Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Das Individuelle eines jeden Kindes berücksichtigen“

November 2020

Oskar Jenni (53), renommierter Kinder- und Jugendmediziner, engagiert sich seit langem für mehr gesellschaftliche Akzeptanz und Wertschätzung der Verschiedenartigkeit von Kindern.
Im Interview sagt Jenni, dass jedes Kind seine ganz individuellen Stärken und Schwächen hat, die Bildungspolitik das aber nicht berücksichtigt.

Herr Professor, Sie engagieren sich seit Langem für mehr gesellschaftliche Akzeptanz und Wertschätzung der Verschiedenartigkeit von Kindern. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Wir müssen als Gesellschaft akzeptieren, dass jedes Kind anders ist und seine ganz individuellen Stärken und Schwächen hat. Die Kinder können ihr Entwicklungspotential nämlich nur dann erreichen, wenn die Erwartungen und Anforderungen der Umwelt an diese individuellen Eigenschaften und Bedürfnisse anpasst sind. Dann werden Über- oder Unterforderungssituationen vermieden und das Kind entwickelt ein gutes Selbstwertgefühl. 

Sie sagen, die kindliche Entwicklung verlaufe auf unterschiedlichen Ebenen – und bei jedem Kind unterschiedlich schnell. Inwiefern?
Wir neigen dazu, grobe Verallgemeinerungen über die kindlichen Entwicklungsschritte zu machen. So erwartet man beispielsweise, dass ein Kind bis zum ersten Geburtstag frei gehen kann, im Alter von zwei Jahren noch einen Mittagsschlaf macht, sich mit vier Jahren in Rollenspielen übt, zehnjährig flüssig lesen kann und mit dreizehn Jahren einen Wachstumsschub hat. Die Variabilität zwischen den Kindern ist in all diesen Entwicklungsbereichen allerdings enorm groß. So gibt es beispielsweise Kinder, die bereits in der 1. Klasse lesen können, während andere sich gegen Ende der Grundschule immer noch schwer damit tun.

Sie haben in einem Interview gesagt:
„Wenn eine Lehrerin eine erste Klasse mit 20 sechsjährigen Kindern vor sich hat, unterscheiden sich die Kinder in ihrem Entwicklungsalter um bis zu drei Jahre.“ 
Ich würde sogar behaupten, dass die Unterschiede bis zu vier Jahre betragen. Nach wie vor orientiert sich die Schule aber an Jahrgangsklassen und geht dabei von einem „Durchschnittskind“ aus. Das spiegelt aber die Realität in keiner Weise wider: So sind manche Kinder im Denken weit voraus, während andere Lernstörungen aufweisen.

Hat Ihre Forschung gezeigt, bis in welches Alter sich Kinder derart stark unterscheiden? 
Die Variabilität nimmt im Lauf der Entwicklung sogar noch zu. Je älter das Kind wird, desto stärker wird die Entwicklung durch Faktoren der Umwelt beeinflusst. Während zum Beispiel die motorische Entwicklung in den ersten Lebensjahren weitgehend nach einem genetischen Programm abläuft, so wird diese später besonders von den Bewegungserfahrungen beeinflusst, die das Kind je nach Umwelt machen kann.
Was ist denn der Grund für die große Vielfalt zwischen Kindern?
Der Grund der Variabilität lässt sich mit der Evolutionstheorie erklären. Im Verlauf der Evolution nimmt die Vielfalt einer Art immer mehr zu. Auf diese Weise wird das Überleben der Art gesichert. Je größer die Vielfalt ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass wenigstens einige Individuen einer Art bei sich verändernden Umweltbedingungen überleben.

Sprechen wir doch über Bildungspolitik!
Die Bildungspolitik ist nicht wirklich in der Lage, die große Variabilität und Heterogenität von Kindern zu berücksichtigen. Sie reduziert die Komplexität der kindlichen Entwicklung. Es ist viel einfacher, jedem Kind denselben Hut aufzusetzen, ohne Rücksicht darauf, welcher Kopf darunter steckt. Es gibt aber durchaus Schulen, die den Kindern individuell passende Hüte anziehen. Die Lehrpersonen begegnen der Vielfalt von Kindern in diesen Fällen mit innovativen Methoden und berücksichtigen die Variabilität in den Lernprozessen. Ich plädiere dafür, Schulen die nötigen Freiheiten dafür zu geben.

