Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Man sollte nie trinken, wenn es einem schlecht geht“

März 2016

Der renommierte Wiener Suchtexperte Michael Musalek (60) sagt, dass „in Österreich jeder dritte bis jeder vierte Mann einen problematischen Alkoholkonsum hat“ – und bei suchtkranken Frauen extreme Zuwachsraten zu verzeichnen sind. Der Primar und Direktor des Anton Proksch Instituts im Interview mit „Thema Vorarlberg“ – über Alkohol, Sucht und den Ausweg namens Lebensfreude.

Seiler und Speer grölen „Letzte Nocht woa a schware Partie fia mi“ – und Österreich singt das Lied über durchzechte Nächte mit. Ist das bezeichnend für den lockeren Umgang mit Alkohol hierzulande?

Ja, leider. Alkohol ist ein Kulturgut bei uns. Wir haben aber einen hochproblematischen Umgang damit. Probleme, die mit dem Alkohol verbunden sind, wie schwere Berauschung und chronisches Einnehmen, werden bagatellisiert, nach dem Motto „Ein Räuscherl in Ehren kann einem niemand verwehren“. Aber wenn dann jemand abhängig wird, wenn er krank wird, wird das dramatisiert. Dann möchte man mit diesem Menschen nichts mehr zu tun haben. Zuerst wird bagatellisiert, dann dramatisiert. Und da passt dieses Lied wie die Faust aufs Auge.

Sie haben ja einmal launig angemerkt, dass die Österreicher die Deutschen beim Trinken und Rauchen locker schlagen …

Beim Fußballspielen schaffen wir das ja nicht wirklich, aber beim Trinken und  vor allem beim Rauchen schlagen wir fast alle in Europa. Beim Trinken sind wir immer im Spitzenfeld, unabhängig, ob das nun der Pro-Kopf-Verbrauch ist, unabhängig, ob man die vergleicht, die einen problematischen Konsum aufweisen oder diejenigen, die dann schon suchtkrank sind. Wir müssen davon ausgehen, dass wir in Österreich 350.000 Alkoholabhängige haben; das sind immerhin fast fünf Prozent der Bevölkerung, die wirklich suchtkrank sind. Da spreche ich noch gar nicht von denen, die einen problematischen Konsum haben.

Und das wären wie viele?

In Österreich hat jeder dritte bis jeder vierte Mann einen problematischen Alkoholkonsum. In Vorarlberg sind wir bei diesen Zahlen übrigens ein bisschen niedriger, da haben ungefähr 20 Prozent einen problematischen Alkoholkonsum. Das hängt aber weniger mit Westen und Osten zusammen als vielmehr mit der Tatsache, dass dort, wo viel Alkohol produziert wird, auch mehr getrunken wird. Problematischer Alkoholkonsum heißt, dass der Betroffene Alkohol chronisch, also regelmäßig, zu sich nimmt, in einer Größenordnung, die über 420 Gramm reinem Alkohol pro Woche liegt – eine Flasche Wein oder drei große Bier am Tag, und das sieben Mal die Woche. Und er trinkt in der Regel auch, um die Wirkung des Alkohols zu haben. Er nimmt den Alkohol als Medikament ein.

Was hat das mit den 420 Gramm auf sich?

Der Wert sagt aus, dass man, wenn man mehr als 420 Gramm reinen Alkohol pro Woche zu sich nimmt, mit sehr, sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine Leberschädigung davonträgt. Diese Grenze kommt aus der inneren Medizin und ist dann auf das problematische Konsumverhalten übertragen worden. Wir aus der Suchtbehandlungsbranche haben diesen Wert allerdings nicht so gerne. Für uns ist viel wichtiger, ob jemand regelmäßig trinkt, also ob er noch Trinkpausen oder keine mehr hat, ob er eher geringe Mengen als Genussmittel oder massiv rauschhaft trinkt und ob er, und das ist das eigentlich Gefährlichste, Alkohol als Medikament einsetzt. Das ist dann der Fall, wenn man Alkohol nicht bei einem Anlass trinkt, bei dem es etwas zu feiern gäbe, sondern um Spannungen loszuwerden, um einschlafen zu können, um eine Sitzung zu schaffen, um das Familienleben zu Hause auszuhalten …

Jeder dritte bis jeder vierte Mann hat also einen problematischen Alkoholkonsum. Und bei den Frauen?

Bei den Frauen sind die Zahlen etwas geringer. Da sind wir vermutlich bei zehn, fünfzehn Prozent, die einen problematischen Alkoholkonsum haben. Aber: Frauen haben extreme Zuwachsraten. Vor 15 bis 20 Jahren kam auf vier alkoholkranke Männer eine alkoholkranke Frau, heute ist absehbar, dass in naher Zukunft auf drei alkoholkranke Männer bereits eine alkoholkranke Frau kommen wird. Und bei jugendlichen Problemkonsumenten, also bei denjenigen, die schon vor dem 16. Lebensjahr regelmäßige Rauscherfahrungen haben und regelmäßig hoch dosierten Alkohol zu sich nehmen, gibt es bereits ein Verhältnis von 2:1. Das heißt, auch bei erwachsenen Alkoholkranken wird in ungefähr 20 Jahren auf zwei alkoholkranke Männer eine alkoholkranke Frau kommen.

