Sabine Barbisch

„Die schlimmste Strafe für Kinder sind Eltern, die nicht lachen können“

Juni 2016

Jan-Uwe Rogge (69) hat über dreißig Bücher und unzählige Kolumnen geschrieben – und er ist einer der bekanntesten Erziehungsberater unserer Zeit. Im Interview mit „Thema Vorarlberg“ plädiert er für Humor und Gelassenheit in der Kindererziehung, denn „das Ergebnis von Erziehung ist ohnehin wirkungsunsicher“.

Wie lebt es sich als Mann, dem die Eltern vertrauen?

Ich arbeite nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern auch in Italien oder Hongkong. Es gilt, überall authentisch, klar und deutlich zu sein und sich auf die jeweilige Kultur der Erziehung einzulassen. Da gibt es nicht nur „die eine“, sondern ganz unterschiedliche. Wenn die Eltern jemanden haben, dem sie vertrauen können, weil er vom Kind ausgeht und sich auf die jeweilige Kultur und die Erziehungseinstellungen einlässt, dann hilft ihnen das. Man muss sich für die Menschen interessieren und nicht immer meinen, man hat alles im Griff – das ist das Allerwichtigste. Jede Kultur, auch jede Region, hat ihre eigenen Vorstellungen, die ernst genommen werden wollen. Natürlich gibt es allgemein verbindliche Regeln, wie den Respekt vor jeder Kultur und die Achtung vor den Mitmenschen.

Die Erziehung wird aber nicht nur von der jeweiligen Kultur oder Region, sondern auch von der handelnden Person, also in den meisten Fällen der Mutter, geprägt …

Ich halte regelmäßig Vorträge und Seminare im Bildungshaus Batschuns ab, dort ist die Hälfte der Zuhörer männlich. Ich denke, in den vergangenen zwei Jahrzehnten ist auch vieles anders geworden, Männer haben eine ganze Menge Erziehungsverantwortung übernommen. Wenn ein Stück von der Erziehungsverantwortung an den Mann, den Vater, abgegeben wird, ist das wichtig und großartig, und ich muss nicht immer alles bei mir behalten. Die Väter machen es nicht besser, sondern anders – und Kinder lieben dieses Anderssein.

Trotzdem verbringen Mütter auch heute noch doppelt so viel Zeit mit ihren Kindern wie Väter …

Solche Zahlen sagen gar nichts aus, wichtig ist eine Beziehung zum Kind und nicht die zusammen verbrachte Zeit. Manchmal ist eine Beziehung zu einem Kind, die nur kurz ist, wichtiger als eine längere. Ein Kind braucht seine Eltern – also Vater und Mutter. Dieses „Brauchen“ drückt sich in Beziehung aus, in einem „zueinander sein“, in dem Gefühl „ich nehme dich so, wie du bist“. Väter können das manchmal anders als Mütter und umgekehrt – aber keiner macht es besser als der andere.
In Ihren Vorträgen fallen Beschreibungen wie „pädagogisch hyperaktive Eltern“ oder „Hardcore-Mütter“. Übertreiben es Eltern mit ihren Erziehungsambitionen?
Wenn ich mir Eltern anschaue und sehe, wie fertig manche sind, dann denke ich: Ich muss sie aufbauen, sonst drehen sie mir durch. Und nein: Erziehung ist kein Hochleistungssport.

Und dennoch verstehen es viele so …

Eltern sitzen in meinen Vorträgen und sehen so gefangen aus – so kaputt, zusammengefaltet, zusammengefallen. Man sieht in ihren Augen, dass sie denken: Womit habe ich das verdient? Was alle eint: Man will mit seinen Kindern alles richtig machen und es auf keinen Fall so machen wie die eigenen Eltern. Gesünder wäre es, sich zu fragen, was haben meine Eltern richtig gemacht, und nicht nur, was sie falsch gemacht haben.

Wenn wir weg von der Perspektive der Erwachsenen gehen – was für Eltern wünschen sich Kinder?

Johann Wolfgang von Goethe sagte: „Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.“ Heute sind Eltern nicht mehr bereit, die Wurzeln zu sein. Ich erlebe, dass Eltern die Nummer „forever young“ machen. „Eltern sein“ leitet sich aus „älter werden“ ab. Das heißt auch, bereit zu sein, schlichtweg älter zu werden – und zwar gemeinsam mit dem Kind. Kinder wollen keine Eltern, die für immer jung sein wollen, sondern Eltern, die Erfahrungen gemacht haben und darauf auch aufbauen können. Diese Erfahrungen sind nur dann ein Problem, wenn sie als Besserwisserei missverstanden werden. Kurz: Eltern sind der Hafen, in den die Kinder einfahren können, wenn ein Sturm tobt.

Ob windstill oder stürmisch – wie gelingt eine gute Erziehung?

