Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Von der Zerstörung bequemer Illusionen

Februar 2021

Ille Gebeshuber (51), Professorin für Physik an der Technischen Universität Wien, sieht erste Anzeichen eines heraufziehenden Sturmes. Die Menschheit, sagt die Bestseller-Autorin, könne mit einem Fortschreiben des bisherigen Weges das Rennen um die Zukunft nicht gewinnen. Ein Gespräch über fehlendes langfristiges Denken, die Inflation der Wahrheiten – und „die Verlockung des einfachen Weges“.

Frau Professorin, Sie nennen die Menschheit in ihrem neuen Buch einen „aus dem Gleichgewicht geratenen Riesen“, der in ungelenken, aber immer größeren Schritten vorwärts stolpere. Wie ist das gemeint?
Die Menschheit ist eine gewaltige Erfolgsgeschichte. Aber die Tatsache, dass heute achteinhalb Milliarden Menschen versorgt werden müssen, hat zur Entwicklung eines Systems geführt, das derart gigantisch ist, dass sich ein einzelner Mensch das gar nicht mehr vorstellen kann. Endlose Betonwüsten, landwirtschaftliche Flächen, die bis zum Horizont reichen, Bevölkerungswachstum, wachsender Wohlstand, die Tatsache, dass die Menschen immer mehr und immer komplexere Güter fordern, das Überschreiten der Planetary Boundaries*, Artensterben und Klimawandel: Die Menschheit ist in einem Rennen um die Zukunft – ein Rennen, das der Mensch so, wie er heute läuft, nicht gewinnen kann. 

Der Mensch kann dieses Rennen gar nicht gewinnen?
Ich würde ja diese massive Krise, auf die wir zusteuern, sehr gerne verleugnen. Der bequeme Weg wäre sehr verlockend. Aber wir fühlen die ersten Anzeichen eines heraufziehenden Sturmes. Und diese ersten Anzeichen sind Vorboten sich nähernder Grenzen. Wir haben es mit einer Kombination aus äußeren Krisen der Umwelt und inneren Krisen der Gesellschaft zu tun, diese Kombination wird den kommenden Generationen sehr viel abverlangen. 

Die große Herausforderung der Zukunft werde sein, Bedürfnisse von Mensch und Natur gleichermaßen zu erfüllen, heißt es in Ihrem Buch. Das ist leicht gesagt …
Wir müssten nur eine neue Einfachheit zu leben entwickeln, in der wir nicht jedes bisschen mehr Lebensfreude durch Mehrkonsum definieren. Wir könnten Produkte länger nutzen, wir könnten vorhandene Energie effektiver einsetzen und dergleichen mehr. Eine neue Grundphilosophie in Verbindung mit modernen Technologien bei parallel weit geringerer Belastung der Natur würde den Menschen mehr bieten. Es wäre also leicht, die Bedürfnisse von Mensch und Natur gleichermaßen zu erfüllen, wenn nur alle wollen würden. Doch in Abwandlung von Rousseau heißt es ja, dass jeder zurück zur Natur will, aber niemand zu Fuß …

Sie greifen da auch zu einem Vergleich aus der griechischen Mythologie. Warum?
Weil die Geschichte von Daedalus und Ikarus meiner Meinung nach das Problem der Menschheit perfekt illustriert. Die beiden, auf einer Insel gefangen gehalten, fliehen mit Flügeln, die Daedalus gebastelt hat. Doch sie fliegen völlig unterschiedlich. Der weise Daedalus konzentriert sich auf das Wesentliche, auf die Flucht in die sichere Heimat, er fliegt tief, in der dunklen Kälte. Der junge Ikarus dagegen, von der Sonne angezogen, fliegt höher und höher, bis die Sonnenstrahlen seine wächsernen Flügel schmelzen. Was folgt, ist ein tiefer Sturz in den Tod. Das ist ein Bildnis für die potenziell weitere Zukunft der Menschheit. Denn auch heute stehen wir vor der Wahl zwischen kurzen, verlockenden Momenten des Glanzes und der tieferen, pragmatischen Weisheit, sein Ziel nie aus den Augen zu verlieren. Doch langfristiges Denken kommt in unserer Gesellschaft kaum vor.

