Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Sie wollen nur, dass die Gegenwart nie endet“

September 2019

Philipp Blom (49), Historiker und Autor, sagt im Interview mit „Thema Vorarlberg“, dass sich in den nächsten Jahrzehnten alle großen Achsen in unserer Gesellschaft drehen werden:
„Es bräuchte jetzt rapide und radikale Reaktionen.“ Ein Gespräch über Klimaschutz, die demonstrierende Jugend – und eine „groteske“ Einstellung.

Sie stellen in Ihrem Buch die Frage, was die Menschen sehen würden, wenn sie das heurige Jahr aus einer Entfernung von zwei oder drei Generationen betrachten könnten. Was würden die Menschen denn sehen, Herr Blom? 
Wir würden eine Zeit sehen, die mitten in einem riesigen historischen Umbruch steckt und von diesem Umbruch nichts wissen will. Anstatt sich vorzubereiten und sich zu wappnen, anstatt sich Strukturen zu geben, versucht diese Zeit den Umbruch zu verleugnen, so weitgehend, wie er ist. Und das betrifft vor allem zwei Dinge: die katastrophalen Veränderungen der Natur, von der Klimakatastrophe bis hin zum Arten­sterben und die enormen Veränderungen, die die Digitalisierung nicht nur für die Arbeitswelt, sondern überhaupt für das gesamte Funktionieren einer Gesellschaft bringen wird.

Sie schreiben, dass man im Rückblick auf die heutige Zeit sagen werde: Die Zukunft war damals im Grunde ausgesperrt worden. 
Unsere Gesellschaften wollen in vielerlei Weise eigentlich nur, dass die Gegenwart nie endet. Sie wollen keine Zukunft gestalten, mehr noch, sie wollen die Zukunft verhindern. Denn die meisten Menschen haben inzwischen begriffen, dass die Zukunft nicht noch bequemer, noch wohlhabender und noch sicherer wird, und wollen deswegen vermeiden, die Zukunft überhaupt anzufangen. Das ist eine Tragödie. Denn in Unsicherheit liegt immer auch eine Chance. Wir könnten in dieser Transformation der Gesellschaft sehr positive Dinge schaffen. Aber wenn wir diese Veränderungen, die geschehen, nicht annehmen, dann werden wir auch nicht auf sie vorbereitet sein. 

Ist den Menschen kollektiv nicht bewusst, was sich da abzeichnet?
Das ist den meisten nicht bewusst. Obwohl es ja nicht mehr nur darum geht, wissenschaftlichen Untersuchungen oder Projektionen zu glauben. Man muss ja nur vor die Türe gehen. Jedes der vergangenen Jahre hat neue Hitzerekorde in verschiedenen Orten der Welt aufgestellt. 16 der 17 heißesten jemals gemessenen Jahre lagen zwischen 2000 und 2017. Es geht also nicht mehr darum, nur einen kleinen Ausreißer zu verzeichnen. Nein! Das ist das neue Muster, das ist die neue Realität. Und angesichts der Tatsache, dass wir das alles nicht nur nachlesen können, sondern tatsächlich auch am eigenen Körper erleben, muss man doch sagen, dass wir darauf sehr wenig reagieren.

Weil die Menschen nicht wollen, dass die Gegenwart endet, wie Sie zuvor sagten?
Ja. Dabei kann die Gegenwart nicht immer währen. Und wenn sich eine Gesellschaft weigert, eine Zukunft zu haben, dann ist das so, als würde man sich weigern, älter zu werden. Das ist eine Attitüde, die man eine Weile durchhalten kann, aber dann wird es grotesk. Und gefährlich. Denn die alten Strukturen lassen sich nur noch aufrechterhalten, indem sich die westlichen Gesellschaften Zeit auf Kredit kaufen. Doch dieser Kredit muss natürlich zurückgezahlt werden, und zurückgezahlt wird er von einer nächsten Generation. Deswegen halte ich diese Jugendproteste der fridays for future für das Positivste und vielleicht Wichtigste, was seit langem passiert ist. Wir leben in einer Notstandssituation, aber es gibt in der ganzen entwickelten Welt keinen Politiker und keine Politikerin, die das auch sagen würden. Dabei reden wir nicht mehr von einem Katastrophenszenario. Wir reden von der Realität. Joseph E. Stiglitz, Nobelpreisträger für Ökonomie, hat erst vor kurzem erklärt, die Klimakatastrophe sei unser Dritter Weltkrieg. 

