Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Das hasst er aus tiefster Seele“

April 2022

Karl Schlögel (74), renommierter Osteuropa-Historiker und Publizist, sagt im Interview, Putin träume vom „Dritten Imperium“, nach dem Russischen und dem Sowjetischen. Bereits lange vor der russischen Invasion habe es „eine Spur der Gewalt und des Willens gegeben, das Imperium auf jeden Fall und mit aller Gewalt zu halten“. Was in der Ukraine heute geschieht, das hatte Schlögel vor Jahren schon vorweggenommen, er hatte 2015 in einem Buch geschrieben: „Der Angriff auf die Ukraine gilt nicht nur der Ukraine. Was dort auf dem Spiel steht, ist Europa, der Westen, eine Lebensform, die Putin und seinesgleichen als Bedrohung empfinden.“ Ein Gespräch über Putin, über „die Inszenierung von Demokratie“ in Russland – und die Helden des ukrainischen Widerstands.

Herr Professor, Sie haben einmal gesagt, Russland halte sie schon ein Leben lang in Atem. Der russische Überfall auf die Ukraine hat Sie, der seit Jahrzehnten die russische Seele erforscht, der Land und Leute kennt, sehr betroffen gemacht …
Es ist nicht der Angriff vom 24. Februar, sondern die Besetzung der Krim und der Krieg im Donbass, der mich gezwungen hat, nochmals in die Schule zu gehen, die Geschichte der Ukraine zu studieren. Wie die meisten Osteuropa-Historiker war meine Wahrnehmung immer russland-zentriert.

Ist das, was da in der Ukraine passiert, die Rückkehr zum Kalten Krieg oder der Eintritt in „eine neue Vorkriegszeit in einer Epoche großer Weltunordnung“, um einen Ausdruck von Ihnen zu verwenden?
Es gibt keine Rückkehr zum Kalten Krieg, der der Konstellation der zwei Supermächte, der Teilung der Welt in Ost und West, dem Gleichgewicht des Schreckens entsprach. Die Welt jetzt kennt mehr Mitspieler, die Lage ist viel komplizierter, aber es schält sich vielleicht eine neue Hauptlinie heraus: Zwischen diktatorialen Systemen einerseits und dem, was „der Westen“ bisher verkörpert hat.

Man meinte, das Zeitalter der Extreme, überwunden zu haben, die russische Aggression zerstörte diese Illusion. Haben Sie sich zu einem früheren Zeitpunkt je dieser Illusion hingegeben? Dass die Geschichte, um mit Francis Fukuyama zu sprechen, mit dem Zerfall der Sowjetunion an ihr Ende gelangt war?
Ich habe das Ende von der Geschichte von Francis Fukuyama nie ernst genommen. Es kam heraus, als die Geschichte gerade in Bewegung kam. Ich war in den 1980ern ständig im östlichen Europa unterwegs, dort begann erst etwas. Der Zerfall der Sowjetunion ist ja immer noch im Gang, wir sind mittendrin und wir wissen nicht, wie er noch ausgehen wird, irgendwie geordnet oder apokalyptisch.
Sie hatten frühzeitig gewarnt, bereits 2015 nach der Okkupation der Krim und dem Konflikt im Donbass in einem Buch geschrieben: „Der Angriff auf die Ukraine gilt nicht nur der Ukraine. Was dort auf dem Spiel steht, ist Europa, der Westen, eine Lebensform, die Putin und seinesgleichen als Bedrohung empfinden.“ 
Ich habe mein Buch erst jetzt, nach Jahren wieder zur Hand genommen und dachte, es wäre gerade jetzt geschrieben worden.

Hat sich diese Eskalation über die Jahre hinweg abgezeichnet? Ist das, was jetzt geschieht, die unausweichliche Folge dessen, was ab 2014 auf der Krim und im Donbass geschah?
Vor Krim, Donbass, dem Angriff jetzt gab es ja schon Stationen der Eindeutigkeit: die russischen Truppen und die Spaltung in Transnistrien, die furchtbaren Kriege in Tschetschenien, die Intervention in Abchasien und Südossetien – es gab also schon eine Spur der Gewalt, der Revanche, des Willens, das Imperium auf jeden Fall und mit aller Gewalt zu halten.

Hat der Westen die Sowjetunion zu lange nur mit zeithistorischem, fast nostalgischem Interesse betrachtet und vergessen, die richtigen Schlüsse auf das gegenwärtige russische Selbstverständnis zu ziehen?
Es ist nicht erstaunlich, dass die Leute in Ruhe gelassen werden wollen. Sie haben genug Probleme: Kinder auf die richtige Schule bringen, Rente, Arbeit, Urlaub, Pandemie und so weiter und so fort. Die Ukraine ist ganz weit weg, die meisten Leute wissen ja nicht einmal, wo das ist. In Deutschland gibt es einen speziellen Komplex, zusammengebacken aus der langen Geschichte von Preußen über Bismarck, die wohl berechtigten Schuldgefühle wegen der deutschen Verbrechen im Osten – aber die meisten denken dabei nur an Russland, nicht an die Ukraine oder Belarus, die Hauptschauplätze der deutschen Verbrechen waren. Man denkt an die Gorbimania der 80er Jahre, vor allem aber an die Geschäfte. Auch Angst ist im Spiel, wer will schon mit einer Atommacht in Streit geraten. Also ein ganzer Komplex aus Erfahrung, Emotion, Sentimentalität, die Legende von der russischen Seele. So etwas endet leicht im Russenkitsch, der eigentlich Russland und die Russen verachtet. 

