J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Vom Mythos von der natürlichen Zeit

März 2019

Am Anfang, damals im Paradies, hatte Adam alle Zeit der Welt. Sie zog vorbei, doch Adam hatte keinen Grund, sie zu messen. Aber dann biss er in den verbotenen Apfel, und so erlangte er die Erkenntnis über Gut und Böse – aber nicht über die Zeit, denn sie ist keiner dieser beiden Kategorien unterworfen. Da Adam sich nun gezwungen sah, im Schweiße seines Angesichts sein Brot zu essen, erlangte die Zeit plötzlich Bedeutung. Im Großen und im Kleinen wollte sie gemessen werden. Der Zeitpunkt der Saat wurde wichtig, und der Zeitpunkt der Ernte. Wann sollte er aufs Feld gehen, wann wieder heimkehren? Adam war ratlos. Wieder einmal musste er Gott um seinen Beistand anflehen.
Und Adam hörte eine Stimme, die da sprach: Suche Dir einen Stab, schön gerade, makellos und ohne Verzweigung. An einer ebenen Stelle stecke ihn senkrecht in die Erde, so wie ein Stein an einer Schnur zu Boden weist. Und siehe, der Stab wirft einen Schatten. Wie Du die Sonne über das Himmelsgewölbe ziehen siehst, so wirst Du auch den Schatten des Stabes über den Staub des Erdbodens wandern sehen. Markiere nun das Ende des Schattens im Sand. Siehst Du, wie im Laufe der Zeit der Schatten immer kürzer wird, um später wieder an Länge zu gewinnen? Zu dem Zeitpunkt, an dem der Schatten am kürzesten ist, hat die Bahn der Sonne ihren höchsten Punkt erreicht. Dies ist die Mitte des Tages. Die Himmelsrichtung aber, in der die Sonne nun steht, sollst Du Süden nennen. Am Abend versinkt die Sonne im Westen hinter dem Horizont, und nach einer Phase der Finsternis wird sie im Osten wieder emporsteigen, bis sie abermals den höchsten Punkt in ihrem Lauf erreicht. Dann ist ein Tag vergangen.
Lasse Dich nicht dazu verführen, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang als Anfang und Ende eines Tages zu betrachten. Dies würde Dich in die Irre leiten, denn nur zweimal im Jahr sind Tag und Nacht gleich lang. Die Mitte des Tages soll Dir der Ausgangspunkt für Deine Zeitrechnung sein. Oder noch besser die Mitte der Nacht, die Du jedoch mit einfachen Mitteln nicht zu ermitteln vermagst. Teile nun die Dauer des Tages in Stunden. Nicht die Zahl Deiner Finger soll Dir dabei als Maß dienen, und schon gar nicht die Zahl deiner Zähne (deren Du ohnehin nicht mehr alle im Mund trägst). Das Dutzend soll Dir das Maß aller Dinge sein, denn auch ein Dutzend kannst Du an einer Hand abzählen: Betrachte die Glieder deiner Finger, aber den Daumen lasse weg. Zwei Dutzend Stunden sollen einen Tag ergeben. Nun teile die Stunde in fünf Dutzend Minuten, die wiederum aus jeweils fünf Dutzend Sekunden bestehen sollen.
Adam war begeistert. Und er sann nach immer neueren Mitteln, die Zeit genauer messen zu können. Gleichzeitig erkannte er die annähernd kugelförmige Gestalt der Erde. Er entdeckte, dass die Erde um die Sonne kreist, und er sah, dass sich die Erde um ihre eigene Achse dreht. Seiner Begeisterung tat dies keinen Abbruch, denn die sichtbaren und messbaren Auswirkungen blieben (beinahe) dieselben. Doch dann kam Adam ins Grübeln: 
Wenn die Erde rund ist und die Sonne im Osten erscheint, müsste sie dann nicht umso früher aufgehen, je weiter er nach Osten ging? Adam sah sich gezwungen, Zonen gleicher Zeit zu definieren: Das Rund der Erde hatte er in 360 Grad unterteilt, denn wie die Anzahl der Sekunden und Minuten, der Stunden und Monate ist auch dies eine hochzusammengesetzte Zahl. Wenn man nun das Erdenrund in Segmente zu je 15 Längengraden teilt, so erhält man 24 Zonen mit je einer Stunde Zeitunterschied zu den beiden benachbarten Zonen. Jetzt war nur noch ein Nullpunkt zu suchen, und Adam fand ihn in einem Stadtteil von London, im Observatorium von Greenwich. Den Meridian von Greenwich definierte er nun als Mitte der ersten Zeitzone, an der sich alle anderen orientieren sollten. Maximal eine halbe Stunde Abweichung von der Zeit am Referenzmeridian jeweils in beide Richtungen, das war zu verkraften. 

Was wir als „natürliche Zeit“ wahrnehmen, ist ein vom Menschen geschaffenes, künstliches Konstrukt.

Doch dann kam die Politik ins Spiel: Politische Grenzen halten sich nicht an die Zahlenspielereien der Erdvermesser. Sie verlaufen fast nie schnurgerade in nord-südlicher Richtung. Aber natürlich musste überall in einem Staat dieselbe Zeit gelten. So bekamen die Zeitzonen willkürliche Ausbuchtungen in beide Richtungen, und die realen Abweichungen vom Ideal betragen nun stellenweise weit mehr als läppische 30 Minuten. Auch die Zeitdifferenz zur benachbarten Zone ist nicht immer eine volle Stunde. So weicht die Zeit in der westlichen Zone Australiens um achtdreiviertel Stunden von der Londoner Normzeit (nun Koordinierte Weltzeit – UTC genannt) ab, in der mittleren Zone Australiens um neuneinhalb Stunden. Die Weltkarte der Zeitzonen lässt noch mehr Skurrilitäten erkennen.

Aber selbst am Referenzmeridian stimmt die per Definition festgelegte Zeit nur zweimal im Jahr mit der „tatsächlichen“ Zeit überein. Die Schiefe der Erdachse und die nicht-kreisförmige, elliptische Bahn der Erde um die Sonne bewirken Abweichungen zwischen offiziellem Mittag und tatsächlichem Mittagsdurchgang der Sonne von bis zu 16 Minuten. Freilich gleicht sich dies übers Jahr wieder aus.
Allein alle 15 Längengrade, am Referenzmeridian in der Mitte einer jeden Zeitzone zeigt unsere Uhr die tatsächliche Zeit – und auch das nur zweimal im Jahr! Wenn dann vielleicht noch die Politik einen anderen Verlauf der Zeitzonen festgelegt hat, herrscht selbst dort niemals die „natürliche Zeit“. Was unsere Uhren anzeigen, ist ein Kompromiss, geboren aus der Erkenntnis, dass auf unserem Weg von Ost nach West und von West nach Ost sich auch die Zeit kontinuierlich ändert. Und dass selbst an einem fixen Ort die Realzeit im Jahresgang von der Idealzeit abweicht.

Was wir als „natürliche Zeit“ wahrnehmen, ist ein vom Menschen geschaffenes, künstliches Konstrukt, ohne das verbindliche Zeitangaben über größere geografische Räume hinweg schlicht unmöglich wären. Damit aber ist auch eine Verschiebung in der Zeitrechnung niemals ein Eingriff in eine höhere, ja gar göttliche Ordnung.

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