Gerald A. Matt

Kunstmanager, Publizist und Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst Wien

„Ein gewaltiger, obszöner Spaß“

Juni 2021

Robert Pfaller (59), Kulturwissenschaftler und Philosophieprofessor an der Kunst-Uni Linz, ist auch Autor einer Reihe erfolgreicher Bücher. Die Aphorismen des Wieners sind herausragend, etwa: „Wie sollten nicht den Tod fürchten, sondern das schlechte Leben.“ Gerald A. Matt traf den streitbaren Professor zu einem Gespräch über Erwachsenensprache, Identitätspolitik – und die Zukunft der Linken.

In den beiden Werken „Wofür es sich zu leben lohnt“ und „Erwachsenensprache“ hinterfragen Sie die zeitgenössische Gesellschaft, die zunehmend von Lustverzicht und Askese geprägt ist und bei allem, was Spaß macht, vom Rauchen über Sex bis zum Humor, nach Verboten ruft. Dabei sprechen Sie von einer „Maßlosigkeit im Mäßigen“. Was ist da passiert? 
Die seit den 1990er Jahren entstandene Genussfeindlichkeit der Postmoderne ist das kulturelle Symptom einer „Abstiegsgesellschaft“. In den ersten drei bis vier Jahrzehnten nach dem Krieg dagegen herrschte die Vorstellung des Aufstiegs: Viele hatten das Gefühl, dass es ihnen oder ihren Kindern morgen besser gehen würde. Dadurch lebten sie in der Gewissheit, dass sie gewinnen können, wenn sie über sich hinausgehen. Genau das erfordern unsere Genüsse. Sie haben nämlich immer etwas Ungutes an sich: Entweder berauschen sie wie der Alkohol: oder sie sind unappetitlich und schaffen soziale Probleme wie der Sex. Oder sie erfordern zumindest die Bereitschaft zur Verschwendung von Zeit, Schlaf oder Energie wie das Feiern, das Spazierengehen oder das philosophische Erkunden müßiger Gedanken. In bestimmten Situationen, besonders bei geselligen Anlässen, werden wir fähig, über uns hinauszugehen und darum vom Unguten nicht abgestoßen zu werden, sondern es in etwas Sublimes zu verwandeln. In der Postmoderne jedoch haben alle Angst, sie könnten etwas verlieren, wenn sie nicht bei sich bleiben. Die Idee, dass es auch schön, gewinnbringend und erfüllend sein könnte, sich verführen zu lassen, loszulassen oder sich zu etwas fremd Anmutendem zu überwinden, ist vielen völlig fremd geworden. Darum möchten sie lieber Bier ohne Alkohol, Kaffee ohne Koffein, Sex ohne Körperkontakt und Kunst ohne Genie.

Apropos Verbotsgesellschaft, da sind wir sogleich bei der Corona-Pandemie. „Die Corona-Krise ist ein großer Test, wie wir mit unseren Bürgerrechten umgehen“, hat der Historiker Noah Harari kürzlich in der „Financial Times“ geschrieben. Lässt sich unsere Wahl nur auf Gesundheit oder Freiheit reduzieren? Werden wir nach der momentanen Krise wieder in einen Normalzustand zurückfinden (können, wollen)? 
Man muss klar unterscheiden zwischen der postmodernen Verbotsgesellschaft einerseits, worin der Staat detailverliebt sich auf Angelegenheiten stürzt, die die Leute sehr gut für sich selbst regeln können – und andererseits einer gesamtgesellschaftlichen Krisensituation wie der Pandemie oder auch der Banken- und Finanzkrise. Hier muss der Staat handeln. Und er hat meines Erachtens viel zu wenig getan: sowohl bei der ökonomischen und sozialen Absicherung der Menschen als auch bei ihrer gesundheitlichen Versorgung – etwa durch wenigstens zeitweilige Vergesellschaftung von Ressourcen und Impfpatenten.

Die Genussfeindlichkeit der Post­moderne ist das kulturelle Symptom einer Abstiegs­gesellschaft.

In ihrem Buch „Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur“, 2017, kritisieren Sie, dass die Menschen von der Politik nicht wie Erwachsene, sondern wie Kinder angesprochen werden und dass im öffentlichen Diskurs heute nur mehr auf Befindlichkeiten Rücksicht genommen wird und Menschen auf eine Opferrolle reduziert werden. Eine Kritik an der Identitätspolitik und ihrer Folgen? 
Die Aufmerksamkeit der Menschen auf jene kleinen Wehwehchen und Beleidigungen zu lenken, die sie in Wahrheit sehr gut selbst bewältigen können, ist ein gewaltiges Ablenkungsmanöver: nämlich angesichts der Tatsache, dass die Gesellschaft insgesamt immer brutaler wird und immer mehr Menschen der Verarmung und sozialem Abstieg aussetzt. Um dagegen nichts tun zu müssen, suggeriert uns eine Pseudopolitik, dass ihr dilettantisches Herumbasteln an der Sprache die entscheidende Befreiungstat für alle wäre. 
 
