Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Diese Gefahr besteht durchaus“

Juli 2020

Felix Butzlaff (38), Politikwissenschaftler an der Wirtschaftsuniversität Wien, erklärt im Interview, was die Pandemie am bisherigen Verständnis von Demokratie verändert hat – und warum in Krisenzeiten Regierungen nicht infrage gestellt werden.

Hat Sie die Preisgabe bürgerlicher Freiheiten in Zeiten der Bedrohung gesorgt?
Ich mag nicht von einer Preisgabe sprechen, das hieße ja, dass wir unsere bürgerlichen Freiheiten endgültig und nicht nur temporär aufgegeben hätten. Die Maßnahmen selbst haben mich nicht beunruhigt. Mich hat eher der Umstand gesorgt, dass nur sehr wenig thematisiert wurde, wie lange diese Maßnahmen aufrecht bleiben sollen und ob nicht doch so etwas wie ein schleichender Gewöhnungszustand eintreten könnte. 

Es sprach seit Ausbruch der Pandemie aber kaum jemand von möglichen Auswirkungen auf die Demokratie. Wird das in der öffentlichen Debatte einfach verdrängt?
Verdrängt würde ich nicht sagen. Die Auswirkungen auf die Demokratie sind zeitlich nachrangig, sie sind nicht so unmittelbar sichtbar wie die Auswirkungen auf die Wirtschaft beispielsweise. Wir werden auch länger brauchen, um die Folgen für die Demokratie ganz zu verstehen. Wird sich die Art und Weise, wie Bürger eingebunden werden, künftig neu austarieren? Wie gehen wir damit um, dass Demokratien unter fortschreitender Globalisierung vermeintlich immer schneller reagieren müssen, wie man jetzt auch an der Pandemie gesehen hat? Antworten auf diese Fragen hätten klarerweise manifeste Folgen da­rauf, wie Demokratien funktionieren und wie in Demokratien auch Interessen eingespeist werden können. Antworten auf diese Fragen könnten mitunter auch zu einer Entmachtung von Parlamenten führen. Entsprechende Vorsicht wird also geboten sein, in der Beurteilung, ob das die Veränderung ist, die wir alle gerne haben wollen – oder das Gegenteil. 
Breit thematisiert wurden diese Fragen bisher nicht.
Die Frage, ob wir diese Diskursgesellschaft, in der öffentlich und mit Argumenten um Interessen und Positionen gerungen wird, noch wollen, ob wir sie noch haben können und haben sollen, das ist in der Tat eine Frage, die mir noch zu selten gestellt wird. Denn das Verständnis davon, was eine gute und eine möglicherweise anzustrebende Demokratie ist, hat sich zwar immer schon gewandelt; ich beobachte allerdings, dass sich dieses Verständnis jetzt noch ein bisschen schneller verschiebt.

Sie haben ja geschrieben, die Pandemie habe gezeigt, dass „das bisherige Verständnis der Überlegenheit von Demokratie als Diskursgesellschaft möglicherweise überholt ist“.
Medien und Politiker haben zunächst wie gebannt nach China geblickt, um zu sehen, wie eine autoritäre Gesellschaft mit einer solchen Situation umgeht. Die stampfen innerhalb weniger Tage ein Krankenhaus aus dem Boden! Die riegeln ganze Millionenstädte ab! Unsere Vorstellung davon, dass wir in der Demokratie alle Interessen ausgleichen und dann irgendwann zu einer Entscheidung kommen können, ist in der Pandemie zu einer Absurdität geworden. Da hatte man das Gefühl, man müsse innerhalb eines sehr kurzen Zeitraumes sehr weitreichende Entscheidungen treffen. Und da war durchaus die Meinung zu vernehmen, autoritäre Regime könnten das möglicherweise viel effizienter. Nämlich ohne Parlamente, Opposition oder andere Vetospieler berücksichtigen zu müssen. Die Pandemie hat beschleunigt, was mit den 1980er-Jahren schleichend begonnen hat: Das Gefühl, dass die Demokratie nicht mehr in der Lage ist, mit der Geschwindigkeit der Entwicklung von globalisierter wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Komplexität Schritt zu halten. 

