Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Wie Geduld unser Leben beeinflusst

September 2016

Matthias Sutter (47), Professor an den Universitäten Köln und Innsbruck, forscht auf dem Gebiet der experimentellen Ökonomie. Im „Thema Vorarlberg“-Interview erklärt der gebürtige Harder, was es mit dem Ultimatum-Spiel auf sich hat, warum das Modell des Homo oeconomicus ausgedient hat – und wie das Ausmaß an Geduld in der Kindheit über den Erfolg im späteren Leben entscheiden kann.

Sie widmen sich der experimentellen Ökonomie. Klingt spannend …

Spannend? Danke! Experimentelle Wirtschaftsforschung ist ein relativ junger Zweig der Volkswirtschaftslehre und im Grunde genommen die Idee, dass wir menschliches Verhalten unter möglichst kontrollierten Bedingungen untersuchen können. Lassen Sie mich eines der berühmtesten Experimente zur Illustration anführen: das Ultimatum-Spiel. Sie haben 100 Euro und müssen mir einen Vorschlag machen, wie Sie das Geld zwischen uns beiden aufteilen wollen. Ich habe dabei zwei Optionen: Ich kann Ihren Vorschlag annehmen. Dann bekommen wir beide Geld. Oder ich kann Ihren Vorschlag ablehnen. Dann bekommt keiner Geld. Soll heißen: Wenn man sich nicht einigt, bekommt niemand etwas. Spielen wir?

Gerne. 80 Euro für mich. 20 für Sie.

Das wird nichts. Das ist unfair. Das lehnen die meisten Menschen ab. In diesem Ultimatum-Spiel spielen soziale Normen eine entscheidende Rolle. Und als fair und gerecht wird eine 50/50-Norm angesehen. Dieser Vorschlag setzt sich immer durch. Der Vorschlag 60 zu 40 wird in 90 Prozent der Fälle angenommen. Danach nimmt die Zustimmung rapide ab.

Warum?

Weil die meisten Menschen Fairness und Gerechtigkeit als sehr wichtig erachten. Nun könnten Sie einwenden, der Sutter ist ja ein Ökonom. Und deswegen müsste er eigentlich auch zufrieden sein, wenn ich mir 99 Euro nehme und ihm nur einen einzigen überlasse – weil ein Euro immerhin noch besser ist als gar keiner. Aber das wird dann gar nichts mehr. Niemand nähme diesen Euro. Es wäre eine skurrile Vorstellung. Da wären wir dann beim Bild des Homo oeconomicus …

Sie haben in einem Interview gesagt, dass das Bild dieses Homo oeconomicus, der völlig rational handle, überholt sei. Warum?

Der Homo oeconomicus, also das Bild eines Menschen, der nur an sich und nicht an andere denkt und dabei stets rational handelt, war in der Wissenschaft gewissermaßen immer nur ein Strohmann. In der Forschung führen diese vereinfachenden Annahmen zwar zu relativ guten Prognosen, etwa auf den Finanzmärkten. Aber der einzelne Mensch tickt nicht so. Es gibt viel wissenschaftliche Evidenz dafür, dass wir durchaus auch daran interessiert sind, wie es anderen geht, in vielerlei Hinsicht. Wir sind keine isolierten Atome.

Der Mensch, das sagten Sie auch, sei kein kalter Nutzenmaximierer. Auf die Finanzmärkte trifft das aber nicht zu, oder?

Jetzt haben sie aber schnell geschaltet. Es wäre gut, wenn ich diesen Ausdruck nicht in den Mund genommen hätte (lacht). Da hat man in der Tat das Gefühl, dass es ein bisschen kälter zugeht als im zwischenmenschlichen Bereich. Und da gibt es auch spannende Ergebnisse, von Ernst Fehr beispielsweise: Wenn sie Banker nehmen und diese Banker in einen berufsbezogenen Kontext setzen, sie beispielsweise Sätze vervollständigen lassen, die mit Geld zu tun haben, dann werden diese Menschen unehrlicher.

Geht’s ums Geld, lügen die Menschen?

