Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Eine Kultur der Hinterhältigkeit“

Juli 2021

Ein Gespräch über die österreichische Jugend, die Versäumnisse der Politik und ein Meinungsspektrum, das immer enger zu werden droht.

Herr Heinzlmaier, wurde – und wird – in der Pandemie auf Österreichs Jugend vergessen?
Ich bin mir immer weniger sicher, ob das wirklich so ist. Die Jugend ist zwar seit Wochen das Thema in den Medien, es wird aber immer nur über die Gutsituierten und Privilegierten und deren Probleme gesprochen, über die der Armen aber geschwiegen. Die Kinder der Bessersituierten hatten in der Pandemie großzügige Wohnverhältnisse, die notwendige Infrastruktur und die Unterstützung der Eltern, während die ärmeren Schichten, auf minimalem Wohnraum zusammengedrängt, oft nicht einmal einen vernünftigen Computer hatten, um von zu Hause aus lernen zu können. Die bereits vor der Pandemie bestehenden Bildungs- und Förderungsdefizite der Armen in Österreich haben sich weiter verstärkt. 

Soll heißen, dass die österreichische Diskussion da zu wenig differenziert?
Sie ist viel zu wenig differenziert. Den paar linksradikalen Randalierern, die da am Karlsplatz „ganz Wien hasst die Polizei“ geschrien haben, schenkt man in der Bundeshauptstadt beispielsweise alle Aufmerksamkeit, während die jungen Menschen, die wirklich Hilfe und Unterstützung brauchen, kein Thema waren und nach wie vor keines sind. Ich spreche von Lehrlingen, die keine Lehrstelle finden oder von geringer Qualifizierten, die in der Krise als erstes arbeitslos wurden und nach wie vor arbeitslos sind. Den Randalierern hat man einen runden Tisch gewidmet, den wahrhaft Bedürftigen nicht, das ist doch ein Skandal.

In Vorarlberg hat die Lehre traditionell einen höheren Stellenwert, da ist die Situation nicht ganz so drastisch …
Richtig! In Vorarlberg hat man sich im Gegensatz zu Wien um die Lehre gekümmert und viel für das Image der Lehre getan, die Politik hat mit den Betrieben kooperiert, da hat man wirklich vernünftig gearbeitet. Das ist in Wien unterblieben. Da hat man die Dinge einfach laufen lassen. 

Inwiefern?
Das einzige, was der Politik dort einfällt, ist, alle in die Überbetriebliche hineinzustopfen und irgendwie im AMS zu lagern, damit die nicht in der Statistik aufscheinen. Und niemand zerbricht sich den Kopf darüber, wie man diesen Jugendlichen eine langfristige Perspektive geben könnte. Dabei weiß man ja, dass junge Menschen, die beim Einstieg in den Arbeitsmarkt Probleme haben, ein ganzes Leben lang davon geprägt sein werden. Dazu kommt, dass die Zukunftssicht vor allem dieser unteren Sozialschichten sehr pessimistisch ist. Dort glaubt der überwiegende Teil, dass die wirkliche Krise erst jetzt kommt, sprich: Weltwirtschaftskrise, Inflation, steigende Arbeitslosigkeit …

Es heißt gelegentlich, dass es den Jugendlichen in Österreich auch an öffentlichen Räumen fehlt, an Platz zur Entfaltung.
Nein. Stimmt nicht. In London würden sich die Leute beispielsweise gegenseitig glücklich um den Hals fallen, wenn sie nur einen Bruchteil der Angebote hätten, die es in Wien für Jugendliche gibt. Und das kann man auf die Bundesländer genauso umlegen, im ländlichen Raum gibt es ja noch mehr Freiräume und noch mehr kontrollfreie Zonen.

Aber: Geht nicht das Verständnis dafür verloren, dass die Jugend nach der Pandemie jetzt wieder ihr Leben leben will? Die Jugendlichen, die an der Bregenzer „Pipeline“ feiern, sind vielen ein Dorn im Auge, manche wollen gar ein Betretungsverbot …
Da muss man unterscheiden, ich bin beispielsweise ein absoluter Befürworter des Betretungsverbotes am Wiener Karlsplatz, weil das randalierende linksradikale Horden waren. Wenn sich auf der anderen Seite Jugendliche in Bregenz am See niederlassen, um nach dieser Zeit der Entbehrung ein paar Bier zu trinken und sonst nichts machen, dann würde ich eine Wegweisung für übertrieben halten. Man sollte die Kirche im Dorf lassen. Im Übrigen zerbricht sich die große Mehrheit der Jugendlichen nicht den Kopf darüber, ob sie sich irgendwo im öffentlichen Raum ansaufen können; sie sorgen sich um die Zukunft. Sie fragen sich, wie sie nach den Erfahrungen dieser Krise ihre Erwerbsbiografie vernünftig fortsetzen und ihre Ausbildung gut abschließen können, wie sie eine Familie gründen und einen angemessenen Start ins Leben hinbekommen können …

