Christian Ortner

*1971 in Lustenau. Von 2002 bis 2012 war der promovierte Jurist Chef­redakteur der Vorarlberger Nachrichten. 2013 bis 2019 bei der NZZ Mediengruppe. Seit 2019 bei CH Media, einem Jointventure von NZZ Regionalmedien und AZ Medien; Chefredakteur von sechs regionalen Newsportalen.

Bei der Gartenmauer hört die Freundschaft auf

Oktober 2019

Lange schien es, als könne die FPÖ den Absturz verhindern. Auf der Zielgerade wurde für viele Wähler
aus einem „Jetzt erst recht“ doch noch ein „Jetzt reicht’s“.

Fast jeder weiß, wo er am Abend des 17. Mai gerade war. Das Ibiza-Video der Zack-Zack-Zack-FPÖler HC Strache und Johann Gudenus wird veröffentlicht. Fassungslosigkeit macht sich breit, zwei Tage später beendet Sebastian Kurz die türkis-blaue Zusammenarbeit. 
Monatelang hatten Journalisten des „Spiegel“ und der „Süddeutschen Zeitung“ die Echtheit des zugespielten Materials geprüft. Die Zeitungen beschäftigten namhafte Forensiker und Experten des „Fraunhofer-Instituts für Sichere Informationstechnologie“, um alle Zweifel an der Echtheit des fast nicht für möglich gehaltenen Inhalts auszuräumen. Ein Musterbeispiel für seriösen Journalismus in der sich immer schneller drehenden digitalen Welt. „Spiegel“ und „SZ“ nahmen in Kauf, dass durch ihre aufwendige Prüfung und seriöse Recherche andere vielleicht schneller sein würden. Und sie veröffentlichten aus dem mehrstündigen Rohmaterial nur ein Destillat von wenigen Minuten, weil sie nur diese Sequenzen für staatspolitisch relevant hielten. Andere Dummheiten der FPÖ-Politiker, die die Sensationsgier des Volkes befriedigt hätten, sind bis heute unter Verschluss.

Bis kurz vor der Nationalratswahl scheint das der FPÖ nicht massiv zu schaden, die Stimmenverluste in den Umfragen halten sich in Grenzen, nicht einmal Platz zwei scheint außer Reichweite. Bei der Europawahl fährt HC Strache gar noch einen Sensationserfolg ein. Über 40.000 geben ihm eine Vorzugsstimme. Wieder einmal scheint das Mittel der Gegenoffensive zu funktionieren. Kanzler Sebastian Kurz wird in einer eilig geschmiedeten Allianz mit der SPÖ und der Liste Jetzt mit allen Ministern von der Regierungsbank gejagt. Österreich hat nach dem jüngsten Kanzler der Geschichte nun auch den jüngsten Altkanzler für die Geschichtsbücher. 

Die FPÖ greift zum Altbewährten „Jetzt erst recht“, das die ÖVP 1986 im Präsidentschafts-Wahlkampf für Kurt Waldheim salonfähig gemacht hatte. Primar Reinhard Haller hat in der Juli-Ausgabe dieser Zeitung auf die „Kastrationsangst“ der Österreicher als Motiv für dieses Jetzt-erst-recht-Handeln verwiesen. Einst Weltmacht, heute Zwergenstaat. Das habe viele Landsleute geprägt, dieses „Uns-will-man-etwas-wegnehmen“. Nach dem Ibiza-Video schon wieder, sehen doch viele Heinz Christian Strache als erfolgreichen Politiker, der es von ganz unten nach ganz oben geschafft hat. 
Doch vor allem etwas Anderes kommt der FPÖ zugute: Plötzlich jagt ein Skandal den anderen, oder zumindest wird in Windeseile alles sofort zum Skandal erhoben. Etwa das Schreddern von Festplatten durch einen Kabinettsmitarbeiter von Ex-Kanzler Kurz. Sofort wird von Politkern und Boulevardmedien ein Zusammenhang zum Ibiza-Video konstruiert. Erst nach und nach kommt zutage, dass das Vernichten von sensiblen Akten praktisch die letzte Amtshandlung jeder Regierung ist. So auch bei der Regierung von Bundeskanzler Christian Kern. Erst Monate später, am 2. September, erklärt die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, dass es keinen Zusammenhang zwischen Ibiza-Video und dem Schreddern von Festplatten gibt. Schon davor hatte Interimskanzlerin Brigitte Bierlein das Schreddern in einer parlamentarischen Anfragebeantwortung als rechtskonformen Vorgang bezeichnet.  

„Spiegel“ und „SZ“ nahmen in Kauf, dass durch ihre aufwendige Prüfung und seriöse Recherche andere vielleicht schneller sein würden – ein Muster­beispiel für seriösen Journalismus.

Doch längst hatte der nächste „Skandal“ Fahrt aufgenommen. Die Wiener Stadtzeitung „Falter“ veröffentlicht interne ÖVP-Dokumente, die Unregelmässigkeiten bei Wahlkampfkosten und Parteifinanzen dokumentieren sollen. Hatten die deutschen Journalisten das ihnen von Ibiza zugespielte Material monatelang penibel auf Echtheit und damit Wahrheitsgehalt geprüft, schien der Falter eine „heiße“ Geschichte durch penible Recherche nicht gefährden zu wollen. Die ÖVP startete eine Gegenoffensive, weil sie sich als Opfer eines Hackerangriffs sah. Und vieles deutet darauf hin, dass es tatsächlich diesen Angriff gab. Justizminister Clemens Jabloner hat inzwischen in einer parlamentarischen Anfragebeantwortung bestätigt, dass der Verdacht bestehe und erwiesen sei, dass sich ein Unbekannter Zugriff zu den ÖVP-Daten beschafft habe. 

Fast hätte es die FPÖ geschafft, im Schatten des „Skandal-Hypes“ vieler österreichischer Medien – noch einige andere ließen sich aufzählen – nahezu unbeschadet ins Ziel zu kommen. Der Ibiza-Skandal war in der aufgeheizten Stimmung plötzlich nur noch einer von vielen. Wen wundert’s, in unserer dauererhitzten Empörungsgesellschaft. Noch nie war es leichter, einen Skandal zu „platzieren“. Rasend schnell verbreiten sich Verdächtigungen, Unterstellungen, unbewiesene Behauptungen oder wüste Beschimpfungen im World Wide Web. Qualitativ hochwertigen Journalismus produzierende Medien wie „Spiegel“ oder „Süddeutsche Zeitung“ befinden sich in der größten Krise ihrer Geschichte, weil immer weniger Menschen bereit sind, für gute Recherche, nüchterne Fakten und fundierte Einordnung zu bezahlen. 
Die FPÖ hat es dennoch nur fast unbeschadet ins Ziel geschafft, denn der lange Schatten von HC Strache hat die Partei doch noch eingeholt. Noch ist unklar, was die Menschen am meisten empört hat: War es der Verdacht falscher Spesenabrechnungen oder doch „nur“ das fehlende Verständnis von Kleinverdienern und Mindestrentnern für ein monatliches Spesenkonto von 10.000 Euro und das Bezahlen der Luxus-Wohnung bei einem Gehalt von soliden 22.000 Euro? Oder war es gar nur die aus Parteimitteln bezahlte Gartenmauer von Parteiobmann Norbert Hofer, die zum massiven Liebesentzug geführt hat? Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Gartenmauer aus Freunden unerbittliche Feinde gemacht hat.

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.