Das ist ein drastischer Ausdruck …
Das trifft ungefähr die Dimension, die das hat. Wir erleben doch jetzt schon, dass alle Voraussagen der Klimawissenschaft wahr werden, nur mit einer Einschränkung: All diese Modelle treten wesentlich schneller ein, als ursprünglich gesagt worden ist. Das Eis an den Polarkappen schmilzt ab, 70 Jahre schneller als prognostiziert. Ich war drei Tage vor unserem Gespräch in den Niederlanden und habe gesehen, wie ein Deich um drei Meter erhöht worden ist. Für die Niederländer ist das bereits ein existenzielles Problem. Wie werden wir leben, wenn die Ozeane um zehn Meter ansteigen, was durchaus realistisch ist bei zwei Grad Temperaturanstieg? Wie werden wir leben, wenn sich der sogenannte Weizengürtel der Welt pro Jahr um 20 Kilometer vom Äquator weiter wegbewegt? Wie werden wir leben, wenn ganze Besitzstrukturen und Lebensmodelle zerstört werden? 

Sie sagten, dies sei bereits die Realität.
Wenn in früheren Jahrhunderten eine Zivilisation beschlossen hat, alle Bäume abzuholzen, dann ist sie auch untergegangen. Aber das war ein lokales Ereignis. Es gab keine Auswirkungen auf die Welt. Doch in unserer heutigen globalisierten Welt sind wir nicht mehr isoliert von den Veränderungen. Wir sind nicht mehr isoliert, nicht von den Flüchtlingsbewegungen, nicht von der Rohstoffversorgung und auch nicht von der Versorgung mit Nahrungsmitteln, ganz zu schweigen von Wetterphänomenen, Finanzströmen, Terrorismus. Wir sind in einem globalen Notstand, den wir nach Gesichtspunkten eines Notstandes beantworten müssen. Gesten reichen bei weitem nicht. Es genügt nicht, Plastikstrohhalme zu verbieten oder zu sagen, wir könnten 2050 eventuell schon erdölfrei sein. Wir müssten das in zehn Jahren schaffen!
 
Der große Vorteil des reichen Westens sei in gewisser Hinsicht auch sein Fluch, heißt es in Ihrem Buch. Geht es vielen Menschen schlichtweg zu gut, als dass sie sich auf einschneidende Veränderungen einlassen wollen?
Ich weiß nicht, ob es den Menschen zu gut geht. Man wünscht sich ja, dass es uns so gut geht wie möglich. Aber, wissen Sie, das Problem ist, dass wir wie ein Junkie an der Nadel hängen – und durch diese Nadel fließt Erdöl. Das hat uns als Gesellschaft ein enormes High beschert und unsere Produktivität vervielfacht. Es hat uns auch erlaubt, wissenschaftliche Entwicklungen und industrielle Prozesse voranzutreiben; es hat uns auch erlaubt, das darf man nicht vergessen, etwas so Teures zu bezahlen wie eine parlamentarische Demokratie. Aber im Moment beginnen uns die Nebenwirkungen dieses Wundermittels zu überwältigen, und wir können uns nicht mehr leisten, an dieser Nadel zu hängen. Wir wären also klug, zu erkennen, dass uns diese fossil befeuerte Produktivität an eine bestimmte Stelle katapultiert hat, aber auch dass wir jetzt der Entwicklung von Alternativenergien absolute Priorität geben müssen. Und wir wären klug, zu erkennen, dass wir unseren Konsum beschränken müssen, um im Frieden mit der Natur weiterbestehen zu können. Wir müssen jetzt Gesellschaften, Wirtschaftssysteme und soziale Systeme schaffen, die angesichts der Digitalisierung und des Klimawandels auch in 50 Jahren noch funktionieren können. Und 50 Jahre sind kein langer Zeitraum! Gerade für Menschen, die Kinder haben, ist das nur ein kleiner Horizont. Wir müssen jetzt Strukturen schaffen, die resilient genug sind, zu absorbieren, was auf uns zukommt.