In einer Gesellschaft, in der sich zunehmend jeder selbst der Nächste ist …
Es ist so, dass jede Gesellschaft ein eigenes Narrativ des Erfolgs hat. Und wie schaut das heutzutage aus? Alle wollen Leader sein, alle wollen reich sein und alle wollen berühmt sein. Und dafür sind einige bereit, einen sehr hohen Preis zu zahlen, sehr oft auch auf Kosten ihrer Mitmenschen. Kurzfristiges Denken regiert, kurzfristige Sachzwänge setzen sich gegen langfristige Vernunft durch. In Einzelfällen ist das belanglos. Aber umgelegt auf die ganze Gesellschaft, entsteht dadurch eine generelle Stagnation und ein kollektiver Unwillen, in echte, umfassende Schlüsselprojekte der gesamten Menschheit zu investieren. Es werden keine kontroversen Entscheidungen getroffen, am Ende hat man eine Serie von Kompromissen, die nichts bringen, aber mit der fast alle relativ gut leben können.

Wir werden gegenwärtig von vielen bequemen Wahrheiten beherrscht.

Sie schreiben ja: „Die Täuschung als gesellschaftliches Phänomen ist deswegen so erfolgreich und akzeptiert, weil es ohne sie nicht geht.“ 
Ob es die tägliche Lüge ist oder die politische Täuschung, die Menschen hassen vor allem jene, die ihre bequemen Illusionen zerstören, und nicht jene, die sie getäuscht haben. Die Menschen haben sich immer schon ihre Realitäten zurechtgezimmert und ein bequemes Weltbild erzeugt. Und wir werden gegenwärtig von vielen bequemen Wahrheiten beherrscht. Wobei die schlimmste aller bequemen Wahrheiten die ist, dass wir gut und die anderen schlecht sind. Wenn man die Welt so sieht, dann gibt es keine Diskussionen mehr mit Andersdenkenden. Wir haben heute eine Inflation der Wahrheiten. In der Kakaphonie unserer schreienden Welt ist es unmöglich, eine Wahrheit von der anderen zu unterscheiden.

Eine Inflation?
Wir haben verschiedenste Möglichkeiten, uns mit verschiedensten Informationsquellen zu umgeben. Daraus resultieren die verschiedenen Wahrheiten. Schauen Sie nur in die USA! Dort beeinflussen die Medien die Menschen so sehr, dass es bereits zwei verschiedene Wirklichkeiten gibt. Konservative und Liberale stehen sich derart unversöhnlich gegenüber, dass die einen nicht einmal mehr verstehen, was die anderen überhaupt sagen möchten. Die Medien beeinflussen unser Denken, sie prägen unser Weltbild, auch in unserem Kulturraum.

Laut dem Soziologen Luhmann weiß der Mensch alles, was er über die Welt und die Gesellschaft weiß, aus den Massenmedien. Sollte man sich also selbst hinterfragen?
Unbedingt! Es ist wichtiger denn je, dass sich die Menschen aufmachen, ihre eigene Wahrheit zu entdecken. Ich kann mich noch an einen Satz von Anton Zeilinger erinnern, der mir als Physik-Studentin so gut gefallen hat. Zeilinger hatte zu uns gesagt: „Nehmt nichts als gegeben an! Hinterfragt alles!“ Zu erkennen, welche Information richtig ist und welche nicht, das wird immer wichtiger, gerade auch bei der Ausbildung junger Menschen.

