Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Es gibt keinen echten Generationenvertrag“

November 2018

Bevölkerungsforscher Rainer Münz (64), Berater von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, skizziert im Interview Herausforderungen in einer Gesellschaft, in der der Anteil der Älteren immer größer wird.

Wie sieht der Demografie-Experte die Situation in Vorarlberg?

In Vorarlberg, einer der wirtschaftlichen Wachstumsregionen Europas, gibt es seit Jahrzehnten auch Bevölkerungswachstum. Allerdings hat Vorarlberg – wie die benachbarten Bundesländer und Kantone – sowohl demografisch wachsende als auch schrumpfende Gebiete. Während die Einwohnerzahl im Rheintal wächst, gibt es im östlichen Bregenzerwald, am Arlberg und im Montafon mehrere Gemeinden mit schrumpfender Einwohnerzahl. Verantwortlich für das Wachstum in Vorarlberg war zu Zeiten des Baby-Booms ein hoher Geburtenüberschuss, in jüngerer Zeit spielt die Zuwanderung eine größere Rolle: aus anderen Teilen Österreich, aus anderen Ländern der EU und in kleinerem Umfang auch aus Nicht-EU-Staaten. Das erzeugt demografisches Wachstum.

Und was gilt künftig?

Die zukünftige Entwicklung Vorarlbergs ist zum Teil gut absehbar: Die Lebenserwartung ist hoch und steigt weiter. Unter allen österreichischen Bundesländern hat Vorarlberg die höchste Lebenserwartung. Und Vorarlberg wird in den kommenden Jahren, so wie die meisten anderen Regionen Europas, stärker von demografischer Alterung betroffen sein. Das bedeutet: Das Durchschnittsalter der hier lebenden Menschen steigt; und der Anteil der älteren Menschen an der Gesamtbevölkerung wird größer. Das Land „ergraut“.

Zugleich wird die Gesellschaft Vorarlbergs „bunter“. Zuwanderung brachte und bringt Menschen unterschiedlicher Herkunft ins Land. Dies wird wahrscheinlich auch in Zukunft so sein. 

Damit stellen sich zwei demografische Herausforderungen. Erstens: Wie gehen wir mit Zuwanderung um? Wie integrieren wir all jene, die zu uns kommen und länger im Land bleiben wollen; seien es Ostösterreicher, Deutsche, Polen oder Menschen aus nichteuropäischen Staaten? Und die andere Frage lautet: Was tun, angesichts einer wachsenden Zahl und eines wachsenden Anteils älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung?

Bisweilen wird, vor allem medial, von einer Überalterung der Gesellschaft gewarnt.

Überalterung ist ein negativer Begriff, der unterschlägt, dass die Verlängerung des Lebens eigentlich eine positive Entwicklung ist. Unsere Gesellschaft altert, weil die Lebenserwartung steigt. Und Menschen leben nicht nur länger, sie durchleben im Laufe ihrer Lebensspanne auch mehr gesunde Jahre. Darin sehe ich nichts Negatives. Das Wort „Überalterung“ setzt sprachlich ein falsches Signal.

Wo sehen Sie die zentralen Herausforde­rungen im Umgang mit einer älter werdenden Gesellschaft?

Die Österreicherinnen und Österreicher gehen im europäischen Schnitt sehr früh in Pension; die Lebenserwartung ist in den vergangenen 50 Jahren deutlich gestiegen, das faktische Pensionsalter ist jedoch ab den 1970er-Jahren gesunken und erst in den letzten 15 Jahren wieder etwas höher geworden. Im Durchschnitt sind Österreicherinnen und Österreicher heute zwischen 15 und 25 Jahren in Pension.
Die erste Herausforderung ist daher, dafür zu sorgen, dass sich die Relation zwischen denen, die einzahlen, und denen, die schon in Pension sind und vom System finanzielle Leistungen erhalten, nicht weiter zu Ungunsten der Jüngeren verschlechtert. Und das erfordert eine Erhöhung des faktischen Pensionsantrittsalters. Wir sollten zukünftig in der zweiten Lebenshälfte länger arbeiten. Das muss zwar nicht unbedingt bedeuten, dass Erwachsene insgesamt länger erwerbstätig sind, weil die Jüngeren von heute und die kommende Generation durch ihre längere Ausbildung später ins Berufsleben treten. Aber deutlich mehr Angehörige der Altersgruppe 50 bis 70 sollten länger im Erwerbsleben bleiben. Damit ist eine zweite Herausforderung benannt: In Österreich müssen attraktivere Arbeitsmärkte für ältere Menschen entstehen.

