Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Die Mär von der gespaltenen Gesellschaft

Juni 2022

Steffen Mau (53), wehrt sich in einem aktuellen Essay gegen das gängige Narrativ, die Gesellschaft sei gespalten. Empirische Befunde würden dem widersprechen, sagt der Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin im Interview: „Wir befinden uns nicht in einer Welt von zwei konträren Lagern.“ Ein Gespräch über die Zwei-Welten-Theorie, politische Unternehmer – und die Verantwortung der Medien.

Herr Mau, die Schriftstellerin Eva Menasse hatte bei einer Rede 2019 von einer gesellschaftlich omnipräsenten „gleißenden Wut“ gesprochen und gesagt: „Im schlimmsten Fall sind wir bald keine Gesellschaft mehr, sondern nur noch ein loser Verbund hochaggressiver Interessensgruppen.“ Teilen Sie Menasses Warnung? 
Es gibt in gewisser Weise eine ungute Entwicklung. Die Ränder radikalisieren sich, wir sehen durch neue Kommunikationsformen und durch neue soziale Medien auch eine Intensivierung des Konflikts, eine Erhitzung des Konflikts. Aber wir bewegen uns nicht auf eine gespaltene Gesellschaft zu, in der sich Probleme überhaupt nicht mehr lösen ließen. 

Nicht?
Nein. Es ist nicht so, als hätte sich unsere Gesellschaft bereits in fundamental auseinanderdividierende Lager aufgeteilt, als hätten wir nur noch Grabenkämpfe. Wir befinden uns nicht in einer Welt von zwei konträren oder miteinander in Konflikt stehenden Gesinnungslagern. Die Gesellschaft ist nicht konfliktfrei oder konfliktarm, dieses Gegenbild würde in die Irre führen, aber die Pufferzone der Gesellschaft, diese Welt des Dazwischen, ist weitaus größer als allgemein angenommen.

Dennoch ist ständig die Rede von der gespaltenen Gesellschaft. Sie stellen in einem Essay mit kritischem Unterton fest, dass ohne die Diagnose der Polarisierung heute nichts mehr gehe, keine Auseinandersetzung um das Klima, um Corona oder das Gender-Sternchen.
Die These der gesellschaftlichen Polarisierung ist prominent, sie überzeichnet allerdings gewisse Entwicklungen. Es heißt, wir hätten bereits etwas, das ich ‚die Kamel-Gesellschaft‘ nenne: Polarisiert, zerstritten, symbolisiert durch die beiden Höcker, mit einem großen Graben dazwischen. Dem stelle ich das Bild ‚der Dromedar-Gesellschaft‘ entgegen: Wir haben eine Normalverteilung, die meisten Menschen befinden sich in der Mitte des Meinungsspektrums, die meisten haben zu den meisten Themen moderate Einstellungen.

Dennoch, sagen Sie, sei ‚die Zwei-Welten- Theorie‘ in der Wissenschaft wie im Feuilleton das gängige Narrativ der Gegenwartsgesellschaften …
Man könnte hunderte Überschriften großer deutschsprachiger Medien zitieren, hunderte Artikel, in denen von einer bereits gespalteten Gesellschaft die Rede ist und von zwei idealtypischen Lagern, die sich da gegenüberstehen sollen, die Lager der Kosmopoliten und der Kommunitaristen. Im Prinzip versucht diese Zwei-Welten-Theorie zwei unterschiedliche Lager zu beschreiben, zwei Gruppen, die in wechselseitiger Abneigung aufeinander bezogen sind. Die eine Fraktion verkörpert jeweils das, was die andere im Kern ablehnt. Die einen sind für Öffnung und Diversität, die anderen wollen am Alten festhalten; die einen stellen ihre Weltläufigkeit, Toleranz und Offenheit aus, die anderen setzen auf Verteidigung von Tradition, auf Diversitätsabwehr und auf die Schutzfunktion von Grenzen. 

