Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Dieser blind laufende Zwang, sich zu steigern!“

Mai 2017

Hartmut Rosa (52) hat nach eigenem Bekunden über zehn Jahre lang an „Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung“ geschrieben. Im Interview mit „Thema Vorarlberg“ spricht der Soziologe und Politikwissenschaftler über sein Werk, die Entfremdung des Menschen von der Politik, über moderne Gesellschaften – und über das Problem der steten Beschleunigung.

Die Politik bewege sich in anderen Sphären, entfernt und entfremdet sich von den Bürgern, heißt es vielfach. Leidet die Politik unter Resonanzmangel, Herr Rosa?

Das scheint eine der Zentralwahrnehmungen zu sein. Heute verlaufen die politischen Gräben in vielerlei Hinsicht nicht mehr zwischen Rechts und Links und kaum mehr zwischen inhaltlichen Ebenen, nicht mehr zwischen Säkularem und Religiösem oder zwischen Bürgerlichen und Proletariern, sondern zwischen der Politik – dem politischen Establishment – und den Bürgern. Das war beim Brexit so, das war bei Trump erst recht so. Der neue Graben verläuft zwischen Volk und Politik; ich glaube, das hängt auch damit zusammen, dass Menschen das Gefühl haben, Politik sei nicht mehr das Instrument der Gestaltung unserer gemeinsamen Lebenswelt. Die Politik erscheint nur mehr als Erfüllungsgehilfe blinder Imperative – nicht mehr als Schrittmacher gesellschaftlicher Entwicklungen, sondern als hinterherhinkende, sich durchwurstelnde Feuerwehr; bedingt auch durch die dynamische Stabilisierung.

Was heißen soll?

Ein Problem moderner Gesellschaften ist, dass sie ihre Strukturen nur durch Steigerung erhalten können. Wir müssen wachsen, wir müssen beschleunigen, wir müssen innovieren, und das jedes Jahr. Wenn wir nächstes Jahr nicht schneller laufen als dieses Jahr, wenn wir nicht innovativer sind und mehr Wachstum erzielen, dann können wir unsere Firmen nicht erhalten, die Arbeitsplätze nicht erhalten, den Sozialstaat nicht erhalten. Wir müssen uns steigern, um so zu bleiben, wie wir sind. Und das hat zur Folge, dass sich politische Energien in der Regel darauf bündeln, diese Steigerungslogik aufrechtzuerhalten; eine Steigerungslogik, die die Menschen aber häufig als Zwang und als Zumutung erfahren. Und dadurch verlieren sie das Vertrauen in die Politik als ihr Gestaltungsinstrument und nehmen Politik als eine ihnen gegenüberstehende feindliche Macht wahr.

In Ihrem Buch heißt es: ‚Wenn Bürger sich nicht nur als Empfänger der sie bindenden Regeln und Gesetze verstehen, sondern auch als deren Autoren, erfahren sie die Ordnung als zivilgesellschaftliche Resonanzzone.‘

Die Institutionen, denen wir unterworfen sind, treten uns als äußere Instanzen entgegen, als irgendwie von irgendwelchen Politikern gemachte Rechte oder oft auch als Ergebnis historischer Kämpfe und Auseinandersetzungen, mit denen wir nichts zu tun haben und die kollektiv längst vergessen sind. Demokratie ist allerdings das wunderbare Versprechen, dass Gesetze und Institutionen uns nicht einfach unverbunden gegenüberstehen. Die Idee der Demokratie ist, jedem Bürger und jeder Bürgerin eine Stimme zu geben, die sie hörbar machen und in ein politisches Geschehen einbringen können, das die Institutionen erzeugt und formt. In diesem Verständnis stünden Regeln, Gesetze und Institutionen mit uns in einem Antwortverhältnis, in einem Resonanzverhältnis. In der Alltagserfahrung erscheint der Staat den Bürgern aber nicht als das Eigene, sondern als das Fremde – der Staat wird als das wahrgenommen, was uns limitiert, was uns gängelt, manipuliert, womöglich sogar ausbeutet.