Und wie erklärt sich der Experte diese Zunahme?

Es gibt viele Einzelfaktoren, aber einen Faktor, der alles schlägt und das ist die Verfügbarkeit von Alkohol. Das heißt: Wie leicht ist es für mich, Alkohol zu trinken? Und da hat sich extrem viel verändert. Meine Großmutter hätte sich noch bis ins Grab geniert, wenn sie an einem Tag wie heute beispielsweise, also einem beliebigen, um 16 Uhr nachmittags in einem Kaffeehaus ein Achtel Wein getrunken hätte. Das hat man früher bei einer Geburt gemacht oder bei einem Todesfall, aber sonst wäre man als Frau nie auf die Idee gekommen, unter der Woche in der Öffentlichkeit Alkohol zu trinken. Und heute? Sind doch ein, zwei Gläschen nach der Arbeit nichts Besonderes mehr. Die Berauschung der Frau ist heute etwas durchaus Akzeptiertes, also viel akzeptierter als früher.

Sie sagten in einem Vortrag, dass jedes Suchtmittel großartig sei. War das zynisch gemeint?

Weder zynisch noch sarkastisch. Das ist schlichtweg die Wahrheit. Jedes Suchtmittel muss großartig sein, sonst würde es ja auch nicht genommen. Ich lege so viel Wert darauf, dass das in das Bewusstsein der Menschen kommt, weil dort auch die Problematik des Aufhörens liegt. Man verzichtet wirklich auf etwas Großartiges. Derjenige, der ein bestimmtes Suchtmittel nicht großartig findet, hat ja auch kein Problem damit – für mich ist es beispielsweise urfad, an einem einarmigen Banditen zu spielen. Da langweil’ ich mich schon, wenn ich nur zum Automaten hingehe. Beim Spielsüchtigen ist das anders …

Sie sagen, dass jeder, der trinke, auch die Chance habe, Alkoholiker zu werden.

Exakt. Es gibt kein Gen oder sonst etwas, das uns quasi daran hindern würde, abhängig werden zu können. Wenn man lange genug viel trinkt, hat jeder eine gute Chance, alkoholkrank zu werden. Da ist niemand ausgeschlossen.

Wie entsteht denn eigentlich Sucht?

Es gibt viele Ursachen. Wenn wir uns aber anschauen, wie jemand alkoholkrank wird, dann ist das fast immer die gleiche Geschichte: Es sind diejenigen gefährdeter, die schon als Jugendliche den Alkohol sehr gut vertragen, für die das Suchtmittel eine hohe Attraktivität hat und die in eine Gruppe hoch­dosierter Konsumenten kommen, die also einen problematischen Konsum aufweisen. Noch kann man das ganz gut kontrollieren und über eine lange Zeit steuern. Jeder kennt vermutlich solche Menschen, die eigentlich relativ viel trinken, aber nicht wirklich ein Problem damit haben – bis es dann zu einem Einbruch kommt, zu einer Depression, zu Angststörungen oder Schwierigkeiten im Job, zu Mobbing oder privaten Problemen, zu was auch immer. Und dann kann man es nicht mehr steuern. Das große Problem ist, dass wir dem Menschen nicht sagen können: „Trinken Sie bis zum 25. März, dann geht’s noch, ab dem 26. März werden sie dann abhängig sein.“ Das geht leider erst post eventum.

Ist Alkoholismus eigentlich vererbbar?

Vorsicht! Wir würden ja auch nicht von einem Kardiismus sprechen, wenn jemand einen Herzinfarkt hat. Also vermeiden wir auch das Wort Alkoholismus, weil es kein -ismus ist, sondern schlicht eine Krankheit. Aber vererbbar ist es nicht. Es ist schon so, dass es genetische Faktoren gibt, die jemandem ein bisschen eine höhere Chance geben, dass er alkoholkrank wird. Aber: Umweltfaktoren, vor allem die Verfügbarkeit und das Aufwachsen in einem sogenannten alkoholpermissiven Milieu, spielen da eine viel größere Rolle.

Die Soziologie ist also ausschlaggebend, nicht die Genetik?

Das alkoholpermissive Milieu ist das eigentlich Entscheidende, weil es einem dann nicht auffällt, dass man schon viel trinkt. Wenn ich beispielsweise mittags ein kleines Bier zum Essen trinken würde – jetzt unabhängig davon, dass ich mich selbst entlassen müsste, bei unserem Alkoholverbot am Anton-Proksch-Institut – würde jeder fragen, was ist jetzt mit dem Musalek los, der trinkt ja schon am Mittag ein Bier. Wenn ich dagegen mittags in ein Gasthaus gehe, dann fällt das gar nicht auf, wenn ich dort sogar zwei kleine Bier trinke. Und wenn ich ein Politiker wäre und schon in der Früh die erste Eröffnung habe und dort ein Glas trinke und beim nächsten Termin nochmals eins, habe ich unter Umständen schon am Nachmittag eine hohe Menge und bin leicht bei den 420 Gramm mit dabei.