Sie beschreiben das mit dem Ausdruck: „Kulturkampf im Raum der Ungleichheiten.“
Ja. Diese Konflikte, so wird gesagt, sind stärker wertebasiert als bisherige rein ökonomische Verteilungskonflikte. Es geht um Weltbilder, um Lebensformen, um Identitäten. Zugleich sind diese Konflikte aber auch sozial strukturiert: Es gibt ein kosmopolitisches Oben und ein kommunitaristisches Unten. Kosmopoliten gelten in der Regel als Menschen mit höherer Bildung und besserem Einkommen, Kommunitaristen dagegen als die mit kleinerem Portemonnaie und geringerer Bildung. So ist das eben nicht nur ein reiner Wertekonflikt, es geht auch um einen kulturellen Konflikt im Raum der Ungleichheit. Allerdings sind die Konfliktlinien weder so stark auskonturiert noch so klar erkennbar wie dieses idealtypische Bild suggeriert. Die allermeisten von uns passen nicht in diese stilisierten Charaktermasken. Wir sind sowohl Kosmopoliten wie Kommunitaristen; wir vereinen unterschiedliche gesellschaftspolitische Orientierungen, die beiden Lagern zugeordnet werden können. Ein Beispiel? Die meisten sagen: ,Migration kann bereichernd und wirtschaftlich notwendig sein, vollständig offene Grenzen machen aber keinen Sinn.‘

Sie schreiben, es gebe einige Gründe, warum man „mit pauschalierenden Polarisierungsdiagnosen zurückhaltender“ sein sollte. Als da wären?
Empirische Gründe. Eine Lagerbildung lässt sich an den empirischen Befunden nicht ablesen. Schaut man beispielsweise auf die Einstellungen zur Globalisierung, zum Klimawandel, zur Migrationsfrage oder zur Homosexualität, so sind die Muster der Veränderung über die Zeit viel differenzierter, als es die Polarisierungsthese vermuten lässt. Man sieht fast keine verstärkte Polarisierung, im Gegenteil, manchmal sind die Gruppenunterschiede auch geringer geworden. Was beispielsweise das Umweltbewusstsein angeht, so sind es heute, anders als in den 1980er Jahren, nicht mehr nur Personen mit hoher Bildung und höherem Einkommen sowie jüngere Personen, die um die Umwelt besorgt sind. Vielmehr ist das Umweltbewusstsein in die gesamte Gesellschaft diffundiert. 

Die allermeisten von uns passen nicht in diese stilisierten Charaktermasken.

Und was ist mit der Pandemie? Brachte auch Corona keine Spaltung der Gesellschaft?
Hier gibt es durchaus eine Abkehr vom Konsens, allerdings betrifft dies auch wieder eine überschaubare Gruppe. Inwieweit sich das verfestigt, können wir noch nicht sagen. Das hängt auch davon ab, wie sich diese Gruppen über das eine Thema hinaus konstituieren. 

Wenn sich an empirischen Befunden keine Spaltung der Gesellschaft ablesen lässt, woher gewinnen wir dann den Eindruck der zunehmenden Polarisierung?
Wir gewinnen dieses Bild aus der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung, sprich: aus den Medien und dort über Konflikte im politischen Raum. Man darf diese Art von Konflikten aber nicht mit der Meinungslandschaft in der Bevölkerung verwechseln. Denn in den Medien kommt es sehr häufig zu einer Überbetonung der Extrempositionen und damit auch zu einer Verzerrung des Konfliktbildes; es bekommen jene Themen Nachrichtenwert, die kontrovers sind oder von einer bestimmten Norm abweichen. Aus dieser Perspektive entsteht dann der Eindruck, dass wir doch in einer stark gespaltenen Gesellschaft leben. 

Das heißt, die Medien verstärken die Rufe der Ränder? Und nur deswegen haben wir das Gefühl, die Gesellschaft sei gespaltener denn je?
Genau. Es ist letzten Endes eine Alltagsbeobachtung: An den Rändern wird lauter gesprochen, die Medien verstärken diese Stimmen, eine öffentliche Kommunikation findet häufig nur über Themen mit hoher Kontroversität und hohem Konfliktpotenzial statt.
 
Medien bedienen randständige Themen, um die Empörungsgesellschaft zu füttern …
Wir sprechen da von Trigger-Punkten, also von Themen, auf die die Öffentlichkeit sehr stark reagiert, die aber nicht notwendigerweise etwas über die gesamten Meinungslandschaften in der Gesellschaft aussagen. Massenmedien, aber auch politische Unternehmer bedienen gezielt diese Trigger-Punkte, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Deswegen bespielen sie Konfliktthemen besonders stark. Wir sehen im internationalen Vergleich, dass überall dort, wo solche Themen sehr stark an die Öffentlichkeit und in den öffentlichen Diskursraum gebracht werden, die Tendenzen der gesellschaftlichen Polarisierung größer sind. 

