
„Ich würde diese Ängste nicht haben“
Wirtschaftshistoriker Dieter Stiefel (69) im Interview mit „Thema Vorarlberg“ über alte und neue Ängste, den Einfluss des Staates auf die Wirtschaft, die Kultur des Scheiterns – und den Wohlfahrtsstaat. Und für Letzteren gelte: „Das Wirtschaftswachstum ist zu gering, als dass man den Wohlfahrtsstaat ständig weiter ausbauen oder auch nur halten könnte.“
Vor gut zehn Jahren hatte der „Stern“ Österreich zum „besseren Deutschland“ gekürt. Heute zählt Österreich zu den wachstumsschwächsten Volkswirtschaften Europas. Was lief damals gut – und läuft heute falsch?
Man muss da etwas zur langfristigen Entwicklung sagen. Denn abgesehen davon, dass Deutschland bei den Reformen weiter ist, hatte Österreich zwei Sonderkonjunkturen – den Beitritt zur Europäischen Union und die Osterweiterung. Für den EU-Beitritt gilt, dass kleine Länder, wenn sie diesem großen Markt beitreten, üblicherweise für zehn, zwanzig Jahre einen wirklichen Wachstumsschub haben. Und für die Osterweiterung gilt, dass Österreich nur Vorteile hatte, im Gegensatz zu Deutschland, das mit enormem Aufwand Ostdeutschland zu integrieren hatte. Hätten wir uns dagegen die ganze Zeit nur mit Westdeutschland verglichen, wäre Westdeutschland immer vorne gewesen. Es war halt auch etwas Freude dabei, dass wir den großen Bruder endlich einmal überholt hatten! Wie auch immer: Diese beiden Sonderkonjunkturen, die uns 20 Jahre vorangetrieben haben, fallen jetzt langsam weg. Und dadurch ist Österreich praktisch wieder im Normalzustand, aus dem es wieder ins Wachstum finden muss. Zudem hat die Finanzkrise ab 2007 das Wachstum in ganz Europa, fast weltweit, reduziert. Ohne Finanzkrise wären die Wachstumsraten der Ostländer wesentlich höher, und wir hätten keine so großen Verluste gehabt, vor allem im Bankensektor.
Sie haben in einem Interview einmal gesagt: „Für Wirtschaftshistoriker sind diejenigen Zeiten interessant, die Krisenzeiten sind.“ Leben wir also in einer für Sie spannenden Zeit?
Für künftige Wirtschaftshistoriker ist es eine wahnsinnig spannende Zeit. Denn sie werden viel zu tun haben, schon allein damit, die Finanzkrise seit 2007/2008 aufzuarbeiten. Es hat ja Zeiten gegeben, die für uns Wirtschaftshistoriker langweilig gewesen sind, weil es immer nur aufwärts gegangen ist. Aber diese Krise ab 2007 …
Die Krise freut den Wirtschaftshistoriker?
Ich würde es anders formulieren: Die Medizin lernt nur durch Krankheiten. Erst mit Krankheiten erkennt man, wie ein Körper funktioniert. Und genauso ist das in der Volkswirtschaftslehre oder in der Wirtschaftsgeschichte: Erst bei Krisen können wir die Zusammenhänge erkennen und den Normalzustand feststellen. Darum ist eine Krise, vom Analytischen her, immer hochinteressant – auch wenn es natürlich schlecht ist, in ihr zu leben.
Die Krise hat jedenfalls gezeigt, wie fragil das System eigentlich ist …
Vielen Menschen ist nicht bewusst, dass grenzenloses Wachstum eigentlich undenkbar ist. Die Wirtschaft will zwar zu einem Gleichgewicht tendieren, ist aber immer labil – das ist in einem marktwirtschaftlichen Prozess, in dem Unternehmen und Konsumenten selbstständig entscheiden, unvermeidlich. Aber: Marktwirtschaft und Kapitalismus entwickeln sich durch Krisen weiter. Die Wirtschaft kann sich anpassen – sie findet aus ihren Krisen heraus.
Welche Wirtschaftspolitik wäre heute die richtige?
So generell ist das schwer zu sagen. Für einen Bauern ist eine andere Wirtschaftspolitik richtig als für einen Banker, und für einen Gewerkschafter ist eine andere Wirtschaftspolitik richtig als für einen Unternehmer. Weil es sich immer um Interessen handelt und damit immer auch um eine Verteilung des Bruttosozialprodukts. Und um die Frage, wer wieviel daran profitiert. Aber wichtig sind – erstens – der Ausbildungsstand der Bevölkerung und – zweitens – die Zuverlässigkeit des österreichischen Standorts. Diese Zuverlässigkeit haben wir immer hochgehalten, mit möglichst wenigen Arbeitskämpfen, möglichst wenigen Streiks, aber auch mit einer Gesetzgebung, auf die man sich verlassen konnte.
Klingt, als sei es um diese Zuverlässigkeit in Österreich nicht mehr so gut bestellt.
