KI und Arbeitswelt
Ein Daguerrscher Moment
Wir befinden uns heute in einer Arbeitswelt, die sich für den Einsatz Künstlicher Intelligenz bereitmacht. Man verspricht sich Wachstum für eine Arbeitswelt, die zuletzt keine nennenswerten Produktivitätszuwächse mehr zu verzeichnen hatte und in vielen Branchen unter Fachkräftemangel leidet. Auch ich bin überzeugt davon, dass die KI ein großes Versprechen für unsere Arbeitswelt bietet, aber ich meine moralisches Wachstum: eine bessere, verantwortungsvollere und menschlichere Arbeitswelt. Wir befinden uns nämlich an einem Zeitpunkt, den ich einen Daguerreschen Moment nenne. Einen Moment, in dem eine technologische Innovation zunächst als Bedrohung für unsere Arbeit erscheint, eine Irritation des Normalen also, aber dann zu einer wahren Entfesselung beiträgt, einem besseren New Normal.
Doch was hat ausgerechnet der Pariser Pionier der Fotografie Louis Daguerre, ein Mann des 19. Jahrhunderts, damit zu tun? Um unsere Zukunft zu verstehen, müssen wir die Geschichte kennen. Wer sie nicht kennt, dem kann alles, was kommen wird, nur Angst machen. Folge mir deswegen in das Paris des 19. Jahrhunderts (hier musst du dir jetzt ein Zeitmaschinen-Surren vorstellen).
Das erste Pariser Bild: Von der Plackerei, ein Maler des Realismus zu sein
Es ist das Jahr 1857 und Jean-François Millet, ein ernster Mann aus der Normandie, hat gerade ein großes Ölbild fertiggestellt. Mit triumphierender Geste enthüllt es der Malerfürst im Salon de Paris, dem Zentrum des französischen Kunstbetriebs. Die Ährenleserinnen, so der Name, ist ein bedeutendes Gemälde im damals dominierenden Stil des Realismus. Drei Bäuerinnen suchen ein geerntetes Feld mühsam nach Weizenstielen ab. Ebenso mühsam muss es für Millet gewesen sein, dieses Bild zu malen. Denn im 19. Jahrhundert verpflichteten sich die meisten Maler dazu, mit Ölfarben absolut realistische Bilder zu malen. Also nur das zu malen, was sie sahen und wie sie es sahen, wie Maschinen.
Die Ährenleserinnen, für das vorher zahlreiche Skizzen angefertigt wurden, sind meisterhaft, was Licht, Konturen und Schattenfall betrifft. Heute würde man sagen: „Sieht aus wie ein Foto.“ Und dann wahrscheinlich hinzufügen: „Etwas langweilig sieht‘s auch aus.“ Jean-François Millet, der während der Arbeit daran seinem Pariser Studio den Rücken kehren musste, weil dort eine Choleraepidemie herrschte, und der dann rund um die Uhr in einem Vorort an dem komplexen Ölgemälde schuftete, würde uns entgegnen: „Hab gefälligst Respekt, so ein realistisches Gemälde ist verdammt viel Arbeit.“ Malte er deshalb immer hart arbeitende Menschen? Gab ihm das Trost bei seiner Augen schindenden, wegen der Ölfarben auch durchaus toxischen und extrem langwierigen Malarbeit?
Das zweite Pariser Bild: Ein anderer betritt die Bühne – und bedroht die Malerei
Entscheidend für unseren heutigen Blick auf Künstliche Intelligenz ist, was parallel zu der Enthüllung dieser so akkuraten wie durchaus auch etwas langweiligen Gemälde passierte. Wir wissen heute nicht, ob dieser andere Pariser Maler einfach keine Lust auf penible Fleißarbeiten hatte – Faulheit ist ja ein großer Innovationstreiber – oder eher von einer neuen fotorealistischen Ästhetik träumte. Wir wissen aber, dass er die Fotografie erfand.
Es ist der große Auftritt von Louis Daguerre! Der etwas verschmitzt aussehende kleine Mann malte Theaterkulissen und experimentierte nebenbei – inspiriert von der Beleuchtungstechnik der Theater – in seinem Pariser Apartment mit Lochkameras, Silberkörnchen und Kupferplatten. Dabei entstanden die später so bezeichneten Daguerreotypien, nicht fotorealistische Gemälde, sondern echte Fotos. Daguerres Pariser Straßenansicht von 1839 gilt als die älteste Fotografie eines Menschen. Und was treibt dieser Mensch? Er arbeitet! Wir sehen einen Schuhputzer an einer Straßenecke, unten links auf der Fotografie.