Menschen suchen nicht das politische Experiment oder die Alternative, wenn es bedrohlich wird.

Und was ist die Erkenntnis, was die Konsequenz aus dieser Situation?
Die Erkenntnis? Dass seither in sehr vielen Diskussionen, medial wie politisch, die Effektivität von parlamentarischen Regimen, mitunter auch von rechtsstaatlicher Gewaltenteilung, in frage gestellt wird. Das ist ja auch etwas, was die Regierungen in Österreich und in vielen anderen westlichen Ländern nicht nur implizit, sondern zum Teil auch ganz explizit so suggeriert haben: Wenn wir in dieser Situation versuchen, im Parlament mit der Opposition Argumente auszutauschen, dann dauert das ewig, dann kommen wir nie zu einer Lösung. Die Situation brauche viel zu viel Geschwindigkeit, als dass wir das parlamentarisch oder sogar öffentlich diskutieren könnten, das wurde suggeriert und akzeptiert. Die Vorstellung davon, wie Demokratien über Parlamente und öffentlichen Diskurs funktionieren sollten, hat in dieser Pandemie dramatisch an Überzeugungskraft und an Legitimität eingebüßt.

Demokratie braucht Zeit, ist das den Menschen zu wenig bewusst?
Ich glaube, das ist den Menschen – zumal in Österreich – sehr wohl bewusst. Denn hier hat sich mit dem fein austarierten System aus Sozialpartnern, Parlamentsclubs und Lagerdenken eine Demokratie etabliert, in der jede Seite stets mit am Tisch saß und Gehör fand. Was lange ein unglaublich erfolgreiches Rezept war, hat sich hier in Österreich aber seit den 1980er-Jahren zu einem Eindruck verfestigt, dass Demokratie nur mehr verzögerte und verwässerte Kompromisse und enorm langsame Entscheidungsfindung bis hin zur Vetternwirtschaft bedeutete.
Der Erfolg der FPÖ seit damals kann auch über dieses Gefühl erklärt werden. Insofern ist die Zeitkomponente für den Wandel von Demokratievorstellungen zentral – aber eben als Eindruck, dass die westeuropäischen Varianten parlamentarischer Interessenrepräsenta­tion möglicherweise nur allzu langsam handeln können und angesichts immer schnellerer Entwicklungen globalisierter Volkswirtschaften ins Hintertreffen geraten.

Sie haben in diesem Zusammenhang festgestellt: „Krisen sind Zeiten der Exekutive.“
Die Vertrauenswerte der Regierungen sind mit der Pandemie in so gut wie in allen europäischen Ländern, auch in den USA zumindest zu Beginn, signifikant angestiegen, und das bereits mit den ersten Bildern aus Italien. Menschen suchen nicht das politische Experiment oder die Alternative, wenn es bedrohlich wird. Sie wenden sich dann an den oder die bereits mit Macht Ausgestatteten, in der Hoffnung, dass er oder sie das in irgendeiner Art und Weise in den Griff bekommt. Das sieht man auch an ganz vielen Stellen in der Geschichte. Das führt an vielen Stellen quasi naturwüchsig zu einem Vertrauensgewinn der Exekutive. Existenzielle Bedrohungen sind keine Phasen, in denen Regierungen infrage gestellt werden.

In den Monaten seit März haben Autoritäten auch die Situation genutzt, ihre Kontrolle und Autorität über die Gewaltenteilung auszubauen.

In unsicheren Zeiten steigt also das Vertrauen in Autoritäten?
Hat das Corona auch gezeigt?

Ja. Und das ist nicht nur eine österreichische Beobachtung, wenn Sie einmal nach Polen, Ungarn schauen. In den Monaten seit März haben Autoritäten auch die Situation genutzt, ihre Kontrolle und Autorität über die Gewaltenteilung auszubauen. Auch hier in Österreich gibt es ja Entwicklungen, die von manchen in diese Richtung gedeutet werden: Die fortwährende Infragestellung der Unabhängigkeit der Justiz, das Eingliedern der Kommunikation der Statistik Austria in die Regierungsagenda. In Krisen werden die Räume für Autoritäten größer, weil sie eben nicht infrage gestellt werden. 