Wobei Putin ja nie einen Hehl aus dem gemacht hat, was er will. Im Rückblick wird das deutlich. Putin hatte, nur um ein Beispiel zu nennen, 2005 das Ende der Sowjetunion als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet. Hätte man also, salopp gefragt, besser zuhören müssen?
Für ihn, als Kind des Imperiums war es auch die Katastrophe, und er kann sich ein Russland jenseits des Imperiums gar nicht vorstellen.

Können Sie, der seit Jahrzehnten zur russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, zum russischen Selbstverständnis forscht und publiziert, denn nachvollziehen, was Putin treibt? Was ihn zum „Krieg gegen das Brudervolk“ – auch das ist ein Zitat von Ihnen – veranlasste?
Wie ich zuvor sagte. Er ist Kind des Imperiums, gehörte zum innersten Kern des Imperiums – der Geheimdienste –, der weitgehend intakt geblieben ist und sich nicht abfand mit der Auflösung des Imperiums. Außerdem – je länger, desto mehr – der Mann hat ja gar keine Ahnung mehr, was die Ukraine heute ist, ein kompliziertes, aber freies Land. Das hasst er aus tiefster Seele.

Putin wird scheitern, weil sich dieses Riesenland nicht von einem Punkt aus, nicht von einem Mann regieren lässt. Die Frage ist nur, welche Opfer auf dem Weg zu seinem Ende noch fällig werden.

Sie selbst sagten in einem Interview, Putin baue historischen Bombast auf, bewirtschafte das russische Trauma, weigere sich, die Geschichte anzuerkennen …
Er liest vielleicht viele Bücher, aber seine Politik leitet sich nicht aus Lektüren ab, sondern aus seinen Komplexen, Obsessionen, seiner Unsicherheit und seinem Hass auf alles, was sich jenseits seiner Kontrolle bewegt – letztlich auch das eigene Volk, das er verachtet.

Putin verklärt die Vergangenheit, träumt von einem mit der einstigen Sowjetunion vergleichbaren Russland. Steht zumindest das offizielle Russland der eigenen Vergangenheit – etwa Stalin, dem großen Terror und den Verbrechen des Gulags – zu unreflektiert gegenüber?
Er träumt vom „Dritten Imperium“, nach dem Russischen und dem Sowjetischen. Ein Russland, das seine Geschichte im 20. Jahrhundert bearbeiten würde, ist für sein Regime eine tödliche Gefahr. Er bewirtschaftet gerade diese unbewältigte Geschichte mit all ihren Tragödien: Bürgerkrieg, Hungersnöte, Terror, Kriege und nie endende Unterdrückung.

Lässt sich Putin mit einem der einstigen sowjetischen Machthaber vergleichen?
Putin ist eine eigene Gestalt, es führt nicht weiter, von Nero oder Hitler oder Stalin zu reden. Er ist ein Diktator neuen Typs, eben nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, gegen den er sich mit allen Mitteln sträubt.

Russland nennt sich selbst, in Artikel 1 der Verfassung, einen demokratischen föderativen Rechtsstaat mit republikanischer Regierungsform. Mit dem westlichen Verständnis von Demokratie hat Russland aber wenig gemein, oder?
Es gibt keine Demokratie in Russland, sondern eine Inszenierung. Aber wir reden immer von Parlament, Oberstes Gericht und so weiter und so fort. Russland ist keine Föderation, sondern ein von einem diktatorischen Zentrum gelenkter, ausgebeuteter Staat, 70 Prozent des Kapitals gehen in die Hauptstadt, von kultureller und anderer Autonomie zu reden, von Selbständigkeit der Gouverneure zu reden, wäre lächerlich. Darin liegt auch die Gefahr: Putin, angeblich der Garant für Stabilität, hat alle Strukturen zerstört, die das Land zusammenhalten können.

Der inhaftierte Kreml-Kritiker Nawalny sagt in seinen Reden vor Gericht: „Einer wird eingesperrt, um Millionen andere einzuschüchtern. Dieses ganze Regime basiert auf Angst.“ Lassen sich die Russen dauerhaft einschüchtern? Werden sie sich weiterhin dem fügen, was russische, sowjetische Herrscher immer schon gemacht haben, dieses riesige Land mit eiserner Härte zu führen?
Wie er das weite Land regiert, das sehen wir ja. Und er wird scheitern, weil sich dieses Riesenland nicht von einem Punkt aus, nicht von einem Mann regieren lässt. Die Frage ist nur, welche Opfer auf dem Weg zu seinem Ende noch fällig werden.

Und doch gibt es Menschen, die in Russland gegen den Krieg, gegen Putin demonstrieren. Lässt sich nach westlichen Maßstäben überhaupt messen, wie mutig diese Demonstranten sein müssen? 
Ja, das ist erstaunlich, besonders wenn man bedenkt, dass es am 1. September 1939 keine einzige Kundgebung gegen Hitlers Krieg in Deutschland gegeben hat. Das macht einen nachdenklich.

… und wie mutig die Ukrainer sind, die sich dieser russischen Übermacht stellen?
Ich habe keine Worte dafür. Sie sind bereit zum Kampf auf Leben und Tod, Helden in einer Zeit, in der westliche Bescheidwisser und Politologen vom „postheroischen Zeitalter“ faseln.

1991, mit dem Zerfall der Sowjetunion, gab es durchaus Hoffnungen, dass Russland eine moderne Gesellschaft wird, mit neuen Werten, neuen Freiheiten. Besteht die Hoffnung, dass Russland zu ebendieser Moderne findet?
Mit Putin gibt es kein modernes, freies, glückliches Russland.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Lesetipp! 

Karl Schlögel „Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen“
Carl Hanser Verlag, München 2015

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