Nein, die Schlussfolgerung ist eine andere. Wenn Banker mit ihren Gedanken um ihren Beruf kreisen, dann tricksen sie in einfachen Experimenten mehr, als wenn sie mit ihren Gedanken um ihre Privatsphäre kreisen. Fehrs Kritik lautete, wenn sich Banker in ihren Berufskontext hineinversetzen, sind offenbar Normen am Werk, die Unehrlichkeit erzeugen. Das ist fatal. Das wirft auch die Frage auf, welche Unternehmenskulturen wir denn in verschiedenen Branchen haben und ob diese Unternehmenskulturen mehr oder weniger vorteilhaft für ehrliches, moralisches Verhalten sind.

Antwort?

Antwort? Offensichtlich ist die Finanzbranche eine, die nicht sonderlich vorteilhaft ist für ehrliches und moralisches Verhalten (lacht).

Kehren wir zum Ultimatum-Spiel zurück. Wie gelangt das, was Sie experimentell erforschen, zur Anwendung?

Nun, das Ultimatum-Spiel ist ja nichts anderes als eine vereinfacht dargestellte Verhandlungssituation. Wenn beispielsweise zwei Unternehmen über eine Fusion verhandeln, ist das im Grunde genommen dieselbe Situation. Da liegt ein Kuchen auf dem Tisch, den es zu verteilen gilt. Wenn man sich nicht einigt, bekommt niemand einen Teil des Kuchens. Und das gilt nicht nur bei Unternehmenszusammenschlüssen, das gilt in vielen Bereichen. Beispiel Scheidungen: Auch bei Trennungen muss man ja faire Lösungen finden, damit das Ganze nicht über Jahre hinweg vor dem Richter landet. Entscheidend ist also, wie man sich einigt. Und mit experimentellen Methoden kann man gut untersuchen, welche Rolle Fairness dabei spielt. Oder welche Rolle Emotionen spielen. Wenn jemand zornig wird, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass der Kuchen nicht verteilt wird.

Was die Anwendung betrifft …

Also: Wir haben erst vor Kurzem ein Feldexperiment veröffentlicht, in dessen Rahmen wir der Fragestellung nachgingen, inwieweit ein Versicherungsschutz die Bereitstellung von sogenannten Vertrauensgütern, in diesem Fall von Reparaturdienstleistungen, beeinflusst. Wir haben dazu neue Computer gekauft, ließen unsere IT-Experten die Arbeitsspeicher manipulieren, bis sie nicht mehr funktionierten, und brachten die Computer dann zu Reparaturwerkstätten in ganz Österreich. Der einen Hälfte der Werkstätten sagten wir, wir bräuchten eine Rechnung. Der anderen Hälfte sagten wir, wir bräuchten eine Rechnung – für die Versicherung. Dieser Zusatz „für die Versicherung“ war der einzige Unterschied.

Und was war das Ergebnis?

Jene Reparaturwerkstätten, die wir nur um eine Rechnung gebeten hatten, verrechneten im Durchschnitt 70 Euro – jene Werkstätten, die wir dagegen um eine Rechnung für die Versicherung gebeten hatten, verrechneten im Durchschnitt 130 Euro. Eine sehr große Differenz! Wir hatten ja intuitiv erwartet, dass der Zusatz „Versicherung“ die Reparatur verteuern wird, aber das Ergebnis hat uns in seiner Deutlichkeit dann doch überrascht. Die 60 Euro an durchschnittlichem Preisunterschied resultierten übrigens zu einem Drittel aus einem Zuviel an Reparaturen und zu zwei Dritteln aus überhöhten Stundenabrechnungen.

Also gibt’s in der Computerbranche den Homo oeconomicus doch noch …

(lacht) Man muss redlich bleiben. Es ist nie alles schwarz-weiß. Es ist nicht so, dass Sie – kaum, dass das Wort Versicherung fällt – über den Tisch gezogen werden. Aber die Preisunterschiede sind schon auffällig. In diesem konkreten Fall bedeutet das, dass Versicherungsschutz ein paar unangenehme Nebenwirkungen hat – es wird mehr gemacht als nötig, es wird mehr verrechnet als notwendig. Betroffen sind die Versicherungen. Und die Versicherten – denn es wäre ja naiv, anzunehmen, dass die Versicherten diese Mehrkosten nicht in Form höherer Versicherungsprämien letztlich wieder selber zu zahlen haben. Wir sind jetzt im Gespräch mit Versicherungen, arbeiten gemeinsam an den richtigen Schlüssen aus diesem Experiment. Und wir würden gerne weiter in diese Richtung forschen, auch in Zusammenarbeit mit Versicherungen, um effektive Mechanismen ausfindig zu machen, die Ineffizienzen dieser Art reduzieren können. Das ist eine volkswirtschaftlich nicht unbedeutende Fragestellung.

