Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Die große Beschleunigung

Februar 2022

Der Kognitionspsychologe und Buchautor Christian Stöcker (49), Professor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg, sagt im Interview, dass sich die Welt in einer Phase der permanenten Beschleunigung befinde, der Mensch aber äußerst schlecht sei, das Konzept exponentiellen Wachstums auch zu verstehen. Ein Gespräch mit dem „Spiegel“-Kolumnisten über Veränderungsmächte, kognitive Verzerrungen – und „Menschen, die in einem Zustand der permanenten Fiktion leben“.

Herr Stöcker, Sie sagen mit Blick auf die Zukunft: „Wir sind das Experiment. Nur scheinen wir das noch nicht so richtig verstanden zu haben.“ Wie ist das gemeint?
Wir haben uns eine Welt geschaffen, die sich exponentiell verändert, an ganz vielen Fronten, sind gleichzeitig aber psychologisch extrem schlecht darin, exponentielle Veränderung zu verstehen. Also lautet das Experiment: Schafft die Menschheit es in dieser von ihr selbst versehentlich konstruierten Versuchsanordnung, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen? Oder stolpern wir in unseren eigenen, selbstgemachten Untergang?

Was exponentielles Wachstum ist, verdeutlichen Sie in Ihrem Buch an einem Beispiel.
Es ist ein Gedankenexperiment: Zwei Personen gehen jeweils 30 Schritte. Die eine Person macht normale Schritte, kommt also ungefähr 30 Meter weit. Die zweite Person aber macht exponentielle Schritte: Jeder Schritt ist doppelt so lang wie der vorangegangene. Wie weit kommt Person zwei damit? Was glauben Sie? Die Antwort ist: Ziemlich genau 27mal um den Globus. Das ist exponentielles Wachstum. Aber wenn man diese Frage den Menschen stellt, dann liegen sie mit ihren Schätzungen grundsätzlich weit daneben …
 
Dabei ist dieses Verständnis wichtig, oder? Sie schreiben ja, abseits von Corona sei nur wenigen bewusst, wie stark Exponentialfunktionen die Geschicke der Menschen auch sonst bestimmen …
Corona hat es in die Nachrichten geschafft, weil es unmittelbare gesellschaftliche Auswirkungen hat. Klar. Eine Person steckt zwei an, der Rest folgt dem Muster wie bei den 30 Schritten. Dabei reicht es bereits, wenn eine Person im Schnitt nur 1,1 andere Personen ansteckt. Dann bekommt man auch schon exponentielles Wachstum. Das ist der berühmte R-Wert. Daneben gibt es aber eine unglaubliche Vielzahl von Exponentialfunktionen, die uns permanent umgeben und die sich alle immerzu immer weiter beschleunigen. Das gilt für technologische, wirtschaftliche und ökologische Entwicklungen. Ein Konsortium aus vielen hundert Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, das seit Jahren entsprechende Indikatoren beobachtet, hat diesem historisch einmaligen Vorgang den Begriff gegeben: die große Beschleunigung. Beobachtet werden 24 Indikatoren – sozioökonomische Faktoren wie etwa der Tourismus oder die Telekommunikation und ökologische Faktoren wie etwa der CO2-Eintrag in die Atmosphäre oder der Stickstoff-Eintrag in Küstengewässer. 

Wann begann diese Phase der großen Beschleunigung?
Ungefähr Mitte des 20. Jahrhunderts. Damit verbunden ist auch der Begriff des Anthropozäns, der das Zeitalter des Menschen beschreibt. Denn der Mensch ist zu einem Einflussfaktor von in geologischen Zeiträumen ausgeprägter Relevanz geworden. In Bezug auf das Artensterben hat der Mensch in etwa die gleiche Größenordnung erreicht, wie der Asteroid, der vor 66 Millionen Jahren die Dinosaurier ausgerottet hat.

