Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Die Enkelin eines NS-Massenmörders

Dezember 2014

Jennifer Teege (44), die Tochter einer Deutschen und eines Nigerianers, entdeckte mit 38 Jahren per Zufall, dass sie die Enkeltochter von Amon Göth ist, dem „Schlächter von Plaszów“. Teege, die 2013 ihre Lebensgeschichte veröffentlicht hatte, war im Rahmen des Kongresses „Was im Leben wirklich zählt“ in Bregenz – und traf „Thema Vorarlberg“ zum Interview.

Sie wuchsen im Kinderheim, später in einer Pflegefamilie auf und hatten mit Ihrer leiblichen Mutter nur sporadisch Kontakt. Wie erlebten Sie Ihre Kindheit?

Jennifer Teege: Ich habe in der Adoptivfamilie eine fast normale, eine glückliche Jugend erlebt. Aber mit Anfang 20 kamen die Depressionen. Da kam diese bedrohliche, schwarze Wolke. Ich schob es zunächst auf Liebeskummer und erfuhr erst viel später, dass meine frühe Kindheit und das Familiengeheimnis der wahre Grund dafür waren, dass ich tief in mir so unglücklich war.

Mit 38 Jahren stießen Sie, die Tochter einer Deutschen und eines Nigerianers, per Zufall auf ein Buch, das Ihr Leben verändern sollte.

In manchen Momenten ist dieser Tag noch so frisch wie damals. Es war eine Erschütterung, die mein Leben in ein Vorher und in ein Nachher geteilt hat. Ich hatte die Kinder in den Kindergarten gebracht, mein Mann war zur Arbeit gegangen, ich in die Bücherei. Und dann zog ich dieses Buch mit dem Titel „Ich muss doch meinen Vater lieben, oder?“ aus dem Regal, das die Geschichte meiner leiblichen Mutter und damit auch meine Familiengeschichte erzählt.

Sie lasen das Buch dann daheim …

… sofort in einem Rutsch durch. Und dann kamen zwei Traumata, zwei Schocks hintereinander. Zunächst schockierte mich nur die Tatsache, dass meine Mutter ein Buch veröffentlicht hatte, das mir all die Jahre vorenthalten worden war. Und dann schockierte mich der Inhalt des Buchs, mein familiärer Hintergrund, von dem ich bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt nichts wusste.

Sie mussten entdecken, dass Amon Göth ihr Großvater war.

Ja. Ich kannte den Film „Schindlers Liste“, ich kannte meinen Geburtsnamen Göth, aber niemals hätte ich eine Verbindung zu dieser Figur hergestellt. Aber auf einmal war diese Filmfigur ein Mitglied der eigenen Familie, war dieser Amon Göth mein Großvater. Das zu verstehen, das überhaupt erst einmal aufzunehmen, war zu viel für mich.

Amon Göth ging als einer der berüchtigsten NS-Massenmörder in die Geschichte ein.

Es gab auch andere Verbrecher im Nationalsozialismus. Es gab viele Täter. Aber Göth wurde durch den Film für viele Menschen zu einer Symbolfigur für das Böse. Das prägt ein Gedächtnis.

Amon Göth, im Film von Ralph Fiennes gespielt, wurde 1946 gehängt für die Ermordung von 8000 Menschen im NS-Konzentrationslager Płaszów. Lagerkommandant Göth soll mindestens 500 Menschen eigenhändig umgebracht haben. Göth schoss vom Balkon seiner Villa auf Häftlinge oder ließ sie von seinen Hunden zerfleischen. Und Sie entdeckten, mit 38 Jahren, dass Sie die Enkelin dieses Monsters sind.

Dieses Grausame manifestiert sich besonders in dem Beispiel mit den Hunden. Das ist für jeden Menschen so unvorstellbar, man lehnt es so ab, man will damit nichts zu tun haben. Das war auch bei mir so. Nur war er auf der anderen Seite eben plötzlich der Großvater.

Die Folge war damals eine tiefe Depression.

Ich war davor schon depressiv, zum damaligen Zeitpunkt war es, medizinisch gesprochen, eher eine posttraumatische Belastungsstörung. Ein Trauma. Ich habe Ohnmacht empfunden. Und weil ich damals nicht in der Lage war, klar zu denken, gab es eine Zeit, in der ich mir die Frage gestellt habe, ob ich nicht etwas von ihm in mir trage. Heute, mit meinem Verständnis, mit dem klaren Blick darauf, ist mir klar: natürlich nicht. Es ist ja keine genetische Sache, dass man Grausamkeit vererbt, es ist ein Verhalten eines Menschen.