Sie sagen auch, die Politik habe in dieser Zeit Entscheidungen für die Bürger und nicht mit den Bürgern getroffen, ein bedeutsamer Unterschied …
Man hatte in der Pandemie schon rein zeitlich die demokratischen Standards nicht einhalten können, die man sich zuvor ja selbst gesetzt hatte, gerade bei weitreichenden Entscheidungen. Aber der Umstand, dass die Politik Entscheidungen für die Bürger und nicht mit den Bürgern trifft, ist nicht neu; das ist vielmehr eine Entwicklung, die gerade im Zuge der Digitalisierung immer offensichtlicher wird. Denn das Verständnis, was politische Partizipation eigentlich ist und wofür wir politische Partizipation überhaupt brauchen, verschiebt sich immer weiter. Regierungen in aller Welt greifen immer stärker auf digitale Daten zurück, um Entscheidungen auch als demokratisch zu legitimieren. Denn digitale Daten sind viel umfassender, widerspruchsfreier, störungsfreier als Wahlen oder Partizipationsformate, in denen Menschen willentlich ihre Meinung abgeben. 

Droht eine Zukunft, in der sich die Politik nur noch als Daten-Verarbeiter und nicht mehr als Ausführer des deklarierten Volkswillens versteht?
Ich glaube, dass diese Gefahr durchaus besteht. Und zwar indem man die Verarbeitung von Daten als die Verarbeitung des Volkswillens missinterpretiert. Das ist ja das Versprechen einer Politik, die auf Digitalisierung zugreift: dass sich der Volkswille viel effizienter herausfinden lässt, wenn man nicht nur alle paar Jahre die Wähler befragt, sondern das Verhalten und die Präferenzen der Menschen in Echtzeit beobachtet. Die Sorge kann man also durchaus auch sehr laut haben, dass diese Form der digitalisierten Politik in eine Datenverarbeitung mündet, die jedenfalls unser Verständnis davon, wie in einer Demokratie Volkswillen umgesetzt wird, möglicherweise sehr stark wandelt.

Also, was bleibt nach Corona von der Demokratie? Welches Fazit ließe sich denn da ziehen?
Zunächst einmal, dass Staaten mit einem gut ausgestatteten und effizienten öffentlichen Sektor solche Herausforderungen bis dato besser meistern als andere. Aber die Erkenntnis, dass Demokratie natürlich nie starr sein kann, sondern sich immer verändern wird, die hat die Krise jetzt nochmals besonders deutlich bestätigt. Demokratien müssen immer damit ringen, dass sich die Erwartungen an das, was als demokratisch empfunden wird, fortwährend verändern und verschieben. Demokratien müssen deswegen immer auf der Suche nach Antworten bleiben, wie sie diesen sich ändernden Erwartungen auch formal entsprechen. Die Krise hat aber noch etwas deutlich gemacht: dass die zentralen Prämissen, die einer Demokratie seit jeher innewohnen, dass jeder gehört wird und Interessen über Kompromisse ausgeglichen werden, durch die Betonung von Effizienz und Reaktionsgeschwindigkeit sehr schnell und sehr stark unter Druck geraten können. Und dass wir uns vor diesem Hintergrund sehr eingehend Gedanken darüber machen müssen, wie wir zukünftig sicherstellen, dass die Offenheit und auch die Reversibilität demokratischer Entscheidungen verteidigt werden. Damit meine ich die alten demokratischen Versprechen, dass möglichst alle auch tatsächlich Eingang finden und dass Entscheidungen auch nach Abwägung wieder revidiert werden können. 

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person

Felix Butzlaff (38) ist Politikwissenschaftler und Universitätsassistent am Institut für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit (IGN) an der Wirtschaftsuniversität Wien. Er forscht zum Wandel von Demokratien und zur Entwicklung politischer Parteien und sozialer Bewegungen. Zuletzt ist von ihm erschienen: Ingolfur Blühdorn, Felix Butzlaff, Michael Deflorian, Daniel Hausknost, Mirijam Mock: Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit. Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet, Bielefeld: Transcript Verlag 2020.

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