Sie sagen, dass die große Beschleunigung das Leben eines jeden einzelnen Menschen beeinflusse. Aber der Mensch, registriert er denn diese große Beschleunigung?
Hat man selbst das Gefühl, in einer Welt zu leben, die sich ununterbrochen beschleunigt? Ich glaube, diese Frage sollte jeder Leser, jede Leserin dieses Gesprächs für sich selbst beantworten. Die meisten dürften diese Beschleunigung nur mit dem technologischen Fortschritt verknüpfen. Dass sie aber auch an allen anderen Ecken stattfindet, das ist den meisten Menschen meiner Meinung nach nicht bewusst. Und ich finde es relativ verrückt, dass wir uns zwar in einer menschheitsgeschichtlich einzigartigen Phase der permanenten, immer weiter zunehmenden Beschleunigung befinden, aber die meisten Menschen nicht einmal wissen, dass diese Phase überhaupt existiert. Das ist ein riesiges Problem. Man würde sich ganz anders mit der Zukunft beschäftigen, wenn einem klar wird, dass das, was heute noch wahr ist, übermorgen wahrscheinlich schon nicht mehr stimmt.

Sie schreiben, dass der Mensch versuche, die Zukunft auf Basis des Status Quo vorherzusagen; es allerdings gar keinen Status Quo mehr gebe.
Der Status Quo! Im Zusammenhang mit der Pandemie sagen viele, dass man jetzt ja ganz gerne mal wieder zur Normalität zurückkehren möchte. Es gibt aber in einer Welt, die sich exponentiell verändert, keine Normalität. Die Welt ist in stetem Wandel. Doch wir Menschen leben in einem Zustand der permanenten Fiktion. Als ob es so ein ‚heiles Gestern‘ gäbe, zu dem man nur zurückkehren müsste – und dann ist alles wieder gut. Das ist eine von der Realität entkoppelte, absolut utopische Vorstellung. 

Sie sagen zudem, dass die Diskussion, wie wir in Zukunft leben möchten, häufig „extrem verzerrt“ sei. Und diese Verzerrung erklären Sie aus der Psychologie.
Da spielen eine ganze Reihe psychologischer Faktoren eine Rolle. Einer dieser Faktoren ist das, was man im Alltag Nostalgie nennen würde. Es ist ein adaptiver, psychologischer Mechanismus zu sagen: Früher war alles besser. Der Mensch hat sich über Jahrtausende die sehr nützliche Strategie zugelegt, sich lieber an das Positive zu erinnern und nicht an das Negative. Wenn beispielsweise ein Säbelzahntiger ein Sippenmitglied zerfleischt hat, dann war es für die anderen Mitglieder der Sippe besser, dieses schreckliche Ereignis verblassen zu lassen. Ansonsten wären sie über Jahre hinaus traumatisiert gewesen und in einer Depression versunken. Nostalgie ist also ein psychologischer Grundmechanismus, der den Menschen davor bewahrt, beim Gedanken an die Vergangenheit zu verzweifeln. 

Auch beim Umgang mit den – wie Sie es nennen – sieben Veränderungsmächten?
Gemeinsam werden folgende sieben Veränderungsmächte unseren Planenten in den nächsten 20 Jahren in einer extrem schwer vorhersagbaren Weise verändern: Digitalisierung. Maschinelles Lernen. Biotechnologie. Klimakrise. Artensterben. Wirtschaftswachstum. Bevölkerungswachstum. Auch wenn sich möglicherweise nicht alle dieser Faktoren exponentiell verändern, – bis spätestens Ende des 21. Jahrhunderts wird die Weltbevölkerung wieder schrumpfen –, spielen exponentielle Prozesse eine entscheidende Rolle. 