Sie sagen ja: Menschen, die verstehen, sind schwerer zu verführen!
Ganz genau. Doch in Wirklichkeit wissen die meisten Menschen heute von denselben Dingen sehr viel, aber von vielem fast gar nichts. Und jeder hat eine Meinung zu den meisten Dingen und meint dann auch noch, auf dieser Basis über andere urteilen und richten zu können. Wenn es aber nur ein bisschen in die Tiefe geht, dann wird schon mehr geraten und angenommen als wirklich verstanden. Aber eines Tages wird der Mensch, ausgesetzt auf diesem endlosen Ozean von vermeintlich wissenswerten Dingen, erkennen müssen, dass es nicht wichtig ist, alles zu wissen, sondern so viel wie möglich zu verstehen. Wir sollten unser immer größer werdendes additives Wissen auf ein klares, aber anwendbares Minimum reduzieren. Und warum? Weil wir erst dann imstande sind, sehr viele Dinge in diesem gegenwärtigen Informationssturm objektiver zu beurteilen. Menschen, die erlebt haben, wie das Leben funktioniert, müssen nicht an Behauptungen Dritter glauben. 

Sie sehen die Menschen in einem neuen Mittelalter …
Das Mittelalter war nicht per se schlecht, es war nur extrem einseitig. Wichtig waren der Glaube der Menschen und die Unterordnung des Einzelnen unter die vermeintlich göttliche Ordnung. Beides war so stark, dass die Gesellschaft dadurch größtenteils paralysiert worden ist. Die Städte hatten sich durch starke Mauern von der Welt abgetrennt, und in ihrem Zentrum standen riesige Kathedralen, die Gott gewidmet waren. In diesem System, in diesen Städten, hatte man sich mehr und mehr von der Realität entfernt und eine eigene kleine Welt geschaffen, neben der es nicht mehr viel gegeben hatte. Und hier setze ich die Parallelen an: Heute ist es ähnlich. Der von uns geschaffene Informationssturm gleicht einer kargen Landschaft, durch die nur sehr wenige Ströme fließen. Die Natur und die wirklich wesentlichen Dinge, sie sind den meisten Menschen nur bedingt wichtig. Sie wenden sich stattdessen den Informationspalästen zu, konsumieren die vermeintlichen Wirklichkeiten und sind glücklich. Ebenso wenig, wie die Menschen des Mittelalters erkannt hatten, dass sie in einer sehr einseitigen - manche sagen: in einer sehr dunklen - Zeit lebten, so wenig sehen die Leute heute die Gegenwart als problematisch an. Doch die Einsamkeit unserer Zeit ist nicht mit Konsum oder dem Starren in Bildschirme zu kompensieren – vielmehr würden wir Gesellschaft und Gemeinschaft brauchen. Und man müsste erkennen, dass sehr viel Wichtiges im Leben nichts kostet.

Man fühlt sich bei Ihren Worten an Saint-Exupéry erinnert, daran, dass das Wesentliche für die Augen unsichtbar ist.
Ja genau! Und an den „Reichen“, der sagt, ich habe keine Zeit, ich muss die Sterne zählen, ich bin ein ernsthafter Mensch (lacht) …

Der Traum wird sich gegenüber der Realität emanzi­pieren.

Von der Gegenwart in die Zukunft. Sie verwenden in Ihrem Buch auch den Ausdruck des zukünftig erweiterten Menschen. Wer ist denn dieser „erweiterte Mensch“?
Meiner Meinung nach wird der erweiterte Mensch das Ergebnis der Co-Evolution des Werkzeugs sein. Mit der fortschreitenden Entwicklung werden sich die Menschen mit Werkzeugen verbinden und damit noch intensiver in den Informationsstrom eintauchen können. So kann es möglich werden, dass wir virtuelle Welten erschaffen, die den angeschlossenen Nutzern wie die Realität erscheinen werden. Das kann dazu führen, dass einige Menschen sich in diesen Welten verlieren können. Der Traum wird sich gegenüber der Realität emanzipieren. Eine perfekte Illusion ist ja auch eine Realität. Wer sich seine Träume aussuchen kann, wird irgendwann auch einmal permanent dort leben wollen. Man kann das mit den Aborigines vergleichen: Die australischen Ureinwohner haben und hatten schon immer eine ganz intensive Verbindung mit ihrer Geisteswelt, sie haben die sogenannte Traumzeit stets für realer gehalten als die Gegenwart. 

