Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Gegen das Diktat des Durchschnitts

September 2014

Österreich und das fatale Durchschnittsdenken – Professor Markus Hengstschläger (46), Genetiker und Buchautor, im „Thema Vorarlberg“-Interview über Chancen, Talente und die Politik.

Warum regiert in Österreich der Durchschnitt, Herr Hengstschläger?

Markus Hengstschläger: Weil es bequem ist, sich im Durchschnitt zu verstecken. Bin ich wie alle anderen, kann mir nichts passieren, so wird zu oft argumentiert. Wir brauchen aber Menschen, die alternative Wege gehen. Wer einen neuen Weg geht, muss den alten verlassen. Da wir nicht wissen, was die Zukunft bringen wird, müssen wir heute möglichst individuell aufgestellt sein, damit wenigstens einer von uns die Antworten auf die Fragen von morgen haben wird. Die Finanzkrise 2008 etwa hatte deswegen so globale Ausmaße, weil zuvor zu viele dasselbe Konzept verfolgt hatten und dann alles anders kam. Der Schaden war auch Folge von Gleichmacherei.

In Österreich scheint das Abweichen von der Norm in den meisten Fällen aber gar nicht erwünscht zu sein.

Dabei brauchen wir dringend das Abweichen von der Norm. Jeder Mensch hat besondere Fähigkeiten, die müssen wir individuell einsetzen. Peter Rosegger hat gesagt: „Jeder Mensch hat Talente. Doch nur das Licht der Bildung bringt diese auch zum Vorschein.“

Jeder Mensch hat ein Talent, sagen Sie? Das ist ein recht hehrer Ansatz.

Nein. Hat nicht jemand, der einen anderen Menschen ein Leben lang pflegt, mindestens ein so großes Talent wie Lionel Messi, wenn er ein schönes Tor schießt? Talente sollen nicht nach Einkommen gemessen und gewertet werden, sondern nach ihrem Nutzen für die Gesellschaft, wenn sie umgesetzt werden. Aber jeder Mensch braucht eben auch die Chance, dass er sein Talent finden
kann.

Ein Beispiel aus der Praxis wäre da angebracht.

Nehmen wir ein Kind, das meinetwegen in fünf Fächern vier Nicht genügend und ein Sehr gut hat. Dann wird das Kind daheim und in der Schule hören, dass es in dem Sehr-gut-Fach nichts mehr tun muss, aber in den Fächern lernen soll, in denen es einen Fünfer hat. Und was ist die Folge? Das Kind wird sich nur noch mit seinen Schwächen beschäftigen und seine Stärken vernachlässigen. Infolgedessen wird das Kind am Ende auch in dem Fach, in dem es ursprünglich ein Sehr gut hatte, nur noch Durchschnitt sein.

Und das kann nicht das Ziel sein.

Wir brauchen Menschen, die in irgendeinem Bereich sehr gut sind – wir brauchen hervorragende Maschinenbauer und Elektrotechniker, sehr gute Wissenschaftler und Sportler, Menschen mit hoher Sozialkompetenz, gute Pädagogen und Top-Handwerker. Bildung, Forschung und Entwicklung sind das wichtigste Kapital Österreichs. Und in diesen Bereichen kann nicht das Ziel sein, dass am Ende alle das Gleiche können. Das Ziel muss sein, Begabungen und Talente zu entdecken und individuell zu fördern. Jeder Mensch ist Elite – nur eben jeder in einem anderen Bereich.

Das wird mit dem aktuellen österreichischen Bildungssystem aber ein recht schwieriges Unterfangen …

Es liegt nicht an den Lehrern. Die sind kompetent. Man muss das Bildungssystem reformieren. Ein Viertel aller jungen Menschen, die die Schulpflicht erfüllt haben, kann nicht sinnerfassend lesen. So jemand kann seine Stärken gar nicht stärken. Und in Österreich wird Bildung vererbt. Familien mit höherem Bildungsniveau fördern ihre Kinder mit mehr Engagement, auch mit mehr Geld für Nachhilfe. Bei allen anderen Kindern aus den sogenannten bildungsfernen Schichten hat der Staat in meinen Augen eine Bringschuld. Jedes Kind soll in Österreich das Recht haben, sein Talent zu entdecken und durch harte Arbeit umzusetzen. Ich präferenziere deswegen die Ganztagsschule in Österreich flächendeckend als Standard, in der in einer Ganztagsbetreuung Talente entdeckt, gefördert und finanziert werden.

„Herrscher sind moralisch oder intellektuell selten über und oft unter dem Durchschnitt“, sagte Sir Karl Popper. Warum ist, Ihren Worten zufolge, der Durchschnitt auch das Konzept der Politik?

Weil sie wiedergewählt werden will, macht sie Politik für den Durchschnitt. Man muss sich aber etwas trauen. Denn die Fragen der Zukunft sind andere als die Fragen der Gegenwart. Unser Lebensstandard bleibt nicht hoch, wenn alles so bleibt, wie es ist. Das wird nicht reichen.

Nur dass die Politik den Unternehmen oft im Weg steht.

Der Politik muss noch mehr bewusst werden, dass Innovationen mit aller Energie und mit Maßnahmen zu fördern sind. Die Wirtschaft als Kunde des Bildungssystems muss noch deutlicher junge Menschen mit Stärken fordern. Die Wirtschaftmuss, um für die Zukunft fit zu sein, noch mehr Veränderung, Flexibilisierung und Individualisierung zulassen – sie darf sich deswegen auch nicht jede Art von Politik gefallen lassen. Und der Unternehmer? Bewährtes bewahren, wo es sich immernoch bewährt! Doch Bewährtes muss jeden Tag überprüft werden, ob es denn noch Sinn macht. Falls nicht, muss es über Bord geworfen werden.

Vielen Dank für das Gespräch!

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