Aristoteles sagte 600 v. Chr: „Wenn du ein pflegeleichtes Kind willst, zeuge es bei Südwind.“ Viele Eltern warten auf diesen Südwind (lacht). Den selbst auferlegten Perfektionismus hinter sich zu lassen, ist ein ganz zentraler Gedanke, den auch Eltern akzeptieren müssen. Denn das Ergebnis von Erziehung ist wirkungsunsicher: Du weißt nicht, was rauskommt. Für Eltern gehört es dazu, nicht alles im Griff zu haben.

In Zeiten von ideologischen Diskussionen um Erziehungsstile ist es keine leichte Übung, diese Gelassenheit an den Tag zu legen …
Ich habe deshalb bewusst Aristoteles angesprochen. Wenn man sich mit Kindererziehung beschäftigt, zieht sich der Gedanke, alles im Griff zu haben, durch viele Jahrhunderte durch. Mag sein, dass der Erziehungskult in den vergangenen hundert Jahren heftiger geworden ist, aber dieser Gedanke ist in allen Kulturen sichtbar. Gerade in industriell geprägten Erziehungskulturen hat das unter anderem mit dem Erreichen und Erhalten von Wohlstand zu tun. Da wird Wohlstand mit Produktion gleichgesetzt, und man meint, Kinder so erziehen zu können, wie Waren hergestellt werden.

Was ist nun die ideale Erziehung?

Es gibt nichts Ideales. In diesem Zusammenhang gibt es einen wichtigen Satz aus der indischen Philosophie: „Man schaut dem Gras beim Wachsen zu“ – und eben nicht: Man zieht am Grashalm, damit er schneller wächst. Würde man am Grashalm ziehen, würde er reißen und entwurzeln. In diesem Sinne, bedeutet Erziehung die Begleitung der Kinder ins Leben. Wo Kinder in ihrer Entwicklung beschleunigt werden, werden sie krank, weil sie nicht angenommen werden, wie sie sind.

Inwiefern äußert sich das bei Kindern?

Das fängt schon früh an, wenn sich Kinder im körperlichen Bereich nicht wohlfühlen. Pädagoginnen berichten, dass Kinder nicht mehr klettern oder balancieren können; sie stehen im wahrsten Sinne des Wortes also nicht mit beiden Beinen im Leben. Das Wort „verstehen“ kommt auch von „stehen“, in der Theorie Pestalozzis heißt das: Die intellektuellen Erfahrungen kommen nach den körperlichen. Kinder sollen also viel spielen und ihren Körper erproben. Im bekannten Lied „Hänschen klein“ geht Hänschen allein – Hänschen wird nicht gefahren! Es ist wichtig, zu den elementaren Dingen zurückzukehren.

Gehört auch der Humor zu diesen elementaren Dingen?

Der Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi schrieb schon 1790: „Lache drei Mal am Tag mit deinem Kind.“ Ich füge hinzu: Lache über dich, über das Kind, lacht gemeinsam. Lachen erschüttert, lachen bricht mit selbstherrlichen Gewohnheiten, und das Wichtigste: Kinder lieben Eltern, die lachen. Die schlimmste Strafe für Kinder sind Eltern, die nicht lachen können, weil sie so selbstgewiss sind. Ich versuche, Eltern mit meinem Humor im guten Sinne zu erschüttern. Durch Erschütterungen entstehen Freiräume, entsteht Platz für neue Ideen – solche Eltern möchten Kinder haben.

Das ist der Idealfall. Immer ist Eltern wahrscheinlich nicht zum Lachen zumute …

Der Dichter Novalis schrieb einst von den „Mühen der Ebene“, wo du keine Oase siehst und man sich nur darüber freuen kann, dass es irgendwann wieder eine Oase gibt. Aus dem Humor kann man Kraft für diese Mühen der Ebene schöpfen. Ja, manchmal gibt es nichts zu lachen, aber die Hoffnung, dass wieder eine Oase auftaucht. Wichtig für alle Eltern ist, dass sie sich ihr eigenes Leben schaffen und nicht immer um das Kind herumturnen. Es gibt wunderschöne Zeiten ohne Kinder, die man nur für sich selbst hat.

Ist das nicht egoistisch?

Ich sage meinen Seminarteilnehmern oft: Es ist gut, dass die Kinder nicht dabei sind, seid froh, genießt heute das Essen – ohne das blödes Gerede der Kinder (lacht). Ich bin seit vierzig Jahren Erziehungsberater und sage den Eltern: Genießt heute vier Stunden nur für euch. Und dann geht nach Hause und genießt das Kind. Es gibt kein „entweder – oder“, sondern ein „sowohl als auch“. Ich zitiere hier wieder den Pädagogen Pestalozzi, der meinte, „wenn es mir gut geht, geht es den Kindern gut“. Für Mütter und Väter gilt es, sich selbst zu stärken und bei sich zu sein. Wenn ihnen das gelingt, sind sie auch beim Kind – das ist der zentrale Gedanke. Wenn ich mich selbst so annehme, wie ich bin, kann ich auch das Kind so annehmen, wie es ist – und eben nicht, wie ich es gerne hätte.