Sie schreiben, der Resonanzdraht zwischen Politikern und Bürgern sei wechselseitig blockiert.

Lassen Sie mich zur Grundhaltung einer Resonanzbeziehung etwas sagen. Resonanz ist eine bestimmte Art, mit der Welt, man kann auch sagen, mit dem Leben in Kontakt und Beziehung zu treten. Und wir sind dann in Resonanz miteinander, wenn wir den anderen oder die anderen hören. Der eine sagt etwas, der andere antwortet, mit seiner eigenen Stimme. Nun haben immer mehr Menschen das Gefühl, die Politik sehe sie nicht mehr, höre sie nicht mehr, nehme sie gar nicht mehr wahr. Die Politik erscheint stumm, sie adressiert den einzelnen Menschen nicht mehr. Der Mensch erfährt sich nicht mehr als wirksames politisches Subjekt, es ist kein Resonanzverhältnis mehr da. Die Folge ist eine tiefe Frusterfahrung, die ich allerdings als Entfremdungserfahrung deute: Menschen wollen sich wieder hörbar machen, wollen sich wieder eine Stimme geben. Man kann das, was man Rechtspopulismus nennt, als Reaktion auf den blockierten Resonanzdraht in der Politik und zur Politik verstehen; ich verweise auf Stimmen für die FPÖ in Österreich, für die AfD in Deutschland, für die SVP in der Schweiz. Allerdings sind die Reaktionen auf beiden Seiten schädlich, weil sie Resonanz nicht herstellen, sondern erst recht vernichten.

Inwiefern?

Im politischen Diskurs wird überhaupt nicht mehr gehört und die Demokratie damit weiter beschädigt. Weil die Linken rechts nur Faschisten und Rassisten und Antisemiten sehen; und die Rechten in den Linken wiederum nur Volksverräter und Volksfeinde. So wird die Bereitschaft, den anderen zu hören, den anderen ernst zu nehmen, auf den anderen zu reagieren und sich im Diskurs auch zu wandeln, auf beiden Seiten unterlaufen. Ein Teil der Ursache liegt freilich darin, dass die Vorschläge der – ich nenne sie pauschal jetzt einmal so – Rechtspopulisten in der Regel zerstören, was sie suchen. Wenn Resonanzmangel das ist, was den Prozess auslöst, dann wäre die Antwort, die Fähigkeit des Hörens und Antwortens wieder herzustellen. Aber die Rechtspopulisten zielen darauf, dass sie alle anderen Stimmen stumm machen wollen, alle anderen Stimmen ausschalten und wegsperren wollen. Mit der Ablehnung von allem, was auch nur irgendwie anders ist, verliert man allerdings die Fähigkeit, eine andere Stimme zu hören. Und letzten Endes verliert man auch die Fähigkeit, die eigene Stimme zu entwickeln, wenn man das Volk nur noch als identitäres Ganzes denkt, in dem es nur noch eine Stimme, keine anderen Stimmen mehr zu hören gibt. Der Versuch, alles andere auszuschließen, ist nicht das, was uns politische Resonanz und wahre Demokratie wiederbringen kann.

Sie warnen in diesem Zusammenhang, dass die politische Resonanzsucht der Menschen fatale Folgen zeitigen könne – und machen diese Warnung an Historischem, aber auch an Gegenwärtigem fest.