Zerstört eine Gesellschaft, die Identitätsfragen und Empfindungen einzelner Gruppen in den Vordergrund stellt, letztlich den Diskurs, das Gemeinsame und Demokratische?
Dieses derzeit so beliebte Etikettieren von Menschen nach Hautfarbe, Geschlecht, sexueller Orientierung, Alter oder sonstigen Merkmalen ist immer rassistisch und anti-emanzipatorisch. Auch dann, wenn es von der Pseudolinken sozusagen als „reversed racism“ gegen die vermeintlich privilegierten Gruppen betrieben wird. Das bringt den subalternen Gruppen überhaupt nichts – sondern allenfalls nur den wenigen Einzelnen, die sich lautstark zu ihren Wortführern machen. Und es ist im Gesamten nicht nur vergeblich, sondern schädlich. So werden die Minderheiten auf immer in ihrem Minderheitengehege festgehalten; niemand darf zu ihnen hinein und sich für sie interessieren oder sich mit ihnen solidarisieren (sonst ist es „kulturelle Aneignung“), und sie dürfen auch nicht heraus. Transsexuelle Filmfiguren zum Beispiel dürfen dann nur von transsexuellen Schauspielern gespielt werden. Aber die dürfen dann auch keine anderen Rollen mehr spielen. 
Mit dieser Politik werden wir niemals dahin gelangen, dass wir einander im öffentlichen Raum ohne Ansehen der Person begegnen und einander politisch und moralisch nur danach beurteilen, was wir tun und wofür wir stehen.
 
Klassische Linke wie Sahra Wagenknecht sehen in der Identitätspolitik ein Ablenkungsmanöver.
Völlig zu Recht. Es ist eine erfreuliche und längst notwendige Entwicklung, dass nun auch im deutschen Sprachraum immer mehr linke Stimmen laut werden wie jene von Sahra Wagenknecht, die sich von der identitätspolitischen Pseudolinken abgrenzen. Es gibt dazu ausgezeichnete Klarstellungen, zum Beispiel von Sandra Kostner oder Bernd Stegemann, von Judith Sevinc Basad, mit ihrem vor kurzem erschienenen ausgezeichneten Buch „Schäm dich!“, oder auch von Patsy L'Amour laLove, der Herausgeberin des Bandes „Beißreflexe“, der die entsprechenden Entwicklungen vor allem in der queeren Szene kritisch beleuchtet. Auch der Erfolg der deutschen Fassung des Buches „Generation beleidigt“ von Caroline Fourest zeugt davon, dass es immer mehr Linke gibt, die nicht bereit sind, die gefährlichen Dummheiten der Identitätspolitik hinzunehmen und sie als linke Politik gelten zu lassen.
 
In dem bekannten Gedicht „lechts und rinks“ von Ernst Jandl heißt es: „lechts und rinks kann man nicht velwechsern werch ein illtum“. Beim Dadaisten Walter Serner heißt es: „Weltanschauungen sind Vokabelmischungen.“ Welche Bedeutung haben „Links“ und „Rechts“ überhaupt noch? 
In den letzten Jahren ist es diesbezüglich leider tatsächlich zu mächtigen Verwechslungen gekommen. Eine Politik, welche die Menschen nach ihren Hautfarben, ihrem Geschlecht oder ähnlichen Kriterien einteilt und beurteilt und die nicht bereit ist, andere mit Argumenten zu überzeugen, sondern stattdessen darauf abzielt, sie als Personen zu diffamieren und zum Schweigen zu bringen, ist eine durch und durch anti-emanzipatorische Politik. Ein Stück Gegen-Aufklärung. 
Und es ist ja eigentlich auch klar, dass die gewaltige Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums nach oben, die wir seit 1980 beobachten, nicht ohne die Begleitung durch eine solche anti-aufklärerische Ideologie, wie sie die Postmoderne geliefert hat, vollzogen werden konnte. Ähnlich wie schon in den 1930er Jahren wurde auch in der von Ronald Reagan und Margaret Thatcher eingeleiteten Ära des Neoliberalismus seit den 1980er Jahren das bis dahin wenigstens in manchen Bereichen vorherrschende linke Denken, das in abstrakten und moralfreien, aber politischen Kategorien wie Produktionsverhältnissen und Klassen dachte, fast unmerklich zerlegt – und zwar in eine primitive, weitaus anschaulichere Ideologie, die in den Trägern bestimmter biologischer Merkmale die vermeintlich Schuldigen für das Elend der Welt sucht. Nun braucht man nicht mehr mühevoll über die Veränderung von Strukturen nachzudenken, sondern kann ungestraft einzelne Personen beschimpfen. Das ist natürlich ein gewaltiger, obszöner Spaß.

Das elitäre Herumdoktern an der Sprache bringt den Menschen nicht das Geringste.

Moral als biologische Kategorie?
Ja, auffällig ist dabei der Zerfall der begrifflichen Erklärungen in einerseits biologische Kriterien, für die die Leute ja nichts können, und andererseits eine hochgradige moralische Aufladung. Die Weißen sollen sich, so wird gefordert, ihres Weißseins schämen. Diese „Moralisierung von Biologie“ hat der Philosoph Günther Anders bereits als typisches Verfahren der Nazi-Ideologie kenntlich gemacht. Immerhin scheint mir ein Rest der früheren, linken kulturellen Hegemonie der 1968er Zeit darin erkennbar zu sein, dass eine reaktionäre Ideologie sich selbst heute noch, um Erfolg zu haben, als progressive, linke Ideologie ausgeben muss. Wenn die Linke aber in Zukunft noch eine Chance haben will, die immer zahlreicheren verarmenden Menschen zu erreichen, die wirklich eine linke Politik benötigen würden, dann muss sie sich möglichst schnell von dieser „Kinderkrankheit“ des identitätspolitischen Moralisierens befreien. Diese Passion kommt nicht von den Ärmsten der Gesellschaft, sondern von einer satten, opportunistischen Kulturelite. Und das Einteilen in Hautfarben sowie das elitäre Herumdoktern an der Sprache bringt den Menschen, die in Arbeitslosigkeit, Prekariat, Angst vor Jobverlust oder Altersarmut dahinvegetieren, nicht das Geringste. Es dient nur dazu, die wirklich kritischen Stimmen zum Schweigen zu bringen und bestimmten Angehörigen des Kulturbetriebs das Gefühl zu verschaffen, dass sie die sensibleren Menschen wären.

Vielen Dank für das Gespräch!

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