Hat Alkoholkonsum mit dem Willen nichts zu tun?

Es gibt ja dieses Modell von Menschen mit einem starken und einem schwachen Willen. Das ist mit der beobachtbaren Realität aber nicht in Übereinstimmung zu bringen. Das hat damit nichts zu tun. Es gibt natürlich verschiedene Motivationsgrade, und jeder von uns weiß: „Wenn man motiviert ist, etwas zu tun, bringt man unglaublich viel Kraft auf.“ Wenn man aber etwas nicht so gerne möchte, dann lässt man gleich ganz stark nach. Und das große Problem für einen Suchtkranken ist, dass die Abstinenz, die meist ein zumindest wesentliches Teilziel darstellt, ja nicht sehr attraktiv und daher kein primär anstrebenswertes Ziel für den Betroffenen ist. Und dann ist es auch um die Motivation eher schlecht bestellt …

Sie kümmern sich seit vielen Jahren um Suchtpatienten. Ihr Ausweg lautet: Freude zurückgewinnen, Leben zurückgewinnen.

Ich habe ein Therapieprogramm entwickelt, das Orpheus-Programm. In diesem Therapieprogramm geht es darum, das Leben so viel schöner und so viel freundvoller zu empfinden, dass das Suchtmittel im Idealfall sogar zum Störfaktor wird, aber in jedem Fall zumindest an Attraktivität verliert. Ein Beispiel: Sie sind in einer Beziehung, und irgendwie funktioniert das Ganze nicht mehr so richtig. Sie wissen, dass Ihnen das schadet, aber Sie können nicht loslassen. Aber was ist, wenn man einen neuen, sehr attraktiven Partner oder eine neue, sehr attraktive Partnerin kennen- und lieben lernt? Dann können Sie sich von der ersten Beziehung viel leichter trennen. Genauso ist es auch beim Alkoholkranken: Er kann sich ebenfalls viel leichter vom Alkohol trennen, wenn er dafür etwas bekommt, das einfach viel schöner ist. Und das ist für uns die Lebensfreude.

Sie ordnen in der Therapie also diese Rangliste neu, diese persönliche Prioritätenliste.

Genau. Es geht um eine Umwertung der Werte, aber in dem Sinne, dass man das Leben mit Schönem anreichert. Und deswegen heißt dieses Orpheus-Programm auch so. Sie kennen doch sicher die Geschichte des Odysseus mit den Sirenen, die fantastisch gesungen und eine hohe Anziehungskraft gehabt haben. Wenn man ihnen jedoch zu nahe gekommen ist, hat man das mit dem Leben bezahlt. Das ist ein eindrucksvolles Sinnbild für Suchtmittel. Odysseus hat sich an den Mast binden lassen und ist so mit aller Gewalt, aller List und aller Ausdauer an diesen Sirenen vorbeigeschrammt. So war früher auch die Therapie bei Suchterkrankungen. Auch Orpheus ist bei den Sirenen vorbeigekommen. Er hat aber eine ganz andere Strategie gewählt, um die Sirenen zu überwinden – er machte mit seiner Leier die schönere und lautere Musik und übertönte damit die Gesänge der Sirenen. Und damit waren die Sirenen wirkungslos. Sie haben sich ins Meer geworfen, sind ertrunken, und seither gibt’s auch keine Sirenen mehr. So erfolgreich sind wir mit dem Programm nicht immer, dass sich die Sirenen gleich ins Meer werfen – aber das Grundprinzip ist, das Leben mit so viel Schönem anzureichern, dass das Schöne des Suchtmittels an Attraktivität verliert.

Eine Frage können wir Ihnen nicht ersparen: Können Sie selber mit gutem Gewissen ein Glas Bier oder ein Glas Wein trinken?

Ja natürlich. Ich lebe nicht abstinent, ich bin aber in einer Größenordnung des Alkoholkonsums, in der ich noch nicht aufhören muss. Ich habe keine Zeichen einer Abhängigkeit. Aber ich könnte natürlich, wie jeder andere auch, ebenfalls abhängig werden, wenn ich nur lange genug viel trinken würde.

Und Ihr Ratschlag lautet?

Man sollte einfach lernen, kompetent mit dem Medium Alkohol umzugehen. Alkohol ist ja per se nichts nur Schlechtes. Er wird nur dadurch schlecht, dass wir nicht damit umgehen können. Man kann schon einmal ein, zwei, drei Gläser trinken. Aber es muss halt im richtigen Kontext sein. Man sollte nie trinken, wenn es einem schlecht geht, man sollte nicht in hohe Dosierungen kommen und – ganz wesentlich – nicht regelmäßig trinken. Und man sollte schon gar nicht tagsüber, gar am Vormittag, mit dem Trinken anfangen. Dann kommt man automatisch in problematische Größenordnungen.
 
Vielen Dank für das Gespräch!

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