Und das heißt dann wiederum?
Das heißt, dass die Themen nicht von der sozialen Struktur oder von gewissen Bevölkerungssegmenten hin zur öffentlichen Kommunikation gelangen, sondern dass die Wirkungsrichtung eher die gegenläufige ist: Die Themen gehen von den Medien und von bestimmten politischen Unternehmern zur Gesellschaft und können die dort vorhandenen Meinungsdifferenzen über die Zeit nochmals verstärken und politisch anheizen. Politik und Medien sind selbst die Produzenten von etwas, was sie als unabhängig von sich selbst zu beachten glauben. Dass uns die Beschreibungsbilder einer gespaltenen Gesellschaft plausibel vorkommen, hat auch damit zu tun, dass wir die fortwährende mediale und politische Inszenierung der Konflikte als Abbild realer Meinungslandschaften missverstehen.

Politik und Medien sind selbst die Produzenten von etwas, was sie als unabhängig von sich selbst zu beachten glauben.

Und weil wir laut dem Soziologen Luhmann – etwas verkürzt zitiert – alles, was wir wissen, aus den Massenmedien wissen, kommen wir zur Annahme, die Gesellschaft sei gespalten.
Genau! Das ist die zentrale Form der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung. Die Soziologie kann da aber ein Korrektiv bilden. Denn in den Massenmedien können wir nur Oberflächenphänomene beobachten, dort wird nicht die gesellschaftliche Substruktur abgebildet. Das Grundrauschen in der Bevölkerung ist häufig etwas anders als das, was in den Medien auftaucht und dort repräsentiert wird. Man sollte also daran erinnern, dass man durch aktivistische Äußerungen im medialen Raum oder Auseinandersetzungen auf Twitter oder auf Facebook nicht unbedingt etwas über Konfliktstrukturen in der gesamten Gesellschaft lernen kann, sondern dass da stets nur ein Teilausschnitt zu sehen ist. 

Es sollten sich Medien und Journalisten stärker bewusst sein, dass sie mit ihrer Berichterstattung auch Wirklichkeit kreieren?
Ja. Es bräuchte eine kritische Reflexionsschleife auf Seiten der Medien. In vielen Überschriften ist von Polarisierung die Rede, für die Artikel werden oft auch wissenschaftliche Studien herangezogen. Aber wenn man sich diese Studien dann genauer ansieht, dann sieht man, dass die Ergebnisse oftmals viel differenzierter sind als in der medial überspannten Art und Weise dargestellt. Es klingt in der Medienlogik offenbar besser, auszurufen, die Gesellschaft sei gespalten, als festzustellen, dass die Mitte einigermaßen gut zusammenhält und die Ränder relativ klein sind. Diese Feststellung hat offensichtlich einen zu geringen Nachrichtenwert.

Und die Folge: Je mehr von einer gespalteten Gesellschaft gesprochen und geschrieben wird, desto eher wird sie eines Tages auch Realität werden …
In der Tat, desto eher glauben wir daran und desto eher beziehen wir uns auch auf diese vermeintlichen Lager. Wenn uns jemand permanent sagt, wir gehören eigentlich den Kosmopoliten oder den Kommunitaristen an, dann ordnen wir uns natürlich selber irgendwann dem zu und wählen eine Bleibe. 

Wie könnte, wie sollte ein Fazit lauten?
Wir brauchen mehr Nüchternheit in der öffentlichen Debatte, wir brauchen mehr Erkenntnis über tatsächliche Veränderungen sozialstruktureller Art. Wir müssen Kompromissformeln finden und das Einende über das Trennende stellen. Wir sollten aber auch verstehen lernen, dass Streit eine Gesellschaft nicht nur auseinanderdividiert, sondern vielmehr auch Voraussetzung dafür ist, überhaupt Einigkeit herstellen zu können. Streit ist auch eine Vergesellschaftungsform, er führt nicht notwendigerweise dazu, dass uns die Gesellschaft um die Ohren fliegt.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Zur Person

Steffen Mau *1968 in Rostock, ist Soziologe und seit 2015 Professor für Makrosoziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Von Mau sind mehrere Bücher erschienen, zuletzt „Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert.“,
C. H. Beck, München 2021.
Der im Interview thematisierte, im März 2022 im „Merkur“ publizierte Essay von Mau trägt den Titel „Kamel oder Dromedar? Zur Diagnose der gesellschaftlichen Polarisierung.“

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.