Na, schauen Sie, ich habe gerade gelesen, dass der Gesetzgeber die Voraussetzungen für Vermietungen ändert, mit den Abschreibungsbedingungen – und sie ändern sich rückwirkend. Da hat jemand investiert und sich darauf verlassen, dass dieses Modell bis zum Ende der Abschreibungen funktioniert. Und dann wird alles anders. So etwas ist nicht seriös. Und das ist nur ein Beispiel! Es dürfen keine rückwirkenden Gesetze gemacht werden! Sie müssen, wenn sie in Österreich investieren, sich darauf verlassen können, dass die Bedingungen, die jetzt herrschen, auch für die Zukunft gelten. Es ist die Verlässlichkeit, die entscheidet! Da sind Arbeitskosten nicht einmal so sehr ein wirkliches Thema. In den skandinavischen Ländern sind die Arbeitskosten auch sehr hoch, trotzdem sind sie wirtschaftlich recht erfolgreich.
Haben sich die Unternehmer früher vom Staat auch so gegängelt gefühlt?
Der alte Spruch heißt ja: „Das Klagen ist der Gruß des Kaufmanns.“ Es ist immer geklagt worden, dass die Steuern zu hoch sind. Aber der Staat hatte nie diesen Zugriff, den er heute hat, allein schon durch die Informationstechnologie. Auch sind die wirtschaftlichen Kenntnisse der Finanzbehörden heute ganz anders. Vor 30 Jahren war nicht nur das Bankgeheimnis noch solide, sondern auch das Geschäftsgeheimnis. Und wenn die Steuerbehörde damals gekommen ist, hat der arme Kaufmann nur Verluste gehabt – es war ihm schwer etwas nachzuweisen. Unternehmen sind heute viel durchsichtiger. Und das nutzt der Staat vielleicht zu viel aus.
Hat sich der Typus des Unternehmers im Laufe der Zeit geändert?
Ja. Zumindest bei großen Unternehmen. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war der typische Unternehmer ein Eigentumsunternehmer. Der typische Unternehmer heute ist ein Vorstandsmitglied, der zwar zum größten Teil so agiert, als ob es sein Unternehmen wäre – aber tatsächlich sind Unternehmer heute in der Regel Männer oder Frauen einer Organisation, während der Eigentumsunternehmer über der Organisation steht und auf eigenes Risiko arbeitet.
Apropos Risiko: In Österreich, heißt es immer wieder, gebe es keine Kultur des Scheiterns, im Gegensatz zu den USA. Wie erklärt das ein Wirtschaftshistoriker?
Das hat rechtshistorische Gründe. Es hat sich hier das Recht völlig anders entwickelt als im angelsächsischen Raum. Und das überträgt sich auf die Gesellschaft. Folge: Wenn sie bei uns in Konkurs gehen, sind sie ziemlich erledigt – nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich. In den USA haben sie das nicht. Dort akzeptiert man, dass jemand auch einmal scheitern kann und dann einen Neuanfang macht. Jemand, der in den USA Konkurs macht, darf beispielsweise Haus und Auto behalten – und kann problemlos neu anfangen. Diese Akzeptanz, das selbstverständlich jedes unternehmerische Handeln mit Risiko verbunden ist, weil es sich um Entscheidungen in die Zukunft handelt, gibt es in den USA. Interessanterweise auch in Skandinavien. Aber im deutschsprachigen Raum ist Scheitern eine Katastrophe. Und deswegen sind viele vorsichtig.
Mit der Industrie 4.0 sind auch Ängste verbunden. Forscher prognostizieren ja, dass die Industrie 4.0 jeden zweiten Arbeitsplatz vernichten könnte.
Solche Ängste sind nicht neu. Vielmehr greift diese Situation eigentlich auf Karl Marx zurück, der ja im 19. Jahrhundert schon gesagt hat, dass es der Sinn der Rationalisierung sei, dass man mit immer weniger Leuten immer mehr produziert; dass dadurch immer mehr Leute in Arbeitslosigkeit kommen, dass dadurch die Konsumenten ausfallen – und der Kapitalismus deswegen an seinem eigenen Erfolg zugrunde gehen wird. Dem haben die Liberalen schon damals, im 19. Jahrhundert, widersprochen, weil die Marktwirtschaft ständig neue Produkte erfindet – und so freigewordene Arbeitskräfte letztendlich wieder im Großen und Ganzen integriert. Ein Beispiel: Marx hat nicht mehr erlebt, dass sich ab den 1920er-Jahren der Lastwagen durchsetzt und das Automobil heute einer der führenden Wirtschaftssektoren ist. Heißt: Durch Innovationen entstehen neue Produkte, und durch die neuen Produkte entstehen neue Arbeitsplätze. Denken Sie nur an Handy oder Computer: Da sind Industrien entstanden, die es früher nicht gab! Man muss sich nur anpassen können – und entsprechend reagieren. Also ich würde diese Ängste nicht haben.
Wenn wir schon bei Ängsten sind: Ist der Mittelstand in Österreich bedroht?
