Isabella Marboe

* 1970 in Bad Ischl, Architekturstudium an der TU Wien und Hebrew University, Jerusalem. Katholische Medien­akademie. Freie Architekturjournalistin, schreibt für Fach- und Qualitätsmedien, lebt und arbeitet in Wien.

Fenster in die Zukunft

November 2023

Die Zeichen stehen auf Sturm. Die Bauindustrie ist für 40 Prozent des CO2-Ausstoßes verantwortlich, es muss sich etwas ändern. Das Vor­arlberger Architekturinstitut (v.a.i) in Dornbirn richtet den Blick auf dieses essenzielle Thema. Dunkelrote Fensterrahmen aus Holz in verschiedenen Formaten, daneben quadratische aus weißem Kunststoff, dahinter ein paar blaue: Ordentlich sortiert und geschlichtet, zieren sie das Plakat zur Ausstellung „Refuse, Reduce, Re-use, Recycle, Rot“. „Rot“ meint nicht die Farbe, sondern das englische „verrotten.“ Es bezieht sich auf organische Materialien wie Holz oder Lehm, die sich als Erde wieder in den natürlichen Kreislauf von Werden und Vergehen einreihen. Sie hinterlassen keinerlei Bauabfall: „Rot“ ist ein zukunfts­trächtiger Ansatz.
Geht es um Strategien für die Material- und Bauwende, spielt das „R“ eine große Rolle: Repair, Recycle, Refurbish, Recreate … „Es war uns zu wenig, nur Leuchtturmprojekte zu zeigen“, sagt Kurator Clemens Quirin. „Re-Use wird derzeit in den Fachmedien stark diskutiert. Doch das Problem ist nicht nur mit einer Strategie lösen zu, es braucht mehrere.“ Refuse, Reduce, Re-use, Recycle, Rot. 
Nachhaltig bauen, bedeutete lange, Gebäude energetisch zu verbessern. Wände, Fenster und Dächer wurden gedämmt, Isoliergläser und Photovoltaikpaneele immer leistungsstärker. Viele Häuser sind heute schon Kleinstkraftwerke: Sie produzieren mehr Energie, als sie brauchen und speisen ihre Überschüsse ins Netz ein. Trotzdem ist der Energieverbrauch so hoch wie 1990 und die Bauindustrie für 40 Prozent des CO2-Ausstoßes verantwortlich
Ein bewussterer Umgang mit Ressourcen beginnt damit, die Notwendigkeit des Neubauens fundamental in Frage zu stellen und gewissenhaft zu prüfen. Denn jeder Abriss ist Verschwendung, alles Gebaute bindet viel graue Energie. Es ist schon genug da. Zwischen 1971 und 2001 wurden 85 Prozent dessen noch einmal gebaut, was davor entstanden war. Die Bevölkerung ist im selben Zeitraum nur um 20 Prozent gewachsen.
Die Daten sprechen für sich. Zum Stichtag der statistischen Zählung waren österreichweit in immerhin 13,3 Prozent aller Wohnungen weder ein Haupt-, noch ein Nebenwohnsitz gemeldet. Das ergibt 635.000 Wohnungen. Selbst, wenn bei einigen gerade Mieter- oder Besitzerwechsel erfolgten, stehen mehr als genug leer. Sie zu nutzen würde ein paar Jahre Neubautätigkeit beim Wohnen obsolet machen. Die Bürgerinitiative House Europe (www.houseeurope.eu ) setzt sich dafür ein, Bestand besser zu nutzen und dessen Sanierung zu fordern.
Die Fensterrahmen am Plakat sind Exponate. Sie finden sich als Modelle im Maßstab 1:10 in der Ausstellung wieder. Sie liegen dort neben Glasscheiben, Türen, Stahlträgern, Betonfertigteilstiegen, Holz, Dachschindeln und vielen Materialien in einem Büroschrank aus sonnengelbem Blech. Architekturstudierende des Studio Upcycling der Universität Liechtenstein haben im Wintersemester 2022/23 in einem Forschungsprojekt den hypothetischen Abriss ihres Universitätsgebäudes untersucht. Die Baumaterialien im Büroschrank ließen sich alle upcyceln, verwandeln, wieder- und weiterverwenden, sie sind alles, was sich davon noch wiederverwenden ließe. Dieses Inventar bildet die Grundlage für weitere Entwürfe der Studierenden.  
Diese Untersuchung zeigt exemplarisch, wie viel Potenzial allein im intelligenten Abbruch eines Gebäudes liegt. Die Studierenden rechneten vier Szenarien durch. Szenario eins ist heute nicht mehr möglich: bis in die 1950er-Jahre hätte man den Altbau zur Gänze abgerissen und unsortiert auf einer Deponie entsorgt. Szenario zwei entspricht der heutigen Abfallverordnung. Befolgte man sie, würden 57,6 Prozent rezykliert, 6,3 Prozent wieder verwendet und blieben 1216 Baucontainer an Bauabfall übrig. Szenario drei geht im Rahmen der geltenden Abfallverordnung bei der Sortierung sorgfältiger vor, rezykliert mehr (77,8 Prozent), statt es zu deponieren und verwendet einiges wieder (11,9 Prozent). Allein das reduziert den Bauabfall auf 1005 Baucontainer. Das vierte Zukunftsszenario verfährt vorbildlich achtsam, trennt sorgfältig und verwendet so viel wie möglich wieder. Es sieht einen selektiven Rückbau gut erhaltener Bauteile wie Fenster, Türen und Stützen, sowie eine Wiederverwendung von Ziegeln, Holzbalken, Stahl- und Holzbalken, Beton und anderen wertvollen, langlebigen Bauteilen vor. Dadurch ließe sich der Bauabfall auf 518 Baucontainer reduzieren. Das sind fast 60 Prozent weniger als heute vorgeschrieben. Recycliertes Baumaterial von gestern und heute ist ein wesentlicher Baustoff der Zukunft. 
Bauen mit alten Materialien erfordert ein neues Denken. „Eines der größten Probleme ist, dass man das nicht genau kalkulieren kann“, sagt Clemens Quirin. Bauteile aus alten Häusern lassen sich nicht in der geforderten Stückzahl bestellen, sie entsprechen nicht der Norm und kommen eben nicht von der Stange. Der Umgang damit erfordert geschulte Bauarbeiter, die Reparatur oft handwerkliches Können, das vielfach verloren ist. All das könnte eine große Chance sein – und hat ganz nebenbei eine lange Tradition. Schon in der Antike wurden brauchbare Überreste von Säulen, Kapitellen, Reliefs, sowie anderer Teile der Bauten vorangegangener Kulturen übernommen und wiederverwendet. 
Der Architekt und Designer Daniel Büchel ist ein Meister im Re- und Upcycling alter Gegenstände, er hat feine Antennen beim Auffinden wieder einsetzbarer Preziosen aus Caritas-Lagern, Restbeständen, Abbruchhäusern und ähnlichem. Büchel gestaltete auch diese Schau. Wie Bilder hängen hohe, weiß gerahmte Fenster an der Wand. „Refuse, Reduce, Re-use, Recycle, Rot“ steht drauf, davor zwei Bänke aus Heizkörpern. Sie stammen aus der ehemaligen Bundestextil- und heutigen Fachhochschule (1954 – 1960) in Dornbirn von den Architekten German Meusburger und Willi Ramersdorfer. Letzterer plante auch das Haus, in dem heute das v.a.i. untergebracht ist. Jeder alte Gegenstand hat eine Geschichte, alte Fenster – rot und dunkelblau – werden hier zu Schautafeln und Fenstern in die Zukunft des Bauens.

 

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