Sie hatten die Jugend-Proteste erwähnt. Hat die Jugend in Ihrem Idealismus erkannt, was den Erwachsenen in ihrer Saturiertheit noch verwehrt ist – dass es ein Umdenken braucht?
Ich weiß nicht, ob das Idealismus ist. Man kann es auch Pragmatismus nennen. Wissen Sie, ich selbst werde die schlimmsten Effekte der Klimaveränderung nicht mehr miterleben. Aber wenn ich heute 17 Jahre alt wäre, dann wäre das etwas anderes. Dann stünde es in meinem eigenen Interesse, eine Welt zu erhalten, in der man noch Luft atmen kann. Und das ist keine Frage, wo man politisch steht, dieses Thema überspringt alle Ideologien. Junge Menschen haben eine ganz andere Dringlichkeit, mit dem Kommenden umzugehen. Bis zu einem gewissen Grad stecken wir alle in einem System, das auf einem Modell aufbaut, das nicht mehr zu erhalten ist: Auf dem Modell des endlosen fossil angefeuerten Wirtschaftswachstums. Da hängen Lebensentwürfe, Karrieren, Reichtümer, Privilegien und Machtpositionen dran, dies wird niemand gerne freiwillig aufgeben. Umso wichtiger ist die Entwicklung, dass junge Menschen – die eben noch nicht so intensiv in diesen Netzwerken stehen – sagen, dass sie dieses System nicht mehr wollen, das sie vergiftet.

Sie messen, was das heutige System betrifft, Edward Bernays große Bedeutung bei. Was hat es denn mit diesem Mann auf sich?
Der US-Amerikaner Edward Bernays, ein Neffe übrigens von Sigmund Freud, war einer der ersten Publizisten in New York. Als nach dem Ersten Weltkrieg das Problem entstanden war, dass die auf den Krieg umgestellte Wirtschaft in Friedenszeiten mehr produzierte, als die Gesellschaft absorbieren konnte, war Bernays auf eine kluge Idee gekommen. Er hatte gesagt: Wer den Menschen mehr Sachen verkaufen will, darf nicht das Produkt verkaufen, er muss einen Traum verkaufen, der mit diesem Produkt assoziiert ist. Man darf ein Auto also nicht damit bewerben, dass es beispielsweise nie eine Reparatur braucht, man muss es damit bewerben, dass derjenige, der dieses Auto fährt, zum echten Mann wird. Bernays hat das formalisierte Träume-Verkaufen, ich will nicht sagen, erfunden, aber doch sehr weit vor­angetrieben. Wir leben immer noch mit seinen Ideen. 

Wobei sich die Sache gewandelt hat …
Anfang des 20. Jahrhunderts hatte es bei weitem noch nicht diese Art von Konsumbewusstsein und Konsumgesellschaft gegeben, die es heute gibt. Die Menschen haben sich ihre Identitäten in dieser Zeit aus etwas Anderem konstruiert, als aus dem, was sie anhatten und aus den Autos, die sie fuhren. Heute dagegen konsumieren wir wie selbstverständlich, um uns Identitäten zu schaffen. Weil ich dieses Hemd trage und aus jenem Auto steige und meine Uhr von dem und jenem gemacht ist – das sind soziale Signale. Ich brauche diese bestimmte Uhr nicht, um die Zeit zu sagen, ich brauche die Uhr, um andere Leute verstehen zu lassen, wer ich bin. Unsere Identitäten werden heute über Konsum erstellt. Wenn man allerdings sieht, wie radikal sich das im vergangenen Jahrhundert geändert hat, kann man auch annehmen, dass die Abkehr von diesem Modell in Gesellschaften nicht einmal katastrophal sein muss. Früher hatten Menschen andere Möglichkeiten, sich Identitäten zu schaffen, etwa durch die Erfüllung eines sozialen Auftrags oder durch ehrenwertes Verhalten. Das kann auch künftig wieder so sein. Also sind wir aufgefordert, ein neues identitätsstiftendes Modell zu finden.