Dem steht unter anderem das Senioritätsprinzip in der Entlohnung dagegen.

Diese Form der Entlohnung – Jüngere bekommen weniger, Ältere bekommen mehr Gehalt –beruht auf kollektivvertraglichen Vereinbarungen. Das haben sich Arbeitgeber und Gewerkschaften so ausgemacht. Vorbild waren die Beamtengehälter, die alle zwei Jahre steigen, selbst wenn die jeweiligen öffentlich Bediensteten weiter denselben Job machen. Auch in der Privatwirtschaft verdienen ältere Angestellte deutlich mehr als jüngere, obwohl 55-Jährige nicht unbedingt mehr leisten als 40-Jährige. Es ist klar, dass diese Regelung die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer nicht attraktiver macht. Deshalb müssen wir darüber nachdenken, wie sich das ändern lässt: durch eine Entlohnung, die sich stärker an der tatsächlichen Leistung orientiert, durch berufsbegleitende Fortbildung, die Älteren frische Qualifikationen vermittelt, aber auch durch ein Pensionssystem, das längeres Arbeiten finanziell deutlicher belohnt.

Werden auch die Auswirkungen auf das Gesundheitssystem groß sein?

Das ist wahrscheinlich, lässt sich aber schwerer abschätzen als bei den Pensionen. Die Menschen leben zwar länger, aber das hat ja vor allem damit zu tun, dass sie länger halbwegs gesund und mobil bleiben. Und das müsste eigentlich dazu führen, dass die 70-Jährigen der Zukunft das Gesundheitssystem weniger in Anspruch nehmen als die 70-Jährigen von heute. Deshalb lässt sich eine steigende Lebenserwartung nicht eins zu eins in eine entsprechend höhere Beanspruchung des Gesundheitssystems übersetzen. Aber geringer wird die Belastung jedenfalls nicht: Das Gesundheitssystem wird jedenfalls eine steigende Zahl älterer Menschen versorgen müssen.

Sehen Sie weitere zentrale Herausforderungen? 

Wir müssen im politischen Prozess darauf achten, dass trotz eines Übergewichts älterer Wählerinnen und Wähler die Interessen der jungen Leute nicht zu kurz kommen. Wenn man sich die Besetzung der gegenwärtigen Bundesregierung anschaut, ist die Generation der 30- bis 45-Jährigen erstmals seit Langem ausreichend repräsentiert. Nicht zuletzt haben wir den jüngsten Bundeskanzler in der Geschichte Österreichs und zugleich jüngsten Regierungschef Europas. Das bedeutet aber noch nicht, dass die Jüngeren durch eine Anhebung des Pensionsalters finanziell entlastet würden. Selbst die langsame Angleichung der gesetzlichen Pensionsalter von Frauen und Männern beginnt nicht vor 2024. Da spielt natürlich die Rücksichtnahme auf das größere Gewicht der Älteren in der Wählerschaft eine Rolle.

