
Antithese
Der Bahnhof von Bregenz ist der Schandfleck, auf den sich ganz Vorarlberg einigen kann. Eine kurze Würdigung zum langen Abschied.
An die 13.500 Fahrgäste und -gästinnen können kaum irren: Seit 2016 liegt der Bahnhof Bregenz in der einschlägigen Umfrage des Verkehrsclub Österreich jedes Jahr am letzten Platz. Kein Wunder: seit 2016 ist er ein sicherer Abrisskandidat, weshalb die ÖBB größere Investitionen mied. Auf google Maps findet sich im Bereich der Gleisüberführung ein bemerkenswerter Eintrag: „Heilige Kübel von Bregenz“, Touristenattraktion. Der Link dahinter führt zu einer Fotosammlung von Plastikkübeln, die offensichtlich von der Decke tropfendes Wasser auffangen. Sowas hat im sonst so properen Ländle tatsächlich das Zeug zur Touristenattraktion.
Der Bahnhof von Bregenz ist ein Kind seiner Zeit. Industriell gefertigte Massenware vom Fließband in der damaligen Trendfarbe Türkis trifft auf die Formensprache einer missverstandenen Postmoderne und das Diktat einer automobilhörigen Verkehrspolitik, die längst veraltet, überholt, mehr noch: verpönt ist. Null Zeitlosigkeit, null Weißtanne, null avancierte Handwerkskunst aus dem Bregenzerwald, null baukünstlerische Ambition, null Lokalkolorit. Auf dem Luftbild wirkt seine – natürlich symmetrische – Draufsicht wie ein Hybrid aus gestrandetem Raumschiff, futuristischem Insekt und Gekreuzigtem.
Er ist alles, was Vorarlberg nicht ist, und auf keinen Fall sein will: verdreckt, vernachlässigt, unordentlich. Gleichermaßen die Negativfolie, die Antithese zur Qualitätsarchitektur, die hier regionale Identität stiftet. Sowas kann nicht aus Vorarlberg kommen, Bauherr sind die ÖBB. Der Architekt und weitere Spezifika zum Bahnhof waren nicht leicht zu eruieren. „Die von Ihnen gewünschten Infos liegen mir leider nicht ad hoc vor. Ich habe damit die zuständigen Stellen befasst. Bitte um Verständnis, dass das eine gewisse Zeit dauern wird“, schreibt der zuständige Pressesprecher. Der Redaktionsschluss kam schneller.
Seine Existenz verdankt der Bahnhof einem Großbrand im Jahr 1985, der einen kompletten Umbau erforderte, am 1. September 1989 war Eröffnung, lange vor der ersten Bahnhofsoffensive. Eisenbahnen sind der ÖBB näher als Aufnahmegebäude. Auf fünf Geleisen verkehren in Bregenz Fernzüge nach Wien, Zürich, München, Stuttgart und Köln, sowie Regional- und Schnellbahnen, vor dem Bahnhof gibt es 16 Haltestellen für diverse Stadt-, Land-, Unterland-, Bregenzerwald, Fern- und Reisebusse.
Unbehauste, verarmte, alkoholkranke, obdachlose, kleinkriminelle Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund finden hier unter Flugdächern und Reisenden eine temporäre Heimstatt. Soweit sie dazu in der Lage sind, fühlen sie sich wohl. Je wohler sie sich fühlen, umso unwohler fühlen sich alle anderen. Außer ihnen liebt diesen Bahnhof keiner mehr. Man frequentiert ihn, weil man muss und das so kurz, wie man kann. „Wir bauen Gebäude, die man liebt“, sagte Dietmar Eberle, einer der Gründerväter der „Vorarlberger Baukünstler“. Er weiß, dass das der beste Garant für Haltbarkeit ist.
Dieser Bahnhof feiert die Typologie der Fußgängerüberführung, der längst aus der Mode kam: hinauf über die Geleise, hinunter auf die Bahnsteige, hinauf auf die Brücke über die Bahnhofsstraße, hinunter in Richtung Stadt, die lustigerweise auch den Bahnhof links liegen lässt, obwohl sie genauso gut fußläufig erreichbar sein könnte. Sie nähert sich ihm mit einem Parkplatz, einer stark befahrenen Schnellstraße und einer Fußgängerführung, die kaum wer nutzt.
Dabei hat dieser Bautyp durchaus Qualitäten. Die Hochlage mit der moderaten Vogelperspektive über den Fließverkehr könnte spannend sein. Die zeittypischen runden, weißen Kugellampen auf den Brüstungen geben dieser Fußgängerüberführung den Hauch der Anmutung einer Allee. Wüchse das Gras nicht zwischen den Waschbetonplatten, wären die Lampen nicht verdreckt, die Fenster des Restaurants nicht taub, die ockerfarbenen Vorhänge nicht verblichen, die etwas versteckte Terrasse nicht abgesperrt und die Blumen noch da, die Fotos aus früher Zeit noch zeigen, könnte es ein guter Ort sein. Irgendwann sind dort Bahnhofsbedienstete in ihren Pausen und Fahrgäste beim Warten auf den Zug und vielleicht sogar Bregenzer und Bregenzerinnen nicht ungern dort gesessen.
Der Bahnhof ist womöglich der einzige Platz im Ländle, wo man vor acht Uhr früh Menschen mit Bierdosen in der Hand begegnet und in der Bäckerei Ruetz eine Taube, die über das frische Gebäck fliegt, keinen aus der Ruhe bringt. Die Bedienstete mit dem osteuropäischen Zungenschlag hat den Vogel längst als Haustier adoptiert. Sie weiß ihn mit gutem Zureden und ein paar Brotkrumen aus der Vitrine zu lotsen und nachhaltig fernzuhalten. So ein soziales Biotop entsteht nicht von heute auf morgen. Überall sonst wird es ins Hinterland gedrängt, in Bregenz ist der Schandfleck der Stadt nur einen Steinwurf von der Seebühne, dem Tempel der Hochkultur, dessen Uferpromenade und einen kurzen Spaziergang vom Kornmarktplatz entfernt. Dieses Nebeneinander gegensätzlicher Lebensrealitäten an einem derart prominenten Ort zuzulassen, zeugt von einer selbstbewusst toleranten, kosmopolitischen Grundhaltung, wie man sie in den immer saubereren, kontrollierteren, überwachteren Metropolen der westlichen Welt kaum noch findet.
„Der Bahnhof von Bregenz wurde von den österreichischen Bundesbahnen in den Jahren 1984 – 1989 errichtet und am 15. September 1989 eröffnet“, steht auf einem grauschwarzen Marmorschild, ein weiteres Material der Bauzeit. Wie die gemauerten Sichtziegeln, das Türkis der Metallprofile, die symmetrische Komposition, die kleine Referenz an einen Portikus: Giebeldach, Uhr und zwei überlange, superschmale Rundsäulen. Keine fünfunddreißig Jahre brauchte der Bahnhof, um im April 2025 das Ende seiner „technischen Lebensdauer“ zu erreichen.
Ihm folgt ein Ausweichgebäude aus dem nachhaltigen Baustoff Holz. firm architekten haben den smarten Holzquader mit Arkaden und zinnoberrotem Kern geplant, er soll in zügigen zehn Monaten umgesetzt und mit der neuen Stadtteilentwicklung „Bregenz Mitte“ kompatibel sein.
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