Stefan Allgäuer

Dr. Stefan Allgäuer (* 14. Juli 1953), Geschäftsführer des ifs Vorarlberg – Institut für Sozialdienste 

(Foto: © IFS)

Peter Kopf
Erich Ströhle

Das Mindeste

November 2018

Die Absicherung von Lebensrisiken und die Verhinderung von Armut, Deprivation und sozialer Ausgrenzung sind nicht nur lästige Pflicht, sondern Grundaufgabe eines Staatswesens.
Nicht aus Nächstenliebe und Menschlichkeit gewähren Staaten eine soziale Grundversorgung, vielmehr ist politisches Kalkül ausschlaggebend.

Richtige Maßnahmen in diesem Bereich wirken einer Spaltung der Gesellschaft mit all ihren gefährlichen Folgeerscheinungen entgegen, sie verhindern Begleit- und Folgekosten, die um vieles höher sind als die direkten Sozialleistungen, erhöhen Sicherheit und das Sicherheitsgefühl der Menschen und senken damit die notwendigen Investitionen in Sicherheitssysteme. Die soziale Grundversorgung ist eine Investition in den sozialen Frieden einer Gesellschaft, ein unbestrittener Faktor der Lebensqualität in einem attraktiven Lebens- und Wirtschaftsraum.

Betrachtet man das System der Mindestsicherung, so sind zum Verständnis einige erklärende Anmerkungen notwendig.

1. Weniger als 20 Prozent der Mindestsicherungsbezieher erhalten diese in voller Höhe und über eine längere Zeit hinweg. Rund 50.000 Erwachsene beziehen länger als sechs Monate Mindestsicherung. Dies sind chronisch kranke Menschen mit mehrfachen gesundheitlichen und/oder körperlichen Beeinträchtigungen. Dass etwa 0,6 Prozent der österreichischen Bevölkerung krankheitsbedingt – trotz allenfalls offener Stellen – nicht arbeiten können, ist wohl eine realistische Bilanz. Es stellt sich nicht die Frage, ob es diese Menschen gibt, sondern ob wir diese in unsere Gesellschaft integrieren oder bewusst ausschließen wollen. Wer allerdings der Meinung ist, damit könne man Kosten sparen, der irrt gewaltig. Den leicht reduzierten Sozialkosten würden stark steigende Kosten für Sicherheit, Justiz usw. gegenüberstehen – dies bestätigt ein Blick in andere Staaten.

2. Mehr als ein Drittel der Mindestsicherungsbezieher sind Kinder. Die Benachteiligung der Kinder wird gerade mit der Gestaltung der Mindestsicherung noch verstärkt – mit all den negativen Auswirkungen auf Zukunftschancen, Bildung und Gesundheit. Kinder, die zurückgelassen werden, sind die Armen von morgen. Kindern Zukunftschancen zu verweigern und ihnen später als Erwachsene vorzuwerfen, dass sie nichts tun und nichts können, ist keine erfolgreiche Strategie zur Reduzierung von sozialen Folgekosten, eine faire schon gar nicht. (Eine Berechnung des Landesrechnungshofes Vorarlberg hat vor einigen Jahren ergeben, dass ein einziges „verlorenes“ Kind den Staat in Summe bis zu zwei Millionen Euro kostet.)

3. 70 Prozent der Bezieher von Mindestsicherung sind „Aufstocker“. Das Einkommen, die Pension, das Arbeitslosengeld oder die Notstandshilfe reicht nicht aus und wird deshalb aufgestockt. Sehr viele „Working Poor“ fallen in diese Gruppe. Trotz eines Vollzeitjobs können die Lebenshaltungskosten nicht beglichen werden. Damit stellt die Mindestsicherung keine soziale Großzügigkeit dar, sondern ist eine direkte und indirekte Wirtschaftsförderung. Direkt, da die ausgezahlten Beträge zu fast 100 Prozent in den Wirtschaftskreislauf und somit zu einem guten Teil als Steuerleistung in den Staatshaushalt zurückfließen (Sparen ist mit diesen Beträgen nicht möglich). Indirekt, weil so Löhne (zu) nieder gehalten werden können. Das reduziert die Ausgaben von Betrieben und erhöht deren Gewinne.

4. Jeder „Abstieg“ in das gesellschaftliche Aus, in die Wohnungs- und Obdachlosigkeit kostet den Staat das Vielfache von dem, was die Mindestsicherung zur Überbrückung, Stabilisierung und (Re-)Integration kostet. Wenn man also nicht aus humanistischen Motiven für eine verbesserte Mindestsicherung plädiert, so doch aus rein budgetären und finanziellen Gründen.

5. In der Diskussion, ob die Mindestsicherung gerechtfertigt ist, wird häufig übersehen, dass diese das letzte Sicherungsnetz vor dem totalen Absturz in die Armut darstellt. Sie ist eine wichtige „Versicherung“ gegen Klein- und Beschaffungskriminalität. Wer nach unten abgesichert ist, läuft weniger Gefahr, aus Verzweiflung und Not kriminell zu werden.

6. Im Jahr 2017 hat der österreichische Staat 181 Milliarden Euro ausgegeben. Die Kosten für die Mindestsicherung machen demzufolge nur rund 0,5 Prozent der Gesamtausgaben des Staates aus.

7. Die österreichische Sozialquote liegt seit Jahren relativ stabil zwischen 28 und 30 Prozent. 2017 war sie sogar rückläufig. Es gibt keine Hinweise, dass die Sozialausgaben in Österreich überborden und überdimensional wachsen. Im Gegenteil: Die Zahlen für verfestigte Armut, für Kinderarmut und Altersarmut sind eigentlich eine Schande für eine der reichsten Regionen der Erde.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: 40 Prozent der Vorarlberger haben Zukunftsängste, 68 Prozent sehen den sozialen Frieden bedroht. Dies besagt eine kürzlich veröffentlichte Umfrage von Triconsult. Den chronisch Kranken und den Schwächsten in unserer Gesellschaft zu helfen, jenen Menschen, die in finanzielle Schwierigkeiten geraten, Überbrückungshilfe zu bieten und begleitend Maßnahmen einzuleiten, die eine rasche Wiedereingliederung in das Arbeitsleben und die Widerherstellung einer eigenständigen Lebensführung sicherstellen – das sind die Ziele einer vernünftigen Mindestsicherung. Nicht diejenigen, die eine solche Unterstützung benötigen, zerstören den sozialen Frieden und das soziale Miteinander in einer Gesellschaft, sondern diejenigen, die immer wieder gegen die Systeme der Mindestsicherung und – schlimmer – gegen die Menschen, die Mindestsicherung brauchen, hetzen.

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