Diese Pionierleistung der Fotografie war aus Perspektive der Malerei nichts anderes als eine Automatisierungstechnologie, die Kamera hat so gesehen eine „Intelligenz“, weil sie erkennen und festhalten konnte, was man ihr zeigt. Zu gerne würde ich in diese Zeit reisen. Vielleicht in das Studio von Millet. Gewiss dachte der ernste Mann über die Zukunft seiner Arbeit nach, als er von Daguerre erfuhr. Über seinen Status und über die Zukunft der Malerei. Was wird ihm durch den Kopf gegangen sein, als er zum ersten Mal eine Fotografie sah? Ahnte er, dass seine in jahrelanger Arbeit erworbene Technik des fotorealistischen Malens nun durch eine Maschine ersetzt wird, die damit auch seine Machtposition in Frage stellt? Konnte er sich freuen, dass diese Plackerei schon bald nicht mehr nötig sein wird? Oder redete er sich ein, dass Maschinen das niemals so können werden, wie er und seine Kollegen es können? Wollte er die Maschinen verbieten und Politiker für sich einspannen, weil Daguerre und seine Komplizen den Pariser Standortvorteil der Malerei bedrohte? Brachte er vielleicht sogar das Datenschutzargument vor, weil Fotografien ja Persönlichkeitsrechte berühren? Nun, das wohl nicht …
Aber all diese Fragen tauchen heute wieder auf, all diese Argumente werden heute wieder vorgebracht, wenn wir über Künstliche Intelligenz nachdenken und fragen, welche Arbeit uns bleibt. Kritisieren wir die Entwicklungen aus ernsthafter Sorge oder aus Sorgen um die eigene Position? Deswegen ist es entscheidend zu verstehen, wie es mit der Malerei in Zeiten der Fotografie weiterging. Sie wurde nicht abgeschafft, nein, sie wurde befreit!
Das dritte Pariser Bild: Aus Bedrohung wird Befreiung
Wie eine Explosion schlug Der Haus-engel oder der Triumph des Surrealismus ein – und mit ihm viele andere Bilder des Surrealismus. Max Ernst malte das Gemälde 1937 – ebenfalls in Paris. Das Ergebnis ist ein bisschen spannender als die zu dem Zeitpunkt achtzigjährigen Ährenleserinnen. Wie so viele Bilder aus der Epoche von Max Ernst zeigt es, wie die Fotografie zur Entfesselung der Malerei führte: Die surrealistischen Künstler konnten plötzlich Ideen, Erfahrungen und Gefühle mit völlig neuen Methoden ausdrücken. Sur-real meinte auch nicht un-realistisch, sondern über-realistisch, realer als ein banales Abbild, weil es eben auch die emotionale Erfahrung des Menschen miteinfließen lässt. Nun ging es nicht mehr um die maschinenhafte Illusion eines realen Abbildes – das konnte die Fotografie ja viel besser –, es ging um das Sehen mit allen Sinnen.
Dieser Entfesselungsprozess begann bereits zu Millets Lebzeiten, aber ich will keine kunsthistorische Vorlesung halten. Entscheidend ist: Für die neue Generation der Maler war der Daguerresche Moment, war die Automatisierungstechnologie der Fotografie nicht Bedrohung, sondern Befreiung. Sie nahmen diese dankend an. Entscheidend ist ferner: Für die Maler des Realismus war es hingegen schwer, sich aus alten Denk- und Malweisen herauszuarbeiten.
Die neue Malerei aber blühte auf. Bilder zeigten Gefühle, Träume, neue Schönheit, radikale Energie. Auch der Prozess des Malens wurde zum Ereignis, wenn wir an spätere Action Painter wie Jackson Pollock denken. Man kann festhalten, dass Arbeitsprozesse und -ergebnisse durch die scheinbar bedrohliche Automatisierungstechnologie radikal vermenschlicht wurden.
Unsicherheit, Widerstand, Lähmung, Anpassung, Akzeptanz – technologischer Wandel läuft stets nach diesem Muster ab. Er macht uns Angst und fordert gerade jene heraus, die ihre Machtpositionen auf nunmehr veralteten Fähigkeiten aufbauten. Plötzlich ist man von gestern. Doch Wandel besitzt immer das Potenzial für besseres Arbeiten, das weniger Knochenarbeit ist – so wie die Fotografie – oder eben spannender und sinnvoller – wie die surrealistische Malerei.
Die drei Pariser Bilder sollen uns Mut machen, wenn wir uns mit dem Wandel der Intelligenzformen auseinandersetzen: Intelligenz, die menschlich ist (MI), Intelligenz, die künstlich ist (KI), vielleicht sogar Intelligenz, die ökologisch ist (ÖI). Das Paris der Gegenwart hat übrigens mit dem 9. Arrondissement, auch „Silicon IX“ genannt, eines der wichtigsten Ökosysteme für die Entwicklung Künstlicher Intelligenz, und im 13. Arrondissement mit Station F, den größten Start-up-Hub der Welt. Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.
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