Sie skizzieren da wirkmächtige Felder. Aber was beispielsweise die Digitalisierung betrifft, stellen Sie auch fest, dass ein Problem der heutigen Zeit „bewusste Ignoranz“ sei. 
Ich habe viele Jahre als Technik- und als Wissenschaftsjournalist gearbeitet und bin da oft auf Leute aus dem klassischen Bildungsbürgertum gestoßen, die natürlich alle einen Computer und ein Smartphone haben. Aber die sagen nicht nur augenzwinkernd, sie hätten ‚von dem ganzen Zeug keine Ahnung‘; nein, die brüsten sich geradezu damit, sich diesen bösen, technokratischen Entwicklungen zu verweigern. Das sind Menschen, die sich in der Ablehnung des Neuen gefallen, im Grunde wohl wissend, dass es völlig unmöglich ist, alleine mit dieser Ablehnung irgendwie dafür zu sorgen, dass es aufhört. Gerade in eher geisteswissenschaftlich geprägten Kreisen gibt es so eine gewisse selbstzufriedene Ignoranz gegenüber den Dingen, die gerade die Welt verändern. Vielleicht zum ersten Mal seit der Aufklärung ist es nicht nur akzeptabel, sondern mancherorts sogar ein bisschen cool, von dem, was gerade die Welt verändert, absolut nichts zu verstehen. Das ist fatal. Denn natürlich brauchen wir auch diejenigen, die sich intensiv mit – beispielsweise – Geschichte und Ethik befassen; wir sehen ja deutlich, was passiert, wenn wir diese Felder ausschließlich den Technokraten aus dem Silicon Valley überlassen.

Mit der Schilderung der KI-Systeme beginnt der dystopische Teil Ihres Buches. Wenn Sie nur die Gegenwart skizzieren, was diese Systeme heute bereits alles können …
Dystopisch? So klar würde ich das nicht sagen. Was im Moment im Alltag unter Künstlicher Intelligenz verstanden wird, ist ein bisschen irreführend. Denn maschinelles Lernen ist relativ präzise: Das sind Maschinen, die aufgrund von Daten, mit denen man sie füttert, selbst zu Lösungsvorschlägen oder zu Vorhersagen kommen können. Das wird etwa in der Meteorologie oder in anderen Bereichen schon seit längerer Zeit gemacht, ist in den vergangenen Jahren aber unheimlich vorangekommen. Wir hätten beispielsweise keine Corona-Impfstoffe, wenn es nicht solche Fortschritte im maschinellen Lernen gegeben hätte. Eine weitere Veränderungsmacht ist die Biotechnologie. Lernende Maschinen erstellen Prognosen, was lebende Zellen oder Teile von lebenden Zellen möglicherweise anstellen werden, wenn man sie auf bestimmte Art und Weise konstruiert. Lernende Systeme können uns also helfen. Aber natürlich gibt es auch Problematisches.

Beispielsweise?
Am öffentlich Sichtbarsten ist das an der digitalen Öffentlichkeit. Soziale Medien wie Facebook sind lernende Maschinen, die immerzu ihr gesamtes Publikum beobachten und dazu bringen, noch mehr Zeit mit ihnen zu verbringen. Die Qualität von Informationen ist dabei keine Messgröße. Es geht nur um Engagement, also Interaktion. Und wenn man lernende Maschinen auf soziale Systeme loslässt, dann wird das richtig problematisch. Unabhängig von diesen Themen stellt sich aber auch ein philosophisches Problem: Es ist mittlerweile schon so, dass lernende Maschinen Lösungen erarbeiten, die ihre eigenen Schöpfer nicht mehr nachvollziehen können. Ein Beispiel sind Proteinstruktur-Vorhersagen.

Sie illustrieren das im Buch auch anhand eines Spieles.
Go, ein asiatisches Brettspiel, ist viel komplexer als Schach. Es galt für Computer lange Zeit als unspielbar, weil es sich nicht durchrechnen lässt. Man braucht Intuition. Im März 2016 kam es zum Duell zwischen dem damals weltbesten Go-Spieler, dem Südkoreaner Lee Sedol, und der von „Deepmind“ entwickelten lernenden Maschine „AlphaGo“. Ergebnis: Die Maschine hat den Menschen vernichtend geschlagen. Das war eine Art Urknall für diese Technologie. Diese Maschine hat ein von Menschen über zweieinhalb Jahrtausende lang gespieltes Spiel überwiegend gegen sich selbst gelernt und dabei Strategien entwickelt, auf die Menschen in zweieinhalbtausend Jahren nicht gekommen sind. Ich habe damals mit einer professionellen Go-Spielerin telefoniert. Und sie hat einen Satz gesagt, den ich immer wieder zitiere: „Alpha-Go hat Züge gemacht, die ein Mensch nie machen würde.“

