Isabella Marboe

* 1970 in Bad Ischl, Architekturstudium an der TU Wien und Hebrew University, Jerusalem. Katholische Medien­akademie. Freie Architekturjournalistin, schreibt für Fach- und Qualitätsmedien, lebt und arbeitet in Wien.

Philosophie der Schnecke

Dezember 2024

An die 2500 Quadratmeter Lehmputz vom eigenen Grund wurden in der Waldorfschule und deren Kindergarten im beschaulichen Wien-Mauer verarbeitet. Das gab es in diesem Ausmaß bei einem öffentlichen Bau noch nie. Den Vorarlberger Architekten Dietrich Untertrifaller, dem Wiener Lehmbauexperten Andreas Breuss und dem Rudolf-Steiner-Schulverein als Bauherr ist damit ein Pilotprojekt geglückt.

Das Wetter meinte es gut, die Sonne schien, vierhundert Menschen kamen am 24. Mai zur Einweihung des frisch sanierten, massiv erweiterten Waldorf-Kindergartens mit dem neuen Turnsaal und der Grundschule in Wien Mauer. Die Kinder trugen feierliche weiße Hemden, die Erwachsenen standen plaudernd auf der Terrasse vor dem neuen Speisesaal, alle strahlten und flanierten durch die hellen Räume, die nach frischem Lehm und Holz rochen. Auch die Architekten Andi Breuss, Much Untertrifaller, dessen Projektleiter Tobias Indermühle und Michael Porath, der Chef des Wiener Büros von Dietrich | Untertrifaller, waren da.
Die Waldorfschule liegt in einem beschaulichen Außenbezirk am grünen, südlichen Rand von Wien. Waldorf Kindergarten und Grundschule teilten sich ein typisches Vorstadthaus der Gründerzeit. Knapp 37 Meter lang, 12,5 Meter breit, zwei tragende Außen- und eine Mittelmauer, an der Straßenfront im Norden eine Reihe schmaler Fenster, darüber ein Walmdach mit drei Gaupen. Rückwärtig ein traumhafter Garten mit prächtigem, alten Baumbestand. Ein Teil davon war für einen Turnsaal gewidmet, der schmerzlich fehlte. 

Glücksfall Ensembleschutz
Im Jahr 2014 lud der Rudolf-Steiner-Schulverein sechs profilierte Büros zum Architekturwettbewerb, alles sollte ökologisch und nachhaltig sein, das Projekt der Vorarlberger Dietrich Untertrifaller und des Wiener Lehmbauexperten Andreas Breuss gewann. Ein reiner Neubau. Dann verwies die Stadt auf die Wahrung des Ensembleschutzes entlang der Endresstraße. Die Straßenfassade musste also unverändert, der sehr sanierungsbedürftige Altbau zu mindestens 50 Prozent erhalten werden. Etwas Besseres hätte nicht passieren können. Der Philosophie der Waldorfschule, in der es um eine ganzheitliche Entwicklung der Kinder und vernetztes Denken geht, entspricht das Anknüpfen an Bestehendes wesentlich mehr. Ganz abgesehen davon, dass Altbauten so viel graue Energie in sich speichern, dass ihr Erhalt immer nachhaltiger ist als ein Neubau. 
Weil in diesem Fall der Aushub des Turnsaals zu Lehm verarbeitet und unbehandelt verwendet wurde, geriet die Waldorfschule tatsächlich zum Pilotprojekt. Bei einem Bau mit öffentlichen Recht passierte das in dieser Größenordnung zum ersten Mal. Immerhin 2500 Quadratmeter Lehm wurden verputzt, weil er vom eigenen Grundstück stammt, hat er keine Zertifizierung. Dieses Risiko ging der Schulverein ein. „Dass diese Schule trotz zeitaufwändigem Umwidmungsverfahren und steigender Materialpreise überhaupt gebaut wurde, ist nur einem mutigen und engagierten Bauherrn zu verdanken“, sagt Michael Porath, der Leiter des Wiener Büros von Dietrich | Untertrifaller. Der Lohn dafür ist ein Gebäude, das seine Geschichte integriert, an die Gegenwart anbindet und für die Zukunft vorsorgt. Dazu noch eine gute Akustik, ein gutes Raumklima, eine sehr angenehme Atmosphäre und viel Ausstrahlung.