Bleiben wir doch noch bei den Jungen …

Im Wesentlichen geht es da darum, dass junge Leute Bildungschancen haben, eine Wohnung und Arbeit finden, von der sie leben können, und nicht unfair durch Steuern und Sozialabgaben belastet werden. Trotz der wachsenden Zahl und des wachsenden Anteils älterer Menschen müssen wir also versuchen, so etwas wie Fairness zwischen den Generationen herzustellen. Etwa, indem sich die gegenwärtige Generation der über 50-jährigen Erwerbstätigen darum bemüht, im Schnitt nicht länger in Pension zu sein als die Generation davor. Das ginge über eine Koppelung von Pensionsantrittsalter, Pensionshöhe und Entwicklung der Lebenserwartung. Länder wie Schweden und Finnland haben solche Regelungen: Pensionskorridor statt eines fixen Pensionsalters und jährliche Anpassungen der Pensionshöhe an die steigende Lebenserwartung. 

Sehen Sie den Generationenvertrag in Österreich in Gefahr?

Es gibt keinen echten Generationenvertrag! Wenn ich in Österreich erwerbstätig bin, muss ich Pensionsbeiträge sowie Lohn- oder Einkommensteuer zahlen. Und meine Pensionsbeiträge plus ein Teil meiner Steuern, die ich in der laufenden Periode zahle, werden dazu verwendet, die Pensionen von heute zu finanzieren. Dafür verspricht der Staat, dass zukünftige Generationen die Pensionen der heute aktiven finanzieren werden. Jene, die da verpflichtet werden, wissen aber noch gar nichts davon oder sind vielleicht noch gar nicht auf der Welt. 
Deshalb ist der Generationenvertrag nur ein Bild oder eine Metapher. Keine Generation hat je einen solchen Vertrag unterschrieben. Das System kann dennoch nicht in sich zusammenbrechen, weil es ja auf einer recht simplen Umverteilung beruht: Die Pensionsbeiträge der Aktiven und ein Teil der Steuern, die wir im Lauf eines Jahres bezahlen, fließen im selben Jahr als Pensionen und Ausgleichszulagen an die schon im Ruhestand befindliche Generation. Das ist eine klare Umverteilung von der mittleren Erwerbsgeneration zu den Älteren. Es könnte also sein, dass sich etliche jüngere Leute nicht unbedingt über die große Zahl an Früh-Pensionisten freuen. 
In Summe ist klar: Es gibt keine Vertragssituation und auch keine Verhandlungen zwischen Älteren und Jüngeren. Die meisten Älteren gehen in Pension, wenn sie den Eindruck haben, dass es jetzt für sie passt oder weil sie von ihrem Arbeitgeber dazu gedrängt werden. Wie sehr das die nachfolgende Generation finanziell belastet, das bewegt im Moment der Pensionierung nur die Wenigsten. 

Reagiert die österreichische Politik adäquat auf das Kommende?

Jede Gesellschaft kann immer noch ein bisschen mehr tun, um sich fit für die Zukunft zu machen. Da geht es ja nicht nur um das Pensionssystem und dessen Finanzierung. Die Frage ist auch, ob Jugendliche und jüngere Erwachsene für die Arbeitswelt von morgen vorbereitet sind. Darin steckt eine wesentliche Herausforderung. Investiert eine alternde Gesellschaft genug in die Jungen? Bilden wir unsere Kinder und Jugendlichen gut genug aus? Warum gibt es zu viele Schülerinnen und Schüler, die ohne erfolgreichen Abschluss das Bildungssystem verlassen? Warum gibt es noch immer keine Ausbildungspflicht für alle 15- bis 18-Jährigen, die keine Lehre machen? Wie viele und welche Zuwanderer kommen zu uns? Sind wir attraktiv genug für Tüchtige und Talentierte aus dem Ausland, die wir benötigen? Das ist eine Gleichung mit sehr vielen Unbekannten. Wie viele junge Menschen in Zukunft in Österreich Arbeit finden können und wollen, hängt zum einen von der wirtschaftlichen Lage ab, andererseits von den Qualifikationen, die ihnen das Bildungssystem vermittelt. Schließlich spielen die Größe und Zusammensetzung der Zuwanderung eine Rolle.

Vielen Dank für das Gespräch!

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