Sabine Barbisch

„Ich bin froh, dass ich immer wieder nach Vorarlberg zurückkehren kann.“

September 2019

Die Rankweilerin Julia Ess hat ihr Leben der Architektur verschrieben. Nach Stationen in Maine, Wien und Venedig lebt sie nun in Berlin. Dort arbeitet die überzeugte Europäerin an ihrem Dissertationsprojekt zu Umsiedlungen in Braunkohlegebieten, beschäftigt sich mit dem Thema „alte und neue Heimat“ – und entdeckt dabei Parallelen zu ihrem eigenen Leben.

Das Interesse an der Architektur wurde bei Julia Ess schon früh geweckt: „In Vorarlberg aufgewachsen zu sein, mit seiner qualitätsvollen, historischen und zeitgenössischen Architektur und Baukultur, hat sicher dazu beigetragen. Schon als Kind und Jugendliche zeichnete ich stundenlang Hausgrundrisse mit Bleistift auf Papier und mit Kreide auf die Fassade meines Elternhauses.“ Die heute 35-Jährige erinnert sich gerne an diese Zeit zurück und erzählt von ihrer Kindheit in Rankweil, geprägt von „liebevoller Geborgenheit und gleichzeitig größtmöglicher Freiheit“. Letztere nutzte sie nach der Matura am Gymnasium Feldkirch und verbrachte ein Jahr an einer High-School in Maine. Obwohl ihr die nette Gastfamilie das Leben im fremden Land erleichterte und ihr viele amerikanische Städte und Staaten zeigte, machte sich bei der jungen Frau ein Gefühl von Heimweh bemerkbar: „Mir fehlten meine Familie und Freunde, Vorarlberg, Österreich und vor allem Europa. Ich führte damals in meinem Kalender eine Liste mit Dingen und Aktivitäten, die ich vermisste. Darin finden sich neben Vorarlberger Bergkäse und gutem Brot auch Spaziergänge durch Altstädte wie Feldkirch, Zürich oder Köln und Urlaube in Italien, Spanien oder Griechenland. Das Jahr in den USA machte mir deutlich, wie sehr ich die europäische Kultur und Landschaft vermisste und wie stark ich mich als Europäerin fühlte.“ Zurück in Europa entschied sie sich für ein Architekturstudium in Wien und entwickelte schon bald großes Interesse für Architekturgeschichte, Bauforschung und das Schreiben über Architektur und Baukultur. In ihrer Diplomarbeit beschäftigte sie sich aus architekturhistorischer Sicht mit der Mikwe in Hohenems, einem jüdischen Bad aus dem Jahr 1829. 

Alte Heimat – Neue Heimat(en)

Nach Abschluss des Studiums war Julia Ess zunächst freiberuflich im Bereich der Architekturdokumentation und -vermittlung als Autorin, Redakteurin und Lektorin tätig. Als ihr Partner Anfang 2016 ein halbjähriges Forschungsstipendium in Berlin erhielt, war ihr rasch klar, dass sie ihn begleiten würde: „Aus dem halben Jahr in Berlin sind mittlerweile schon über drei Jahre geworden. Mein Wunsch, mich erneut wissenschaftlich zu betätigen und intensiv in ein Thema einzuarbeiten, ging in Erfüllung, als ich 2017 an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg Mitglied im Graduiertenkolleg‚ kulturelle und technische Werte historischer Bauten wurde. Ich schätze mich sehr glücklich, in so einem anregenden, interdisziplinären Umfeld auf einer bezahlten Stelle promovieren zu dürfen – das ist in der heutigen akademischen Welt leider keine Selbstverständlichkeit“, erzählt Ess. In ihrer Doktorarbeit beschäftigt sich die Wissenschaftlerin aus einer städtebaulich-architektonischen Perspektive mit den Umsiedlungen in deutschen Braunkohlegebieten mit einem Schwerpunkt auf dem südlichen Brandenburg. „Für den Abbau von Braunkohle werden bis heute ganze Dörfer abgerissen und deren Bewohner in neu errichtete Dörfer zwangsumgesiedelt: Seit Beginn des 20. Jahrhunderts betrifft das deutschlandweit mehr als 120.000 Menschen. Die jeweiligen Umsiedlungsplanungen spiegeln in hohem Maße gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Wandel wider.“ In ihrer Arbeit setzt sie sich mit verschiedenen Aspekten der Umsiedlungsthematik wie Heimat, Verlust und Erinnerung auseinander. „Der Begriff Heimat umfasst sowohl materielle als auch immaterielle Werte wie Gemeinschaft und baukulturelles Erbe. Im Falle einer Umsiedlung geht der territoriale Aspekt der Heimat verloren, hingegen kann der soziale Aspekt der Heimat prinzipiell am neuen Wohnort weitergelebt werden.“ 
Ihr Interesse am Thema der alten und neuen Heimat(en) vermutet Julia Ess auch darin, dass sie selbst schon in mehreren Städten und Ländern gelebt hat: „Bei jedem Umzug lässt man einen Ort, in dem man sich sein Leben eingerichtet hat, zurück und versucht, am neuen Ort wieder eine neue Heimat zu schaffen.“ Und sie schätzt es sehr, im Gegensatz zu den von Umsiedlungen in Braunkohlegebieten Betroffenen jederzeit wieder in ihre Heimat Vorarlberg zurückkehren zu können, „denn unter Rankweil liegt meines Wissens keine Braunkohle“, fügt sie schmunzelnd hinzu.
Aktuell leben Julia Ess und ihr Partner in einer Wohnung auf der sogenannten „Roten Insel“ in Schöneberg, einem eher ruhigen, aber gleichzeitig lebendigen Stadtbezirk, abseits der Touristenpfade. Die zahlreichen Museen, Theater und großen innerstädtischen Grünflächen schätzt sie besonders. „Aber so groß Berlin und das umfangreiche Kulturangebot auch ist, den größten Teil der Zeit verbringt man im eigenen Kiez: Ich mag meinen Kiez zwischen ‚Roter Insel‘, Akazienstraße und Nollendorfplatz sehr.“ Beruflich plant Julia Ess nächstes Jahr ihre Doktorarbeit fertigzustellen: „Anschließend wird sich zeigen, wo und wie es für mich weitergeht. Vielleicht bleibe ich in Berlin, vielleicht geht es wieder nach Österreich“ – ihr Ziel ist in jedem Fall eine wissenschaftliche Karriere im Bereich der Architekturforschung oder auch eine Tätigkeit im Feld der Architekturkommunikation.

Lebenslauf

Julia Ess, geboren am 2. Mai 1984, ist in Rankweil aufgewachsen und hat nach der Matura am BG Feldkirch ein Jahr an einer High-School in Maine (USA) verbracht. Danach hat sie Architektur an der TU Wien studiert und ein Auslandssemester an der Università IUAV di Venezia in Venedig absolviert. Seit 2012 ist die 35-Jährige freiberuflich als Autorin und Redakteurin unter anderem für das Vorarlberger Architektur-Institut tätig. Seit zwei Jahren ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Graduiertenkolleg „Kulturelle und technische Werte historischer Bauten“ der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg am Lehrstuhl Baugeschichte. Mit ihrem Partner lebt Julia Ess in Berlin und widmet sich aktuell ihrer Dissertation.

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