Vom Großen und Kleinen
„Wir hatten fast die fünffache Fläche unterzubringen“, sagt Much Untertrifaller. Und das im Rahmen des Flächenwidmungsplanes, der nicht gerade weit gesteckt war: Bauklasse I, das heißt maximal 7,5 Meter Bauhöhe. „Die größte Herausforderung war, etwas sehr Großes so klein aussehen zu lassen, dass man es kaum merkt.“ Die Architekten ordneten den neuen Turnsaal im rechten Winkel zum Bestand im Garten an, senkten ihn um drei Meter ab, setzten den Klassentrakt drauf und verbanden Alt und Neu mit einem kunstvoll extrudierten Dach zu einem Gebäude, das L-förmig den Garten zoniert. Als Streifen flankiert er den Weg an Turnsaal und Klassen entlang. Vor der Stirnseite des Zubaus zeigt er sich kultiviert wild, vor der Terrasse des Speisesaals bildet er einen Hof.
„An der Hauptidee des Entwurfs hat sich gar nicht so viel verändert,“ sagt Untertrifaller. Den Turnsaal im Garten senkten die Architekten um etwa drei Meter ab, so bleiben immer noch fast drei Meter hohe Fenster, die ihn mit Licht fluten und die Bäume hereinholen. „Deshalb haben sie den Wettbewerb gewonnen“, sagt Lothar Trierenberg, der hier selbst zur Schule ging und gemeinsam mit Schulleiter Engelbert Sperl der Ansprechpartner der Architekten war. Auch die Erschließung mit Scherenstiegen und Laubengängen, sowie die gleichwertigen Klassen- und Horträume blieben gleich. Der Kindergarten liegt im Erdgeschoss des Bestands, vor dessen Mittelmauer breiten sich Foyer und Speisesaal aus. Die Verschneidung des neuen Dachs mit dem Bestand führt über dem Kindergarten im Altbau zu faszinierenden Räumen. Im dortigen Eurythmiesaal, dem Werkraum und dem Lehrerzimmer klingt das erste und einzige Mal so etwas wie anthroposophische Ästhetik an. Ansonsten ist die Schule angenehm geradlinig, die natürlichen Materialien sorgen für eine sehr warme, offene Ausstrahlung. 

Immer im Kreis
Kaum ein anderer Schultyp geht annähernd ganzheitlich auf die Persönlichkeit jedes einzelnen Kindes ein, ein Lehrender begleitet hier dessen entwicklungspsychologischen Wachstum von der ersten bis zur achten Schulstufe. „Man kann es mit einer Schnecke oder Spirale vergleichen: Die Inhalte und Themen werden im Lauf der Schulzeit immer wieder altersgemäß vermittelt und wiederholt“, sagt Lothar Trierenberg. Schulbücher gibt es keine, jeder erarbeitet sich seine eigenen Lernhefte. Trierenberg hat die seinen noch. 
Man kann immer im Kreis durch das Gebäude, überall gibt es Verbindungen zwischen den Räumen und zum Garten, die Materialien sind so natürlich wie möglich, synthetische Baustoffe reduziert, Beton kam nur dort zum Einsatz, wo er unbedingt nötig ist. Die Erschließung ist wie ein Kreislauf: Es gibt zwei Eingänge, eine Scherentreppe, die von zwei Seiten begehbar ist, sowie zwei Laubengänge um die Klassen- und Horträume im ersten Stock. Die Laubengänge haben Außentreppen in den Garten, auf denen man so gut sitzen und plaudern kann. Klassen- und Horträume sind ihrerseits durch je drei Türen zu betreten und so neutral und gleichwertig angelegt, dass sie leicht in ihrer Funktion rotieren können. „Alle Unterrichtsräume sind miteinander verbunden“, sagt Much Untertrifaller. Besonders schön sind die gefangenen WCs, die jeweils zwischen vier Räumen sitzen: Ihre Mitte bildet ein rundes Waschbecken. Es ist wie die Minimalvariante eines Dorfplatzes mit Brunnen oder Trog, an dem sich alle treffen können. Spiegel gibt es keine, dafür umso mehr Beziehung. „Hier endet man nie in einer Sackgasse.“

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