
Die Entfremdung
Die Distanz zwischen Politikern und Bürgern ist groß – und nimmt weiter zu. Unter anderem, weil die Politik keine Antwort auf geänderte Lebensrealitäten findet. Weil sie, wie etwa Erhard Busek konstatiert, „schlichtweg die Sprache der Bürger und die Sicht für die wahren Probleme verloren“ hat. Und weil in Österreich eben vieles angekündigt, aber nur wenig umgesetzt wird. Eine Bestandsaufnahme in mehreren Punkten.
Ob es nun am Desinteresse am politischen Geschehen liegt oder an einer zunehmenden Aversion gegenüber Parteien und Politikern – Fakt ist, dass die Distanz zwischen Bürgern und Politikern in den vergangenen Jahren sukzessive größer geworden ist. Empirisch belegbar ist die wachsende Entfremdung jedenfalls mit einem Rückgang der Wahlbeteiligung auf allen Ebenen. Und belegbar ist sie auch mit den Ergebnissen der Meinungsforschung. Das Institut GfK erhob vor wenigen Monaten das Vertrauen der Österreicher in 33 verschiedene Berufsgruppen. Ergebnis: Nur jeder Fünfte vertraut noch den Politikern, keine andere Berufsgruppe in unserem Land hat eine derart miserable Reputation. Im jüngsten Vertrauensindex lag Werner Faymann auf dem drittletzten Platz – mit einem negativen Wert. Soll heißen: Die Mehrheit der Österreicher misstraut dem Bundeskanzler – und damit auch der österreichischen Bundesregierung. Politikwissenschaftler Fritz Plasser spricht von einem „massiven Vertrauensverlust in Österreichs politische Elite“. Zwar seien die Politiker auch in früheren Zeiten nicht unbedingt die Lieblinge der Nation gewesen, „aber über die Jahre hinweg lässt sich nochmals eine zunehmende Enttäuschung, eine Desillusionierung beobachten“.
Herbe Kritik
Simone ist 44 Jahre alt, Unternehmerin, wohnt in Bregenz. Von den Politikern hat sie schlichtweg genug. „Die schweben in eigenen Sphären“, sagt sie, „man hat das Gefühl, dass sich die Politiker in einer eigenen Welt bewegen. Denen geht es nur um den eigenen Machterhalt und schon längst nicht mehr um Land und Leute.“ An der Politik ist die Unternehmerin interessiert, sie informiert sich, schaut Nachrichten, liest Zeitschriften. Aber einer Partei oder einem bestimmten Politiker die Stimme geben? „Das ist vorbei.“ Michael aus Lauterach, 37 und Angestellter, geht längst nicht mehr zur Wahl, beteiligt sich an keinem Wahlgang, weder auf Gemeinde- noch auf Landes- oder Bundesebene. „Das bringt doch alles nichts, das sind doch alles dieselben“, sagt er, „egal, wer da oben steht, ändern tut sich doch nichts.“ Und nennt weitere Vorbehalte gegenüber der Politik: „Im Gegensatz zu den Menschen hat sich ein Politiker doch noch nie überlegen müssen, ob eine Mietwohnung zu teuer ist oder ob ein zweites Kind überhaupt drin ist. Von den Sorgen der Menschen haben die doch keine Ahnung.“
Sippenhaftung
Nun gibt es zwar durchaus noch viele, die eine bessere Meinung von der Politik haben. Aber Simone und Michael sind, auch was ihr Wahlverhalten betrifft und ihre grundsätzliche Kritik am Parteiensystem, nicht alleine. Politik und damit Demokratie findet ohne sie statt. Auch in Vorarlberg sind bei vielen Wahlen die Nichtwähler längst die stärkste Partei geworden. Auch dies ist ein Trend, der sich verstärkt: Die Politiker werden immer stärker in Sippenhaft genommen – ohne Rücksicht auf die Wahlebene, ohne Rücksicht auf die jeweilige Funktion. Das trifft engagierte Politiker genauso wie nicht engagierte, das trifft den in einer Gemeinde ehrenamtlich Tätigen genauso wie den gut bezahlten Nationalrat. Auch in den Kommunen sinkt die Wahlbeteiligung. „Nutzt ja sowieso nichts“, sagen sich viele Nichtwähler. Und irren: In Bludenz hatten 27 Stimmen die Stichwahl entschieden, in Hohenems 121. Plasser sagt, dass sich nur noch ein Drittel der Menschen irgendwie mit einer bestimmten Partei emotional identifizieren kann. Früher waren das zwei Drittel. Der Rückgang mag auch daran liegen, dass sich die Parteien entideologisiert haben. In der hohen Parteipolitik regiert der Pragmatismus, nicht mehr die Überzeugung. Es spricht Bände, dass im Vorjahr der von Verteidigungsminister Gerald Klug verwendete Ausdruck „situationselastisch“ zum österreichischen Wort des Jahres gekürt wurde. Günther Pallaver, Politikwissenschaftler an der Universität Innsbruck, sagt: „Die Parteien sind aufgrund einer Erosion von Ideologie und Konfession heute zu Allerweltsparteien geworden, mit unverbindlichen, breiten Programmen, die möglichst alle ansprechen sollen.“ Für den Bürger sind die verschiedenen Parteien damit aber auch nicht weiter unterscheidbar. Und die Wahlverweigerer sagen: „Das sind doch alles dieselben.“ Mitgefangen, mitgehangen.