Zum Mittelstand zählt, wer die materiellen und geistigen Grundlagen hat, um sein Leben zu planen – und in diesem Spektrum ist in Österreich noch immer ein sehr großer Anteil der Bevölkerung. Ich halte die Warnungen also für obsolet. Aber mit manchen Wörtern oder Phrasen kann man eben ganze Völker gefangen nehmen! Diese Wörter und Phrasen klingen stark, aber wenn man sie genau definiert, ergibt sich ein anderes Bild.
Wie sehr hat sich eigentlich der Einfluss des Staates auf die Wirtschaft seit Beginn der Zweiten Republik geändert?
Sehr stark. Es gibt eine Unmenge von Subventionen und von Eingriffen des Staates als eine Art Umverteilungsmaschine, die es früher nicht gab. Und aus diesem System werden wir erst hinauskommen, wenn wir uns klar werden, was der Staat zahlen soll und was nicht. Wenn jemand beispielsweise 100.000 Euro Einkommen pro Jahr hat, braucht der ein Kindergeld? Man wird irgendwann denen geben, die es wirklich brauchen – und diejenigen, die es nicht brauchen, in die eigene Verantwortung entlassen. Der finanzielle Druck wird in diese Richtung gehen. Aber: Wir sind staatsgläubig, schon seit den Kaiser-Zeiten. Und wenn irgendwo ein Problem auftaucht, möchten wir immer, dass der Staat etwas macht, aber letztendlich soll das nichts kosten.
In der Wirtschaft wird immer wieder beklagt, dass der Staat heute mehr denn je reglementiert, unternehmerische Freiheiten einschränkt, bürokratisiert. Deckt sich das mit historischen Beobachtungen?
Ja. Das ist sicherlich richtig. Ich kann mich erinnern, dass Heinz Fischer als Nationalratspräsident einmal gesagt hat, er werde sich über die Sommerferien das Mietengesetz ansehen und schauen, was zu vereinfachen ist. Und im Herbst hat er dann gesagt, er habe es nicht geschafft. Ständig werden neue Gesetze gemacht – und das Drama ist, dass Gesetze keine Ablauffrist haben. Neue Gesetze werden über alte gestülpt. Der Volkswirtschaftler Egon Matzner, einer der intellektuellen Sozialisten, hat in seinem Buch „Der Wohlfahrtsstaat von morgen“ schon 1982 darauf hingewiesen, dass immer neue Gesetze letztendlich zu einem Dickicht führen werden, das nicht mehr zu verwalten ist. Und auch nicht mehr zu finanzieren sein wird. Und da sind wir wieder beim Wohlfahrtsstaat und bei der heutigen Situation: Das Wirtschaftswachstum ist zu gering, als dass man den Wohlfahrtsstaat ständig weiter ausbauen oder auch nur halten könnte.
Welches Wachstum bräuchte unser Wohlfahrtsstaat in seiner jetzigen Dimension?
Das Wachstum, das auch eine weitgehende Beseitigung der Arbeitslosigkeit bringen würde, sollte bei drei, vier Prozent liegen. Real. Und wir krebsen so bei einem Prozent herum, wobei das immer auch eine Frage der Berechnung ist – ein Prozent heißt im Grunde genommen, dass wir auf hohem Niveau stagnieren. Und da muss man sich letztendlich auch überlegen, was noch sinnvoll ist und was nicht. Aber das betrifft selbstverständlich immer Interessen. Und nachdem in der Demokratie die Parteien gewählt werden wollen, sind sie ziemlich scheu, irgendwo wirklich einzugreifen. Wenn wir nochmals das Beispiel von Heinz Fischer nehmen: Im Grunde genommen bräuchten sie so etwas wie eine Revolution – sie müssten das alte Mietengesetz abschaffen und ein neues machen. Aber dann hätten sie einen Aufschrei und es wäre die Frage, ob sie noch gewählt würden.
Der einstige deutsche Kanzler Schröder hat das einst vorexerziert: Umfangreichen Reformen folgte prompt die Abwahl …
Richtig! Die haben sich damals etwas getraut. Und letztendlich, auch wenn man das in Vorarlberg nicht gerne hört, hat das auch Kreisky gemacht, der irgendwann seine 1000 Fachleute zusammengezogen und versucht hat, massiv Reformen zu machen. Die 1970er-Jahre waren ein Jahrzehnt der Reformen – der mutigen Reformen! Das wäre heute wieder anstehend, aber bei der jetzigen Konstellation ist das eher anzuzweifeln.
Soll heißen: Es bräuchte einen Visionär an der Spitze?
Ja, einen, der es auch versteht, die Leute mitzureißen. Wir erleben ja eine Krise auf hohem Niveau. Selbst wenn die meisten meinetwegen fünf Prozent weniger Einkommen hätten, würden wir immer noch sehr gut leben! Das ist ja nicht wie in der Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre, in der es wirklich um die Existenz gegangen ist. Aber es ist das alte Ding: Es ist jeder dafür, dass der Staat spart – aber bitte nicht bei mir anfangen!
Vielen Dank für das Gespräch!
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