Am historischen Faschismus kann man sich das deutlich machen. Diese bange Wahrnehmung des Menschen, dass er unverbunden ist, sich wie ein isoliertes, nicht adressiertes, sich nicht hörbar machen könnendes Atom in einer weiten Welt fühlt, löst durchaus Panik aus, vielleicht auch berechtigte Panik. Und da gibt es zwei Weisen, darauf zu reagieren: Entweder will man Resonanzfähigkeit zurückgewinnen. Oder man gibt sich Fusionsvorstellungen hin. Und ich glaube, dass man diese Fusionsvorstellungen historisch bei den Faschisten am deutlichsten sehen konnte. Die Nationalsozialisten wollten nicht ein anderes hörbar machen, sie wollten alles andere ausschalten. Die Juden, die Slawen, die Kommunisten, die Behinderten – ich brauche nicht alle aufzuzählen –, alle sollten stumm gemacht werden. Es sollte nur noch eine einzige Stimme geben, eine einzige Stimme, die im Führer repräsentiert war. Die zu überwindende Sehnsucht, die Isolation, die Vereinzelung des Menschen schlugen so in ein fatales antiresonantes Geschehen um, in dem alles andere nicht mehr gehört, sondern alles andere repulsiv vernichtet wurde. Das Individuum verlor seine Stimme, die Stimme des Einzelnen ging auf in dem Schrei: ‚Wir sind das Volk!‘ Die Nationalsozialisten sagten, es gehe in der Welt nur um fressen oder gefressen werden, vernichten oder vernichtet werden. Deshalb sprachen Goebbels und all die anderen ja immer davon, dass man sich selbst und allen anderen mit mitleidloser, rücksichtsloser Härte begegnen müsse. Gemeint war: Man muss Resonanzfähigkeit systematisch ausschalten, man hat nur die eine, die stumme Weltbeziehung einzunehmen. Und dieses repulsive, also auf Abstoßung beruhende Weltverhältnis teilen Nationalsozialisten meiner Meinung nach tatsächlich mit den heutigen Rechtspopulisten.

In welchem Sinn?

In dem Sinn, dass die Basis das Ressentiment ist: ‚Wir wollen diese anderen alle nicht.‘ Die Gefahr ist groß, dass aus der Suche nach Resonanz, aus dem Verlangen nach Resonanz, nicht Resonanzräume entstehen, sondern Echoräume, in denen nicht ein anderes gehört wird, auf das man antwortet und sich dabei transformiert; sondern in denen das eigene so verstärkt werden soll, dass kein anderes mehr Platz hat; dass alles andere ausgeschaltet werden soll. Das aber ist im Kern keine Resonanzbeziehung zum Leben und zur Welt, das ist eine Repulsionsbeziehung, eine total feindliche – die allem anderen in sich und in anderen feindlich begegnet.

Lassen Sie uns noch ein Thema Ihres Buches ansprechen. Sie schreiben, die Beschleunigung als Problem lasse sich exemplarisch an den großen Krisentendenzen studieren, an der ökologischen, der demokratischen Krise, auch an wachsenden Burnout-Raten ...

Wir haben das zuvor schon kurz berührt: Dass moderne Gesellschaften sich nur dynamisch stabilisieren können, bedeutet, sie sind systematisch auf Wachstum, Beschleunigung und die Steigerung von Innovationsleistungen angewiesen, um sich in ihrer Struktur zu erhalten. Und dieser permanente Zwang, dieser blind laufende Zwang, sich zu steigern – zu beschleunigen, um das zu erhalten, was wir haben – erzeugt massive Folgewirkungen in den Lebens- oder Weltbereichen, die sich eben nicht beschleunigen lassen. Etwa in den Ökosphären: Die Natur hat ihre Eigen-Zeiten. Und die überschreiten wir systematisch, indem wir etwa Wälder schneller abholzen als sie nachwachsen können oder Gewässer schneller leerfischen, als sie die Fische reproduzieren können oder eben auch Emissionen in einem Tempo ausstoßen, das zu hoch ist für die Natur, um sie natürlich abbauen zu können. Es kommt zu einer Desynchronisation in der Ökosphäre. Dasselbe gilt für die Politik. Auch die politische Krise ist eine Desynchronisationskrise. Denn der demokratische Prozess des Hörens und des Antwortens ist ein extrem zeitaufwendiger Prozess. Und die Märkte stellen diese Zeit nicht zur Verfügung – die verlangen schnelle Reaktionen und es kommt ergo zu einer Desynchronisation von Politik und Ökonomie. Auch Burnouts kann man als Desynchronisation zwischen der menschlichen Psyche, oder, wenn sie es altmodisch haben wollen, der Seele, und sozialem Geschehen beschreiben. Der blind laufende Steigerungszwang führt uns in einen Verdinglichungsmodus, der immerzu auf Effizienzmaximierung ausgerichtet ist, auf Optimierung, auf Verfügbarmachung. Der permanente Zwang zur Steigerung in allen Lebensbereichen unterläuft und untergräbt tendenziell die Möglichkeiten eines resonanten Lebensverhältnisses.