Ankündigung, keine Entscheidung
Was kürzlich in der Steiermark passiert ist und im Burgenland, nährt freilich weitere Vorbehalte in der Bevölkerung. Denn der nach den Landtagswahlen in beiden Bundesländern entstandene Eindruck ist, dass die Politik nur am eigenen Machterhalt interessiert ist und an nichts anderem. In der Steiermark wurde ein Wahlverlierer Landeshauptmann, im Burgenland verabschiedete sich die SPÖ von einem alten Parteidogma, um mit Hilfe der FPÖ an der Macht bleiben zu können. Alte Aussagen hatten in beiden Fällen keine Gültigkeit mehr. Pallaver führt die wachsende Distanz auch auf die Diskrepanz zwischen Ankündigungs- und Entscheidungspolitik zurück. Die Tatsache, dass die Politik vieles in Aussicht stellt, aber nur wenig umsetzt, wirke sich immer gravierender aus. In Österreich werden Reformen im Bildungs- und Gesundheitswesen, in der Verwaltung, am Arbeitsmarkt, im Abgaben- und Steuersystem angekündigt, zerredet, fallengelassen. Die Debatte um das Bundesheer ist das beste Beispiel: Man ließ die Österreicher abstimmen, kündigte pathetisch Reformen an – und heute hat das Militär nicht einmal mehr das nötige Geld, um den desolaten Fuhrpark zu reparieren. „Die Zweifel, dass Politiker Probleme lösen können, werden sukzessive größer“, sagt Plasser. Der Innsbrucker Soziologe Max Preglau erklärt: „Die Politik ist zu einem Ritual verkommen, das von der Substanz her nichts mehr oder nur noch sehr wenig bewegt.“ Der Soziologe skizziert aber auch einen möglichen Ausweg: „Sobald die Politik wieder spürbar greifen würde, hätte sie die Chance, verloren gegangenes Vertrauen wieder zurückzugewinnen.“
Kein Leadership
Nun gibt es auch Forscher und Wissenschaftler, die sagen, dass sich die Distanz zwischen Bürgern und Politikern nicht verändert habe, sondern immer schon groß gewesen sei. Der Wiener Meinungsforscher Peter Hajek ist beispielsweise dieser Ansicht. Hajek zufolge ist insgesamt das Vertrauen in Institutionen rückläufig und die Politik nur eine dieser Institutionen. Und doch, schränkt Hajek ein, gebe es neue Schwächen der heutigen Politik: „In Österreich gibt es heute nichts mehr zu verteilen. Der ökonomische Zenit ist überschritten. Trotzdem meinen Politiker nach wie vor, sie müssten den Menschen etwas versprechen.“ Und wenn man die Politik früher und heute schon vergleiche, dann falle noch negativ auf: „Erfolgreiche Politiker haben früher geführt. Und Themen besetzt. Und sind auch dafür eingestanden.“ Franz Vranitzky habe diese Qualität gehabt, ebenso Wolfgang Schüssel. „Und das wird von der Bevölkerung honoriert.“ Denn Menschen würden von „denen da oben“ eben auch verlangen, dass sie führen und den Kurs vorgeben: „Es fehlt heute an Führung, es fehlt heute an Leadership.“ Kritisiert wird das von vielen. Der gebürtige Dornbirner Sigi Menz, Chef des Ottakringer-Konzerns, hatte jüngst in einem Gastbeitrag für den „Standard“ geschrieben, dass „der Zustand des politischen Wachkomas“ sich bereits in der realen Wirtschaft manifestiere. Kabarettist Alfred Dorfer sagte: „Im Treibsand des Tagesgeschäfts verschwinden sogar die wenigen gut gemeinten Ansätze. Die einzig verbleibende Strategie ist es, in Schockstarre zu verfallen.“
Die Sprache
Für Erhard Busek, den einstigen Vizekanzler der ÖVP, hat „die Politik die Sprache der Bürger verloren und auch die Sicht für die Probleme“. Welcher Politiker, welche Partei präsentiere denn wirklich konkrete Vorschläge zur Bewältigung der Arbeitslosigkeit oder für die im Gegensatz zu Deutschland schwächelnde Wirtschaft? Die aktuelle Asyldebatte, sagt Busek, sei jüngster und guter Beweis für ein Thema, das von den Politikern an den Menschen vorbei diskutiert werde. Auch Plasser sieht massive Kommunikationsprobleme der Politik. Kein Spitzenpolitiker agiere heute ohne Kommunikationsberater: „Diese Professionalität hat aber Qualität und Substanz der politischen Kommunikation verändert.“ Politiker würden in Interviews ausweichen, vielfach auf Fragen keine Antwort geben, sich in Phrasen ergehen „und aus Alltagssicht gravierende Probleme entweder nicht zur Kenntnis nehmen oder wegreden“. Plasser spricht von einer Verweigerung der Realität und sagt: „Die Kluft zwischen der Alltagswahrnehmung der Menschen und dem, was Politiker sagen, wird immer größer.“ Meinungsforscher Peter Hajek rundet die Sache mit einer Anekdote ab. Ein Politiker habe ihm, dem Berater, gesagt: „Wir müssen kommunizieren.“ Er, Hajek, habe den Politiker gefragt: „Und was?“ Und der Politiker antwortete: „Egal, Hauptsache Kommunikation.“