Das klingt nach einer großen Herausforderung …

Ja, wenn aus den Partnern Eltern werden, ist das ein Wahnsinnsschritt. Es gibt auf einmal nicht mehr Ich und Du, sondern Vater, Mutter und Kind. Das ist eine richtig heftige Veränderung! Viele haben Schwierigkeiten, wenn aus der Partnerschaft eine Elternschaft wird. Auch wenn ihr Eltern seid, gebt der Partnerschaft immer noch Raum. Sorgt dafür, dass diese Beziehung gelingt! Viel zu viele Mütter und Väter nehmen das nicht wahr, dass sie immer noch Partner sind, dass sie die Kinder auch einmal abgeben und sich als Mann und Frau ein geiles Wochenende gönnen können – ohne an die Kinder zu denken.

Haben sie diesbezüglich Erfahrungen mit Vorarlberger Eltern?

Die Vorarlberger sind, was die Zeit ohne Kinder betrifft, wesentlich weiter, als man denkt; aber das ist auch im Ländle von Ort zu Ort unterschiedlich (lacht). Leute, die gerne in meine Seminare kommen, sollen so einen Tag genießen. Ich sage ihnen: Fahrt danach nicht gleich nach Hause, unternehmt etwas, geht gut essen. Viele empfinden das als sehr angenehm. Manchmal braucht’s eben diesen Schubs von außen. Sie sagen dann: „Ich würd’s ja nicht machen, aber wenn’s der Rogge sagt …“ (lacht). Es ist also nicht leicht, aber einfach.

Der Familienbegriff hat sich generell stark gewandelt. Was bedeuten diese Umbrüche wie neue Lebens- und Familienformen für die Erziehung und Entwicklung von Kindern?

Egal, ob Patchwork, alleinerziehend oder Vater, Mutter und Kind – wichtig ist, dass sich jede Familie annimmt, wie sie ist. Jedes dieser Konstrukte hat ihre Aufgaben anzunehmen und Herausforderungen zu meistern. Ein Idealkonstrukt für eine Familie gibt es nicht – das hat es übrigens auch noch nie gegeben! Schon gar nicht im Ländle: Schauen sie sich den Bregenzerwald an – wie viele Kinder von den Eltern früher weggegeben wurden, damit die Familie überleben kann. Oder Kinder, die nach Schwaben zum Arbeiten geschickt wurden. Wir müssen aufhören mit der „perfekten Familie“ oder ideologischen Idealkonstrukten. Familie war immer eine Herausforderung – es war niemals alles glatt und wunderbar. Lassen wir die Kirche also im Dorf – früher war nicht alles besser!

Das Bild der perfekten Familie hält sich dennoch konstant. Haben Sie deshalb ein Buch mit dem Titel „Warum Raben die besseren Eltern sind“ verfasst?

Raben haben eine besondere Eigenschaft: Wenn sie das Gefühl haben, dass ihr Nachwuchs flügge ist, schmeißen sie ihn aus dem Nest. Das sollte auch für Menschen gelten: Wenn die Kinder flügge sind, sollten sich die Eltern auf sich selbst besinnen. Es ist zentral, Kinder auch gehen zu lassen, wenn sie ausziehen wollen. Genauso wie aus Paaren Eltern werden, wenn ein Kind dazukommt, müssen aus Eltern auch wieder Partner werden – das ist ein Lernprozess.

Was, wenn dieser Lernprozess nicht gelingt?

Fällt es den Eltern schwer, die Kinder ziehen zu lassen, passiert etwas, was gerade im Ländle oft zu sehen ist: Es wird im eigenen Haus ausgebaut oder angebaut. Das passiert nach dem Motto „du musst zu Hause bleiben“ oder „ihr könnt nicht einfach gehen“. Dann haben wir eine Terrorgemeinschaft.

Ein harter Begriff …

Mit Terrorgemeinschaft meine ich, dass man sich das Leben gegenseitig schwer macht, weil man keine Grenzen kennt und sich ungut abgrenzt. Manche Eltern gehen so sehr in der Erziehung auf, dass sie ihre Vornamen vergessen – das ist ein Problem, wenn Papa Mama fragt und seine Frau nicht beim Vornamen nennt.

Wie können Familien dieser negativen Entwicklung entgehen?

Man muss sich bewusst sein, was man macht, dann entgeht man auch den Fallen. Wenn man aber zu einer ungesunden Symbiose aufgeht, dann entstehen Fallen. Das Wichtigste ist, sich von Anfang an klar zu sein, dass man auch als Eltern nicht nur Mama und Papa, sondern auch Frau und Mann ist. Und: Es gibt ein Leben und Aufgaben jenseits der Erziehung. Ein letzter Gedanke: Mir hat der kleine Fritz neulich gesagt: „Wenn Mama und Papa sich mehr angucken würden, würden sie mich nicht mehr sehen.“ Kinder haben ein perfektes Gespür dafür, wie es anders laufen kann – das macht es so verdammt spannend mit ihnen!

Vielen Dank für das Gespräch!

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