Sie begannen dann, sich mit der Person Göth auseinanderzusetzen.

Es gab die historische Figur Göth, und es gab meinen Großvater Göth. Das war auch etwas, das ich erst nicht auseinanderhalten konnte. Das kam erst mit der Zeit. Für die historische Figur war es mir wichtig, nach Polen zu reisen und dort das Geschichtliche zu sehen, das, was vom Lager noch erhalten ist. Aber viel entscheidender war die familiäre Komponente, die Auseinandersetzung mit ihm und seinen Taten, die Frage nach Schuld und Verantwortung, mein Verhältnis zu den Opfern – auch wenn das sehr abstrakt klingt. Ich hatte damals Blumen am Mahnmal im ehemaligen Lager abgelegt. Das war mir das Wichtigste, um überhaupt weiterleben zu können.

Eine besondere Rolle spielte auch Ihre Großmutter, Ruth Irene Göth, die 1983 Selbstmord begangen hatte. Sie hatten als Kind ein inniges Verhältnis zu Ihrer Großmutter, haben sich später einzureden versucht, dass sie von den Verbrechen nichts mitbekommen hatte …

Ich habe mir das nicht eingeredet. Ich habe das anfangs vermutet. Oder gehofft. Aber es war vor Ort schnell klar, dass die Realität eine andere sein musste, besonders, wenn man dieses Haus, diese Villa besucht. Es ist ausgeschlossen, dass sie davon nichts mitbekommen hatte. Sie lebte die meiste Zeit in dieser Villa, sie hatte das Verhalten meines Großvaters miterlebt, sie hatte die Angst in den Augen von Helen Rosenzweig (Göths Hausmädchen, Anm.) gesehen. Für sie muss klar gewesen sein, was da passierte.

Ihre Großmutter hat Amon Göth zeitlebens verklärt, sie hatte ein Bild von ihm über dem Bett hängen. Haben Sie ihr später verziehen?

Verziehen? Das ist nicht das richtige Wort. Ich habe später in die Tiefe geschaut und vieles von dem verstanden, was ich anfangs hinterfragt hatte. Wie bei meinem Großvater habe ich auch diese Unterscheidung zwischen der historischen Figur und der Großmutter gemacht. Die Großmutter war eine wirklich warmherzige, mir zugewandte Frau, die mir als Kind einen sicheren Hafen geboten hatte. Und dann gab es diese Frau an der Seite von Amon Göth. Dies zusammenzubringen, das musste ich erst einmal verstehen. Und dann ging es weniger um das Verzeihen, sondern vielmehr um das Akzeptieren, dass es zwei Seiten gibt, die parallel existieren können.

Können Sie den Film „Schindlers Liste“ noch anschauen?

Ja. Ich kann ihn anschauen, auch wenn es immer noch einige Szenen gibt, die ich nur schwer aushaltbar finde. Diese Szene, in denen die Frau so wegsackt, das ist eine Verkörperung dieser Zeit, dieser Grausamkeit, dieser Willkür. Da will ich nur ausschalten. Aber mir ist immer bewusst gewesen, auch heute noch, dass „Schindlers Liste“ kein Dokumentarfilm ist, sondern ein Hollywood-Epos, das die Geschichte erzählt.

Im Internet existiert ein Video, das zeigt, wie man Amon Göth hängt. Haben Sie dieses Video jemals angeschaut?

Einen Tag, nachdem ich das Buch entdeckt hatte, gab es einen Dokumentarfilm auf Arte, eine Erstausstrahlung, die diese Hinrichtung zeigte. Da fand ich die Szene surreal. Drei Versuche wurden unternommen, Amon Göth zu hängen. Es war so skurril, ich wusste damals nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Das war das einzige Mal, dass ich mir so richtig bewusst diese Hinrichtung angeschaut habe. Bei einem Fernsehinterview wurde der Ausschnitt noch einmal gezeigt. Aber ich habe nie das Bedürfnis gehabt, mir das nochmals anzuschauen.

