieten zu bergen, und zwar im Silvretta-Klostertal und oberhalb des Silvrettastausees in einer Seehöhe zwischen 2150 und 2200 Metern. Da höhere Baumgrenzen auch Rückschlüsse auf höhere Schneegrenzen und eine kleinere Gletscherausdehnung zulassen, wird angenommen, dass es in langen Zeitabschnitten der 11.500-jährigen Nacheiszeit eine kleinere Gletscherausdehnung als heute gegeben hat. Auch in der Zeit des Höhepunkts der warmzeitlichen Temperaturverhältnisse um ca. 5500 v. Chr., als die Sommertemperatur um 0,7 °C höher lag als der Mittelwert 1981–2010, werden in der Silvrettagruppe nur an den höheren Gipfeln kleinere Gletscher existiert haben.

Unter den gegenwärtigen klimatischen Bedingungen können die Vorarlberger Gletscher in der derzeitigen Größe nicht überleben. Ein weiterer Rückgang der Eisränder, begleitet von einem Eisschwund, wird die Folge sein. Die tiefer gelegenen Gletscher – besonders außerhalb der Silvrettagruppe – haben keine Zukunft. Sie werden verschwinden wie derzeit der Paziel-Gletscher an der Trittscharte westlich der Valluga, oder langsam abschmelzen wie der Brandner Gletscher. Andere versinken im Schutt wie der Plattengletscher im Garneratal und können dadurch noch mehrere Jahrzehnte überdauern. Eine totale Entgletscherung Vorarlbergs kann nur dann eintreten, wenn – wie vom Weltklimarat angekündigt – der bisherige klimatische Schwankungsbereich der Nacheiszeit mit einem weiteren stärkeren Temperaturanstieg verlassen wird.

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