Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Eine ganze Generation könnte sich radikalisieren“

März 2018

Ökonomen Keuschnigg und Andersen mahnen in einer aktuellen Analyse europäischer Politiken eine Kurskorrektur ein: „Was ein Land an vorbeugenden Maßnahmen versäumt, muss es im Nachhinein mit sehr hohen Kosten reparieren.“

Über 1000 Experten in ganz Europa hatten der Bertelsmann-Stiftung* Fragen zur Dringlichkeit, der tatsächlichen Häufigkeit und der Qualität von Reformen in ihren Herkunftsländern beantwortet – unter anderem auf diesen Angaben beruht eine aktuelle, von den Ökonomen Christian Keuschnigg und Torben M. Andersen verfasste und vom Wirtschaftspolitischen Zentrum veröffentlichte Analyse der europäischen Situation. Fazit der beiden Wissenschaftler? Es sei schwer, die Bedeutung eines gut funktionierenden Arbeitsmarktes als Vorbedingung für ein inklusives Wachstum zu übertreiben.

Eine deutliche Warnung

Keuschnigg und Andersen, Professoren an den Universitäten St. Gallen und Aarhus, halten da Prinzipielles fest: „Die Verfügbarkeit von attraktiven Jobs bestimmt die Aufstiegschancen. Die Spreizung der Löhne und der Beschäftigungschancen von hoch und gering qualifizierter Arbeit verstärkt die Ungleichheit und beeinträchtigt den gesellschaftlichen Zusammenhalt.“ Wenn die Arbeitsmärkte also lahmen und die Jobs für große Teile der arbeitswilligen Bevölkerung und vor allem für die Jugendlichen fehlen würden „wie in den Krisenländern der Eurozone, dann könnte eine ganze Generation verloren sein und sich radikalisieren, weil sie sich um ihre Chancen betrogen fühlt“.

Auftrag an die Politik

Was ist aus dem abzuleiten? Keuschnigg und Andersen nehmen die Politiker der jeweiligen Mitgliedstaaten, auch die der Union in die Pflicht: „Die Politik wird eine Balance zwischen vorbeugenden und korrigierenden Maßnahmen finden müssen, um die Funktionstüchtigkeit der Arbeitsmärkte und die Nachhaltigkeit des Sozialstaats zu erhalten. Was ein Land an vorbeugenden Maßnahmen versäumt, muss es im Nachhinein mit sehr hohen Kosten reparieren.“ Denn eine korrigierende Politik mit Betonung der Umverteilung durch progressive Steuern und großzügige soziale Absicherung reagiere defensiv auf die auftretenden Probleme“, sagen die Ökonomen; eine solche Politik laufe Gefahr, in einem Negativkreislauf steigender Sozialausgaben, zunehmender Steuerbelastung, lahmendem Wachstum und noch größerem Korrekturbedarf zu enden. Noch drastischer formuliert: „Eine solche Politik geht auf Kosten zukünftiger Generationen.“

Eine vorbeugende Politik sei dagegen eine Investition in die Nachhaltigkeit des Sozialstaats. Ein leistungsfähiges Bildungssystem vom Kindergarten bis zur Berufslehre, der universitären Ausbildung und dem lebenslangen Lernen reduziere die sozialen Risiken, lege den Grundstein für die Aufstiegschancen, mindere die Ungleichheit, heißt es in der Analyse. Die Jugendarbeitslosigkeit in den diversen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zeigt, wie berechtigt die Warnungen der beiden Ökonomen sind: Keuschnigg und Andersen berufen sich in ihrer Analyse auf das Jahr 2013, ein Jahr, in dem in Griechenland 58,3 Prozent aller unter 25-Jährigen arbeitslos waren; in Italien 40 Prozent, in Portugal 38,1 Prozent und in Spanien 55,5 Prozent. Daten aus den Folgejahren? Ende 2017 waren in Griechenland immer noch 40,8 Prozent der unter 25-Jährigen arbeitslos, in Spanien 36,8 und in Italien 32,2 Prozent. In Österreich waren laut Portal „Statista“ im Vorjahr übrigens 9,3 Prozent der jungen Menschen ohne Arbeit. Zum Schluss sollen nochmals die beiden Ökonomen zitiert sein: „Der Arbeitsmarktzugang bestimmt die Chancen auf Wohlstand, Teilhabe und sozialen Aufstieg. Eine hohe Anpassungsfähigkeit der Arbeitsmärkte ist die beste Garantie, die Chancen der Innovation, Globalisierung und Alterung in Wohlstandsgewinne für alle umzumünzen. Dabei muss die Politik die richtige Abwägung zwischen vorbeugenden und korrigierenden Politikansätzen finden.“ Der Auftrag ist klar formuliert.

*Gemeint ist das „SIM Europe Reform­barometer“. Weitere Informationen auch zum Wirtschaftspolitischen Zentrum unter
www.wpz-fgn.com

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