Sie hatten vor der Krise die heutige Jugend mehrfach als zu angepasst beschrieben, wie hat sich dieser Trend zur Angepasstheit in der Pandemie gezeigt?
Die Jugendlichen haben sich mit sehr großer Mehrheit sehr brav an die Vorgaben zur Bekämpfung der Pandemie, sprich an die entsprechenden Einschränkungen gehalten. In der Pandemie war das kein Nachteil.

Aber?
In weiterer Folge wird man sich schon den Kopf darüber zerbrechen müssen, ob es nicht ein bisschen zu viel der Angepasstheit ist. Denn wir brauchen eine kritische Jugend, die das, was die Erwachsenen machen, auch konsequent hinterfragt. Es ist Aufgabe der Jugendlichen, die traditionellen Verhältnisse herauszufordern und zumindest ein bisschen aufzumischen, damit es überhaupt so etwas wie kulturellen Fortschritt gibt. 

Ein Gedankenspiel: Wäre mit den Jugendlichen früherer Generationen die Pandemie auch so bewältigbar gewesen?
Es wäre auch bewältigbar gewesen, keine Frage, die Jugendlichen waren früher ja nicht unvernünftig. Allerdings bin ich mir sicher, dass die jungen Leute früher mehr kritische Fragen gestellt hätten. Die Maßnahmen wären hinterfragt worden, wahrscheinlich hätte es mehr Widerstand gegen die Schließung der Schulen und der Universitäten gegeben. Es wäre in jedem Fall mehr Wirbel gewesen. Früher hat man mit den Menschen mehr diskutieren müssen, als das heute der Fall ist. Heute wird mehr hingenommen, heute sagen sich sehr viel junge Leute, bevor ich mir das antue und herumstreite, halte ich lieber den Mund.

Wobei sich dieses Verhalten ja nicht nur auf die Jugend bezieht, sondern überhaupt auf die Gesellschaft …
Richtig, da haben Sie vollkommen recht, das bezieht sich auf die gesamte Gesellschaft. Denn die Gruppe derer wird immer größer, die sich sagen, bei der Art und Weise, wie in der Gesellschaft diskutiert und geredet wird, da ist es besser, man hält den Mund, um nicht gleich abgestempelt zu werden.

Soziologe Maurizio Bach sagte zuletzt in einem „Thema Vorarlberg“-Interview, man habe in Zeiten wie diesen sehr vorsichtig sein Wort zu wählen …
Sehr ernstzunehmende Leute bezeichnen das Klima, das wir heute haben, als Neo-Jakobinismus oder Neo-Bolschewismus. Es muss nur jemand sagen, er sei gegen die Aufnahme weiterer Flüchtlinge oder bezweifle die Sinnhaftigkeit der einen oder anderen Corona-Maßnahme, das reicht schon, um gesellschaftlich erledigt zu sein. Da ist dann der eine gleich ein Nazi oder der andere gleich ein Corona-Leugner. Diskutiert wird überhaupt nicht mehr. Die eigene Meinung, die kann man heute öffentlich nur mehr bis zu einem gewissen Grad vertreten – und bestimmte Themen sollte man sowieso nur noch so ansprechen, wie es bestimmte meinungsstarke Gruppen für richtig erachten.

Sie stehen allerdings nicht wirklich im Verdacht, nicht zu sagen, was Sie denken …
Ja! (lacht) Ich kann mein Image nicht mehr ruinieren, weil das eh schon ruiniert ist. Ich sage, was ich denke, und das hat dazu geführt, dass man mich in bestimmten Kreisen bereits als den Sarrazin der SPÖ bezeichnet. Aber …

Ja bitte?
Wenn man so eine Kultur aufrechterhält, rächen sich die Menschen in der Wahlzelle. Die Leute schweigen, und wenn der Wahltag kommt, kreuzen sie in der Wahlkabine eine rechtspopulistische Partei an. Bei den jüngsten Kommunalwahlen in Sachsen-Anhalt hat die AfD über 20 Prozent der Stimmen bekommen. Das ist kein Zufall. Und ich glaube, dass sich das auch in Österreich wieder verstärken wird. Denn der Mensch, der reagiert schon. Aber halt nicht mehr offen, sondern versteckt. Anonym oder hinter einem Pseudonym versteckt, lassen die Menschen dann in den sozialen Medien die Sau raus. Es ist eine Kultur der Hinterhältigkeit entstanden. Man erzieht die jungen Leute geradezu zur Hinterhältigkeit!