Was müsste dann das Motto sein?
Die Kinder, die weiter sind, fordern und die anderen fördern?

Genau! Es braucht dazu einen entwicklungsorientierten Unterricht mit einem breitgefächerten Spektrum an didaktischen Methoden, Anregungen und Settings. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass Lehrpersonen ausreichendes Wissen über die Entwicklung von Kindern haben. Sie müssen Kinder genau beobachten und beschreiben können und in der Lage sein, den Entwicklungsstand eines Kindes einzuschätzen. Für den Lernerfolg eines Kindes sind Kenntnisse über sein Entwicklungsprofil entscheidend, denn Förderung muss dem jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes angepasst sein. Entwicklungswissen sollte neben den didaktischen Fähigkeiten eine zentrale Kompetenz von Lehrpersonen sein.

Schadet zu viel Gleichmacherei der Entwicklung der Kinder?
Der Ausdruck „Gleichmacherei“ ist nicht passend. Kinder brauchen neben Bezugspersonen, die auf ihre jeweiligen Bedürfnisse eingehen, auch Führung und Struktur. Das ist sozusagen ein Stück „Gleichmacherei“. Menschen brauchen nämlich klare Rahmenbedingungen, sonst ist die Gesellschaft nicht funktionsfähig. Das sehen wir ganz besonders in der aktuellen Krise. Wir können diese nicht gemeinsam meistern, wenn wir nicht entsprechende Strukturen haben. Aber innerhalb dieses Rahmens braucht es eine Anerkennung des individuellen Menschen.

Was können, was sollen Eltern machen?
Eltern dürfen sich durch den großen Druck, der auf ihnen lastet, nicht aus der Ruhe bringen lassen. Sie sollten Vertrauen in die Fähigkeiten ihres Kindes haben. Die Entwicklung lässt sich nicht beschleunigen. Auch sollten sie den Kindern Geborgenheit und Sicherheit vermitteln, aber eben auch Führung und Struktur geben. Dabei müssen sie ihre eigenen Vorstellungen und Wünsche zurückstellen. Dafür braucht es eine große Portion Gelassenheit. Ich weiß schon, dass das bisweilen eine Herausforderung ist, ich bin selber Vater von vier Jungen im Alter zwischen 13 und 21 Jahren.

Sie sagten, ebenfalls in einem Interview, dass die Gesellschaft von einem veralteten Entwicklungsmodell ausgehe, laut dem das Kind von außen gesteuert werden könne.
Anfang des 20. Jahrhunderts hatte der US-amerikanische Psychologe John Watson ein bis heute in unseren Köpfen tief verankertes Entwicklungsmodell formuliert und dabei gesagt: „Gebt mir ein Dutzend Kinder und ich garantiere, dass ich sie zu dem erziehen werde, was ich bestimme, Arzt, Jurist, Künstler, Kaufmann, sogar Bettler und Dieb, ungeachtet ihrer Neigungen, Eigenschaften und ihrer Herkunft.“ Watsons Behaviorismus war über viele Jahrzehnte sehr prägend für die Gesellschaften. Heute sind seine Vorstellungen über die Entwicklung aber wissenschaftlich widerlegt. Wir wissen, dass die kindliche Entwicklung ein außergewöhnlich komplexer Prozess ist, der nicht von außen gesteuert werden kann. Das Kind ist selber ein aktiver Gestalter seiner Entwicklung. Dazu müssen die verschiedenen Umwelten an die individuellen Eigenheiten und Bedürfnisse eines jeden einzelnen Kindes angepasst sein.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person

Oskar Jenni leitet seit 2005 die Abteilung Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich; der Kinder-und Jugendmediziner ist zudem Extraordinarius für Entwicklungspädiatrie an der Universität Zürich. Zu den Forschungsgebieten des Professors zählen unter anderen das Schlafverhalten im Kindesalter sowie die motorische, kognitive und soziale Entwicklung von gesunden und kranken Kindern. Seit 2018 ist Jenni außerdem Leiter der „Akademie. Für das Kind. Giedion Risch“.

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