Sie wollen sich dezidiert nicht als Untergangsprophet verstanden wissen. 
Ich bin kein Untergangsprophet. Ich habe auch keine Information, die niemand anders hat. Ich versuche nur, Dinge etwas weiter, systemischer und vernetzter zu denken. Die sogenannte Kleine Eiszeit verdeutlicht beispielsweise den Zusammenhang zwischen Klimawandel und kultureller Evolution. Eine Abkühlung von etwa zwei Grad Celsius, die gegen die Mitte des 16. Jahrhunderts eingesetzt hatte, war auf ein spätmittelalterliches, feudales Europa getroffen und hatte zu verheerenden Ernteausfällen und Hungersnöten geführt. Doch gegen Ende der Kälteperiode, um 1680, hatten sich diese spätmittelalterlichen Gesellschaften in frühkapitalistische verwandelt, die miteinander Handel trieben und florierten. Gesellschaften hatten auf diese Kleine Eiszeit reagiert und wurden andere, auch das Denken der Menschen über sich selbst änderte sich. Dinge wie Aufklärung und die Ideen von Menschenrechten und von Toleranz wurden politisch wirksam; vieles wandelte sich. Und wenn das damals so war, dann könnte das doch auch heute wieder so sein, wenn sich in den nächsten Jahrzehnten alle großen Achsen in unserer Gesellschaft drehen werden. 

Sie, der Historiker, weisen auf den Untergang des Römischen Imperiums hin und ziehen Parallelen zur heutigen Zeit …
Jetzt schwebt das böse Wort Dekadenz im Raum. Bei manchen in unseren Gesellschaften könnte man sich ja überlegen, ob dieses Wort nicht eigentlich ganz angemessen ist. Aber im Prinzip ist auch das alte Rom daran untergegangen, dass es sein System nicht neuen Gegebenheiten hatte anpassen können. 

Das erinnert an Kassandra. Die Zukunft zu kennen, aber außerstande zu sein, sie zu ändern?
Wir wären ja imstande, die Zukunft zu ändern! Die Zukunft ist noch nicht geschrieben! Nur müssen wir auch den Willen dafür aufbringen, und das ist im Moment das Problem. 

Sie schreiben gegen Ende des Buches, dass eine aufgeklärte Haltung nur ein zerbrechlicher Anfang eines Prozesses sein könne, der sich über Generationen entfalten muss …
Es bräuchte jetzt rapide und radikale Reaktionen. Es geht ja nicht nur darum, technologisch Dinge anders zu machen, es geht auch um einen kulturellen Wandel. Die Aufklärung hat einst damit begonnen, Abschied zu nehmen von Mythen und Aberglauben und dem eigenen Denken mehr zu folgen. Vielleicht sollte uns das eigene Denken heute dahin tragen, dass wir erkennen, dass wir nicht, wie uns die Bibel gesagt hat, die Krone der Schöpfung sind, die die Erde vor sich hat, um sie sich untertan zu machen. Vielleicht bräuchte es die aufgeklärte Schlussfolgerung, zu sagen: Wir sind ein natürlicher Organismus unter unendlich vielen Organismen! Wenn wir nur akzeptieren könnten, wie ähnlich wir anderen Tieren sind, wie sehr unsere sozialen Hierarchien, unsere soziale Lebensweise, unsere persönlichen Reflexe und Instinkte denen anderer Tiere, beispielsweise Primaten, entsprechen! Der Hefepilz vermehrt sich, indem er Zucker frisst, explosionsartig und unersättlich weiter, bis alle Ressourcen verbraucht sind und er erstickt. Die Menschen scheinen über Jahrmillionen der Evolution nur wenig mehr gelernt zu haben als die Hefe. Wenn wir das erkennen, könnte dieser Prozess auch ein positiver Prozess sein. Nur wird das tatsächlich länger als einige Jahrzehnte dauern.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Zukunft ist noch nicht geschrieben, und wir wären kollektiv imstande, sie zu ändern.

Weiterlesen! Philipp Blom „Was auf dem Spiel steht.“ Hanser, München 2017

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