Sie sagten zuvor, man dürfe bestimmte Themen nur noch so ansprechen, wie es bestimmte meinungs­starke Gruppen für richtig erachten.
Ja. Wer sich dem nicht unterwirft, wird heute geächtet, sein Ansehen wird vernichtet, man verliert die Arbeit, wird aus Universitäten geworfen. Die postmoderne Linke steht nicht für das offene Wort, sondern für einen engstirnigen Diskurs, in dem ständig mit Sanktionen und mit Ausschluss gedroht wird. 

Sie haben vor Jahren schon gesagt: „Moralisten sind eine Plage.“
Die sind auch eine Plage, weil sie überwiegend verlogen sind. Was wir heute haben, ist eine Gesellschaft, in der sich eine Gruppe erhoben hat: Die Privilegierten, die allen vorschreiben, wie sie sich verhalten dürfen, sich selbst aber natürlich nicht an ihre eigenen Verhaltensregeln halten, in der Annahme, sie seien etwas Besseres. 

Und wer sind die aktuellen Moralisierungs­weltmeister? 
Das sind immer die Grünen. Mit ihnen wird die Verbotspolitik zur Staatsreligion. Man darf nicht essen, was man will, kein Auto mit Verbrennungsmotor fahren, nicht fliegen, nicht in einem Haus wohnen, geschweige denn eines bauen; Unerwünschtes wird einfach wegbesteuert und reguliert. Die wollen nichts anderes als die große Renaissance eines totalitären Staates, der sich über die ganze Gesellschaft erhebt und in alles eingreift. Und das wird immer mit dem moralischen Impetus begleitet, dass derjenige, der sich nicht daran hält, der Allgemeinheit in den Rücken fällt. Sich permanent schuldig zu fühlen, das wird zur neuen Staatsreligion. Wer einen Fehler macht, muss sich öffentlich entschuldigen und in den Staub werfen, das sind ja Zustände, die an den Justizvollzug der Warschauer-Pakt-Staaten der 1950er- und 1960er-Jahre gemahnen. 

In Ihrem Buch „Verleitung zur Unruhe“ ließen Sie 2015 kaum ein gutes Haar an den damaligen Politikern, wie fällt denn das Urteil heute aus?
Ich brauche da noch nicht einmal mehr ein persönliches Urteil abgeben, ich muss nur aus aktuellen Studien zitieren. In der Altersgruppe der 16- bis 29-Jährigen vertrauen gerade einmal 34 Prozent der Regierung. Der Opposition vertrauen auch nur 33 Prozent. Die Tragödie ist also, dass die Leute keine Alternativen mehr sehen. Das Vertrauen in den Parlamentarismus ist abgestürzt. Und was macht die Politik? Gar nichts. In diesem Land ist die Verblödung schon so weit fortgeschritten, dass die ‚Sieger‘ der ÖH-Wahl gefeiert haben, obwohl sich an diesen Wahlen gerade einmal 15 Prozent der Stimmberechtigten beteiligt hatten. Da steht man vor der größten Legitimationskrise der österreichischen Hochschülerschaft seit ihrer Gründung, und diese Narren und Zwerge (lacht) feiern ihren angeblichen Wahlsieg. Das ist Saramago! Das ist die Stadt der Sehenden! 

Die Stadt der Sehenden?
In Saramagos Roman „Die Stadt der Sehenden“ weigern sich die Menschen von einem Tag auf den anderen, an Wahlen teilzunehmen. Die Politiker entwickeln verschiedene Theorien, wie üblich, das Wetter sei zu schlecht – bevor sie dann entdecken, dass die Menschen nicht mehr wählen, weil sie den Politikern nicht mehr vertrauen.

Und wie geht das Buch aus?
Das will ich Ihnen jetzt gar nicht sagen. Das sollen die Leute selber lesen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Sich permanent schuldig zu fühlen, das wird zur neuen Staats­religion.

Zur Person  

Bernhard Heinzlmaier * 1960 in Wien, Sozialwissenschaftler, Unternehmensberater und Jugendforscher, ist Mitbegründer des Instituts für Jugendkulturforschung und seit 2003 ehrenamtlicher Vorsitzender. Hauptberuflich leitet er das Marktforschungsunternehmen T-Factory in Hamburg. Heinzlmaier lehrt an der FH Joanneum in Graz und an der FH Burgenland in Eisenstadt im Studiengang Soziale Arbeit. 2018 wurde ihm für seine Leistungen als Meinungs- und Jugendforscher von Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen der Berufstitel Professor verliehen.

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