Aber das ist doch bereits eine Dystopie. 
Nein. Das wäre es nur dann, wenn wir uns davon verabschieden würden, verstehen zu wollen. Dystopisch wäre es, zu sagen, demnächst wacht eine Maschine auf, entwickelt ein Bewusstsein und unterjocht die Menschheit. Natürlich: Wenn die Menschheit es schaffen würde, eine KI, also ein lernendes System, zu bauen, das sich allgemeine Intelligenz in unserem menschlichen Sinne aneignen könnte und beispielsweise Zugriff auf das Internet als Ganzes hätte, dann könnte diese KI selbstständig immer weiter lernen und würde selbstständig in rasendem Tempo immer besser und immer noch schlauer und immer noch universeller werden. Ein solches System würde dem Menschen rasend schnell enteilen. Darüber wird zwar viel gesprochen, aber ich halte das für ein unrealistisches Szenario. Das ist von unserer derzeitigen Situation weit entfernt.

Zurück zur Gegenwart, Beispiel Klimakrise. Liegt denn in der schonungslosen Deutlichmachung dessen, was ist, die Chance auf eine gute Zukunft?
Auf jeden Fall! Extremwetter-Katastrophen werden in der öffentlichen Wahrnehmung jetzt endlich kausal mit der Klimaveränderung in Zusammenhang gebracht. Und jedes weitere Extremwetter­ereignis macht den Menschen klarer, dass es bereits drei Minuten vor zwölf ist. Erkenntnisse aus der Psychologie sickern jetzt, wenn auch leider nur sehr langsam, in die Allgemeinbildung ein. Zum Beispiel das Wissen um die kognitiven Verzerrungen: Was uns alles im Weg steht, wenn wir glauben, rational zu handeln. Wir machen beim Denken viele Fehler. Und viele dieser Fehler betreffen unmittelbar das, was wir mit unserem Planeten anstellen. Das Gute aber ist, dass wir diese psychologischen Grundlagen nun kennen. Noch nie wusste die Menschheit so viel über ihre eigenen Schwächen. Darin liegt auch die Hoffnung: Verständnis ist der erste Schritt, etwas ändern zu können.

Nur die Exponential-Funktion, so lautet Ihr Schluss im Buch, könne uns retten …
Das klingt jetzt vielleicht paradox nach all den bedrohlichen Dingen. Aber: Es gibt auch Exponential-Funktionen, die uns helfen können. Ein Beispiel? Seit zehn, zwölf Jahren wächst die installierte Photovoltaik-Kapazität auf dem Planten Erde exponentiell. Und gleichzeitig fallen die Preise für den damit erzeugten Strom exponentiell. Einer Studie der Nachrichtenagentur Bloomberg zufolge ist es mittlerweile in Deutschland wirtschaftlicher, ein neues Photovoltaik-Großkraftwerk zu bauen als ein vorhandenes Kohlekraftwerk weiterzubetreiben. Und das klingt doch gut, oder?

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person 

Christian Stöcker* 1973 in Würzburg, ist Kognitionspsychologe und seit 2016 Professor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Er leitet dort den Studiengang „Digitale Kommunikation“. Als Experte für digitale Öffentlichkeit beriet Stöcker unter anderem den deutschen Bundestag. Zuvor leitete der studierte Psychologe das Ressort „Netzwelt“ bei Spiegel Online, ist dort nach wie vor regelmäßiger Kolumnist. Von Stöcker unter anderem erschienen ist auch das Buch „Nerd Attack!“ (2011).

Lesetipp!  

Christian Stöcker, „Das Experiment sind wir“, Karl Blessing Verlag, München, 2020.

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