Neue Lebenswelten
Hauptsache Kommunikation? In einer großen deutschen Studie wurde jüngst der Zusammenhang zwischen dem Wahlverhalten und der sozialen Situation erhoben. Ergebnis? Je höher die Arbeitslosenquote, je schlechter das Wohnumfeld, je geringer das formale Bildungsniveau und die Kaufkraft der Haushalte, umso niedriger die Wahlbeteiligung. Die Autoren kamen zum Schluss, dass es eine „ernstzunehmende Entfremdung“ zumindest zwischen bestimmten Bevölkerungsgruppen und der Politik gebe. Auf österreichische Verhältnisse lässt sich das übertragen. Da wie dort findet die Politik keinen Zugang zu bestimmten Schichten, stößt auf Ablehnung oder bestenfalls Gleichgültigkeit. Eine funktionierende Kommunikation zwischen Politikern und Bürgern gibt es nicht. Es gibt gar keine. Plasser verweist auf die beiden rasch wachsenden Wiener Bezirke Donaustadt und Floridsdorf: „Die Menschen, die dort wohnen, sind für die Politiker nicht mehr erreichbar, sie sind nicht einmal mehr ansprechbar.“ Plasser spricht gar von einem „schieren Unvermögen der Politiker und Parteien, sich diese neuen Lebenswelten in unserer immer differenzierteren Gesellschaft überhaupt vorstellen zu können“ – geschweige denn ein entsprechendes Angebot zu machen.
Die Medien
Zur Distanz tragen freilich auch die Medien bei, maßgeblich der Boulevard, der etwa der Wiener Politik den Kurs diktiert. Die „Zeit“ hatte ihre jüngste Titelgeschichte dem Journalismus gewidmet und dabei geschrieben: „Statt Orientierung und Aufklärung zu liefern, wie es eigentlich ihre Aufgabe ist, statt einzuordnen und abzuwägen, ziehen die Journalisten nach dem Gemetzel mit der Medienkarawane einfach weiter, und auf der Strecke bleibt ihre eigene Glaubwürdigkeit.“ Im Interview mit „Thema Vorarlberg“ hatte der deutsche Sozialdemokrat Peer Steinbrück zuletzt den Medien zumindest eine Mitschuld an der Entpolitisierung der Gesellschaft gegeben: „Sie suchen das Spektakuläre und tragen damit zur Banalisierung und Skandalisierung der Politik bei. Vor allem im Internet wird durch geöffnete Schleusen entsetzlicher Schund gepumpt.“ So offen wie Steinbrück reden freilich nur wenige Politiker – in Österreich wäre bislang keiner in Erinnerung. Vielmehr fügt sich die Politik. Und erkauft sich Zustimmung. Busek sagt übrigens, dass das diesjährige Budget der Stadt Wien für den Presse- und Informationsdienst mit 100 Millionen Euro dotiert ist – viel Geld, um weitere Vorbehalte zu nähren.
Und wo soll das enden? Bei einer weiteren Fortschreibung der Entfremdung prognostiziert Busek „eine Art Krisenentwicklung der Demokratie“. Pallaver spricht vor einer Spirale, die sich da in Gang setze: „Sinkendes Vertrauen führt zu einer Beschädigung der demokratischen Institutionen. Man misstraut den Politikern, damit auch dem Parlament, der Demokratie und dem Rechtsstaat.“ Der frühere deutsche Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hatte 2013 eindringlich gewarnt: „Es wird gefährlich für die Demokratie, wenn Desinteresse, Unzufriedenheit, Verdruss der vielen mit einer Demokratieverachtung der Eliten zusammentrifft.“ In Deutschland scheint man dem Problem der Entfremdung entgegenwirken zu wollen. Kanzlerin Angela Merkel hat jüngst einen breit angelegten Bürgerdialog gestartet. Von der Wiener Bundespolitik sind derartige Aktivitäten bis dato nicht überliefert.
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