Apropos. Auf dem Weg in die Zukunft, auch das sagen Sie, gelte es drei entscheidende Irrtümer zu vermeiden. Welche denn?
Der erste Irrtum: Die Verlockung des einfachen Weges. Gerade heute, in der Zeit der streichelweichen Politik, ist es sehr verlockend, eher das für viele Angenehme zu tun als das für alle Notwendige. Doch am Ende aller Kompromisse lauert bekanntlich das Versagen. Ich glaube, dass mehr Ehrlichkeit auf allen Ebenen nottäte und der Mut, das Notwendige zu vertreten, auch wenn es unpopulär ist. Der zweite Irrtum: Die Geringschätzung der Natur. Es ist wirklich allerhöchste Zeit, dass wir alle verstehen, dass wir ein Teil der Natur sind und nicht deren Herrscher. Und als Drittes kommt dazu: Die Überbewertung des Fortschritts. Der einst so unbändige Fluss des Fortschritts ist zu einem Tröpfeln geworden, immer geringere Fortschritte benötigen immer mehr und mehr Aufwand. Also auch hier nähern wir uns einem Limes, einer Grenze; und ich glaube, diese Grenze können wir ohne grundlegendes Umdenken nicht überwinden. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Wir müssen die heutigen Probleme mit der heute verfügbaren Technik lösen. Wir können nicht auf morgen warten. Denn die Zeit der technischen Wunder, der neuen revolutionären Lösungen ist vorbei.

Und wenn wir die drei Irrtümer überwinden? Ist dann Hoffnung?
Ja. Ich denke, es gibt durchaus Hoffnung. Denn das Denken der Menschen ist ja nicht fixiert, ist nicht festgeschraubt. Es wird Fortschritte geben, weil es Fortschritte geben muss und weil die heutigen Grenzen, mit denen wir konfrontiert sind, in vielen Fällen ja nur Grenzen unseres Denkens sind. Es werden kluge und weitdenkende Menschen aufstehen und sich zu Wort melden und deswegen bin ich zuversichtlich, dass es positive Veränderungen geben kann, geben muss – und geben wird. Ich bin mir aber sicher, dass die Menschen der Zukunft nicht gnädig über uns urteilen werden, sie werden sich berechtigterweise fragen, warum wir lange Zeit nicht einmal das Mindestnotwendige zum Überleben der Menschheit unternehmen wollten. Aber vermutlich werden sie uns mit dem für unsere Zeit heute symbolischen Satz entschuldigen: Es ist, was es ist.

Vielen Dank für das Gespräch!

* Als „Planetary Boundaries“ werden ökologische Grenzen der Erde bezeichnet, deren Überschreitung die Stabilität des Ökosystems und die Lebensgrundlagen der Menschheit gefährdet.

Zur Person

Ille C. Gebeshuber * 1969 in Bruck an der Mur, ist eine österreichische Physikerin mit den Arbeitsschwerpunkten Nanophysik und Biomimetik. 2017 wurde Gebeshuber als Österreicher des Jahres in der Kategorie Forschung ausgezeichnet. 2009 bis 2015 war Gebeshuber Professorin an der Nationalen Universität Malaysia; seit 2016 ist sie als Professorin am Institut für Angewandte Physik (IAP) an der TU Wien tätig. Von der Buchautorin stammt auch der Bestseller „Wo die Maschinen wachsen“.

Buchtipp

Ille C. Gebeshuber
„Eine kurze Geschichte der Zukunft“ 
Verlag Herder, Freiburg im Breisgau, 2020

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