Sie verwenden da den schönen Satz: ,Man ist gezwungen, immer schneller zu laufen, um seinen Platz in der Welt halten zu können.‘ Überfordert das Tempo Mensch und Gesellschaft?

Man muss da vorsichtig sein. Wir wissen aus der historischen Perspektive, dass Menschen sehr variabel sind, dass sie sich auf höhere Geschwindigkeiten einstellen können und das keineswegs nur als negativ erleben. Als die Eisenbahn erfunden wurde, dachte man, 30 Stundenkilometer sei das Äußerste an Geschwindigkeit, was einem Menschen zumutbar sei; es gab medizinische „Belege“ dafür, dass das Gehirn bei höheren Geschwindigkeiten nicht mitkomme, sich gar erweiche und damit abbaue. Soll heißen: Natürlich können Menschen lernen, höhere Geschwindigkeiten zu gehen. Aber es gibt absolute Grenzen – kulturelle Grenzen, ökologische Grenzen, Grenzen in unserem Körper, die wir allenfalls durch Fusion mit Computertechnologien überschreiten können. Manche Geschwindigkeiten werden wir nur noch transhumanistisch erreichen können, wenn wir das bisherige Menschsein aufgeben, indem Mensch und Computer verschmelzen. Aber, ja, ich glaube, dass wir durch zu hohe Geschwindigkeiten ganz bestimmt die Resonanzfähigkeit untergraben.

Sie sind ein vielbeschäftigter Mann, nahmen sich allerdings für die ,Tage der Utopie’ in Vorarlberg Zeit. Warum gerade für diese Veranstaltung?

Wir brauchen unbedingt einen Sinn dafür, dass ein „anderes-in-der-Welt-Sein“ möglich ist, dass eine andere Lebensform möglich ist, nämlich eine, die nicht in diesem permanenten Steigerungszwang steht, sondern eine, die dieses Resonanzversprechen in der Moderne verwirklicht. Dafür brauchen wir Utopien und Alternativen. Und im Gegensatz zu so manch wissenschaftlichem Kongress, bei dem die Vortragenden in einem Konkurrenzverhältnis stehen und die anderen ausstechen wollen, geht es bei den ‚Tagen der Utopie‘ wirklich um Hören und Antworten. Es ist die Idee, einander wechselseitig zuzuhören und alternative Entwürfe zu denken, zu hören, zu sehen und darauf zu reagieren. Ich habe mir diese Veranstaltung schon im Vorhinein als Resonanzoase vorgestellt, in der Resonanzverhältnisse und Resonanzmöglichkeiten ausgelotet werden.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Zur Person
Der Soziologe und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa (geboren am 15. August 1965 in Lörrach) lehrt an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Rosa ist auch Direktor des Max-Weber-Kollegs der Universität Erfurt und Mitherausgeber der Fachzeitschrift „Time & Society“. Er ist Autor mehrerer Bücher, zuletzt von ihm erschienen: „Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung“(Suhrkamp, 2016) – ein Werk, an dem er nach eigenen Angaben über zehn Jahre geschrieben hat.

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