Sie hatten zuvor, eine Ironie des Schicksals, in Unkenntnis Ihrer Familiengeschichte in Israel studiert. Später zögerten Sie, Ihre israelischen Freunde mit Ihrer schockierenden Familiengeschichte zu konfrontieren.

Ja. Zunächst, weil ich warten musste, bis ich wieder Kraft hatte, aber auch, weil ich nicht wusste, wie meine Freunde und deren Familien damit umgehen würden. Ich hatte keine Angst um die Freundschaften. Aber ich kannte die einzelnen familiären Hintergründe nicht, ich wusste nicht, ob es Verwandte gegeben hatte, die in Płaszów ermordet worden waren. Dann habe ich aber mit ihnen gesprochen. Und alle Menschen, auch Überlebende, sind mir bisher mit ausgestreckter Hand begegnet. Im Februar reise ich nun erstmals offiziell nach Israel, da wird das Buch in Israel auf den Markt kommen. Ich habe keine Angst, in das Land zurückzukehren. Ich freue mich darauf.

Sie waren 2012 mit israelischen Schülern im Lager von Płaszów.

Das war eine wichtige Begebenheit, die nochmals dazu geführt hat, mehr inneren Frieden zu finden und auch loslassen zu können. Es war ein besonderer und ein unglaublich ergreifender Moment, als die Schüler mir anboten, in ihrem Namen an der Grabstätte die Blumen abzulegen – symbolisch.

Ihr 2013 erschienener autobiografischer Roman trägt den Titel „Amon. Mein Großvater hätte mich erschossen“.

Es ist vielleicht eine Zuspitzung. Aber ich entspreche schon äußerlich so wenig dem Ideal der damaligen Zeit – meine schwarzafrikanische Herkunft ist nicht arisch. Das Innere, das, was ich bin und was ich vertrete, ist mir aber wichtiger als das Äußere. Es ging mir darum, meinem Großvater, der als Symbolfigur für das Böse stand, etwas entgegenzusetzen und zu zeigen, dass sich aus dieser Linie Göth etwas zutiefst Menschliches entwickelt hat, das sich abgrenzt von dieser Figur.

Es braucht Mut, die eigene Lebensgeschichte öffentlich zu machen. In Ihrem Fall braucht es besonderen Mut.

Mut? Das habe ich nie so empfunden. Diese Frage hat sich mir nie gestellt. Ich wusste, dass ich die Geschichte aufschreiben muss.

Wie gehen Sie heute mit Ihrer Abstammung um?

Entspannter. Das Familiengeheimnis war das Belastende, das hat toxisch gewirkt. Das ist heute weg. Heute habe ich viele Jahre der Reflexion hinter mir. Das ist ein Bestandteil meines Lebens, aber auch etwas, an dem ich gewachsen bin. Es hat mich auch befreit, weil es mir einen ganz neuen Zugang zu meiner eigenen Identität verschafft hat. Dieses Wissen um die eigene Identität, um die Herkunft, wer man ist und wie alles zusammenhängt, ist etwas, das für jeden Menschen die Grundlage für ein glückliches Leben bildet. Und ich habe zwei Schlüssel gefunden, die mich durch diese schwierige Zeit getragen haben und mich jetzt durch mein Leben tragen: das Wissen, dass es in der Welt auch viel Gutes gibt, und der tiefe Glaube, dass man selbst nicht das Maß aller Dinge, sondern in einen großen Kontext eingebettet ist.

Sie haben ein spezielles Schicksal erfahren. Aber können Sie etwas ableiten für alle Menschen, deren Leben sich vom einen auf den anderen Tag grundlegend ändert?

Mein Schicksal mag schwer sein. Aber im Leben eines jeden Menschen gibt es Momente der existenziellen Bedrohung. Welche Schlüssel habe ich gefunden? Der eine ist Dankbarkeit, das Gefühl zu haben, dass da auch ganz viel Gutes ist. Das hat mir geholfen. Das andere ist, obwohl ich nicht religiös bin, schon ein tiefer Glaube, zu wissen, dass man nicht das Maß aller Dinge, sondern in einen großen Kontext eingebettet ist. Das sind die beiden Dinge, die mich durch diese schwierige Zeit getragen haben und die mich jetzt durch mein Leben tragen. Im Übrigen denken viele Menschen, dass ich ständig auf die Vergangenheit schaue. Das stimmt nicht. Mein Blick richtet sich nach vorne.

Vielen Dank für das Gespräch!

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