Stefan Allgäuer

Dr. Stefan Allgäuer (* 14. Juli 1953), Geschäftsführer des ifs Vorarlberg – Institut für Sozialdienste 

(Foto: © IFS)

Sozialstaat reloaded

Juli 2018

Das Schaffen von sozialer Sicherheit gilt als Ziel erfolgreicher Sozialpolitik – zumindest gemäß unseres mittel- und nordeuropäisch geprägten Verständnisses. Alle Mitglieder einer Gesellschaft sollen ein menschenwürdiges Lebens führen können.

Ein soziales Netz gibt es in allen staatlichen Systemen – doch diese unterscheiden sich gravierend. Vereinfacht gesagt können drei Formen unterschieden werden, wobei soziale Systeme immer Systeme der Gesundheits- und Sozialversorgung subsummieren. In zahlreichen – vor allem afrikanischen, asiatischen und südamerikanischen – Staaten gilt die Familie als soziales Netz, der Staat übernimmt (fast) keine Verantwortung. Das heißt, rund 5,5 Milliarden Menschen leben in Systemen, in denen vorausgesetzt wird, dass die primären Strukturen der (Groß-)Familie für soziale Sicherheit sorgen. In manchen wirtschaftsliberalen Staaten versteht sich der Staat als Versicherungssystem – aber nicht für alle. Geschätzt 1,5 Milliarden Menschen leben in Gesellschaften, in denen der Staat die soziale Sicherheit für all jene organisiert, die in das System einzahlen. Wer – warum auch immer – nicht in der Lage ist einzuzahlen, dem wird soziale Sicherheit verwehrt. Ein Beispiel für dieses Verständnis ist der so starke Widerstand der Amerikaner gegen „Obamacare“ – einer medizinischen Grundversorgung für alle Bürger. Eine dritte Form eines staatlichen Sozialsystems bildet der Sozialstaat, wie wir ihn und insgesamt etwa 500 Millionen Menschen in mittel- und nordeuropäischen Ländern kennen. Sozialstaaten definieren sich über das Prinzip, dass jeder Mensch das Recht auf soziale Absicherung und damit auf eine menschenwürdige Gesundheits- und Sozialversorgung hat.

Der Sozialstaat als Exportmodell

Werden die verschiedenen Systeme miteinander verglichen, so zeigt sich natürlich, dass erstgenannte deutlich geringere Gesundheits- sowie Sozialkosten und auch -leistungen aufweisen. Vergleicht man die Sozialkosten der beiden anderen Systeme, so lässt sich feststellen, dass diese in den Versicherungsstaaten gleich hoch, wenn nicht sogar höher sind als in Sozialstaaten. Das ist vor allem mit der hohen Qualität der Leistungen, die den Besitzenden und somit Einzahlenden geboten werden muss, zu erklären. Werden allerdings die Opportunitätskosten – diese fallen vor allem in der Finanzierung privater und öffentlicher Sicherheitssystem an; man denke nur an die Kosten für Alarmanlagen in Privathäusern, die Anzahl an Gefängnissen und deren Insassen, die Kosten für Polizei, Gerichte … – in die Rechnung miteinbezogen, so sind die Kosten in den Versicherungsstaaten bei Weitem am höchsten.

Werden dann im Vergleich auch noch Wirtschaftsdaten und staatliche Erfolgsfaktoren berücksichtigt, so zeigt sich, dass das Modell der Sozialstaaten mittel- und nordeuropäischer Prägung weltweit mit allen anderen Modellen konkurrenzfähig und eigentlich – wie Karl Aiginger, ehemaliger Leiter des WIFO, postulierte – ein Exportschlager wäre.

Hat die Sozialstaat-Idee ausgedient?

In Österreich scheint das Modell des Sozialstaates derzeit jedoch mehrheitlich nicht als Erfolgsmodell eingestuft zu werden. Hat es versagt? Bei uns ist der Sozialstaat für viele Generationen eine Selbstverständlichkeit und sein Erfolg ist sein Problem. So ist zu beobachten, dass auch und gerade Menschen, die auf Leistungen der Sozialsysteme angewiesen sind, mit politischen Postulaten wie „Nur wer einzahlt, soll auch etwas herausbekommen“ zu fangen sind.

Diverse Maßnahmen der aktuellen Bundesregierung lassen Sorge aufkommen, dass ein Umbau des Sozialstaates in Richtung „Versicherungsstaat“ erfolgen soll. Selbstverständlich müssen Sozialmodelle diskutierbar und auch auf deren Effizienz überprüfbar sein. Doch wollen beziehungsweise können wir es uns leisten, in einem Land, dessen Wirtschaft floriert, ein gut funktionierendes Modell, das allen ein menschenwürdiges Leben zugesteht und vor allem ermöglicht, zugunsten eines Modells, das primär die Vermögenden unterstützt, aufzugeben? Wollen wir einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung – darunter zahlreiche Kinder, die unsere Zukunft darstellen – zurücklassen? Ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Leben absprechen?

Verschiedene Maßnahmen deuten in diese Richtung: Stellte beispielsweise die Mindestsicherung stets ein Instrument dar, um Menschen in Not die Teilhabe zu ermöglichen, so ist im Entwurf der Mindestsicherung NEU nur mehr ein Beitrag zur Unterstützung des allgemeinen Lebensunterhalts und des Wohnbedarfs vorgesehen. Der Familienzuschuss neu ist nun ein Absetzbetrag von den Steuern. Somit erhalten diejenigen, die mehr in das System einzahlen, mehr zurück als diejenigen, die wenig beitragen können, jedoch dringend der staatlichen Unterstützung bedürften. Dies entspricht dem Gedanken des Versicherungsprinzips. Für diejenigen, die (mehr) einbezahlen, erscheint das auch mehr als nur gerecht. Auch die Abschaffung des Pflegeregresses deutet in diese Richtung.

Alle Staaten, welche das Grundprinzip des Sozialstaates umgesetzt haben, zeichnen sich aus durch einen stabilen sozialen Frieden, hohe Lebensqualität, attraktive Standorte für Betriebe und Arbeitsplätze, relativ niedrige Kriminalität und hohe Sicherheit – und das über einen Zeitraum von mehr als 60 Jahren. Es wird Veränderungen brauchen, um dieses System auch für die Zukunft zu erhalten. Darum sollten wir Kritik, Vorschläge und Entwicklungsszenarien offen diskutieren. Einen Grund sich davon zu verabschieden, gibt es nicht. Mangels besserer Alternativen.

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