Welches Ihrer Experimente brachte denn bisher das verblüffendste Ergebnis?

Ich habe mit über 600 Tiroler Jugendlichen im Alter zwischen 10 und 18 Jahren Experimente zu intertemporalen Präferenzen, also zur Abwägung zwischen Gegenwart und Zukunft, gemacht. Die Frage lautete dabei: Will ich lieber heute zehn Euro oder in drei Wochen elf Euro haben? Damit wollten wir eigentlich he­rausfinden, ob sich mit zunehmendem Alter etwas ändert – ob die Älteren die Geduldigeren sind, ob sie diejenigen sind, die wissen, dass sich Sparen auszahlt. Ergebnis? Wir fanden zwischen den 10- und den 18-Jährigen keine Unterschiede. Überhaupt keine. Die Verteilung war total gleich. Das war zuerst eigentlich richtig enttäuschend.

Und dann?

Wir hatten ziemlich viele Fragebogendaten über diese Jugendlichen. In diesen Daten haben wir interessehalber nachgeschaut, inwieweit diese experimentellen Entscheidungen, in denen es darum ging, ob man heute zehn oder in drei Wochen elf Euro auf die Hand haben will, mit anderen Persönlichkeitsmustern zusammenhängen. Und das Ergebnis war ein Aha-Erlebnis, aus dem letztlich auch mein Buch entstanden ist: Denn die Jugendlichen, die lieber die zehn Euro heute haben wollen und nicht zuwarten können, trinken mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit bereits Alkohol, rauchen eher, sparen weniger Geld, haben schlechtere Noten, sind eher übergewichtig. Bemerkenswert! In der Psychologie wird das seit Jahrzehnten untersucht, unter anderem von Walter Mischel mit seinen Marshmallow-Tests. Aber wir konnten mit unseren einfachen ökonomischen Instrumentarien Zusammenhänge nachweisen, allein anhand einer finanziellen Entscheidungsabwägung. Das war ein sehr starkes Ergebnis. Denn in der Konsequenz heißt das: Das Ausmaß an Selbstkontrolle, jetzt auf eine kleinere Belohnung verzichten zu können, um in Zukunft eine größere zu bekommen, hat einen immens großen Einfluss auf unser Leben.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass jene Kinder, die mehr Geduld beweisen, mit hoher Wahrscheinlichkeit später ein erfolgreiches Leben führen werden …

Ganz genau. Lassen Sie mich das an einer großen neuseeländischen Studie illustrieren, in deren Rahmen in einer 100.000-Einwohner-Stadt alle Kinder, die zwischen 1. April 1972 und 31. März 1973 geboren worden waren, über die Jahre hinweg regelmäßig befragt worden sind, beginnend mit dem frühesten Alter, im Beisein von Eltern, Psychologen, Kindergärtnern, Lehrern, anderen Experten. Bereits im Babyalter hatte man untersucht, welches Kind länger bei einer Sache bleiben oder auch einmal allein sein kann, wenn die Bezugsperson aus dem Raum geht; welches Kind ein Bild fertig malen kann und welches sich keine Sekunde mit sich allein beschäftigen kann. Mit drei Jahren wurde das wiederholt, mit fünf Jahren, mit sieben Jahren, alle zwei, drei Jahre. Die Kinder wurden in Gruppen eingeteilt, in diejenigen, die zuwarten konnten und ein höheres Maß an Selbstkontrolle haben, und in die Ungeduldigen. Und dann haben die Forscher überprüft, wie sich deren Lebensweg entwickelt hat. Ergebnis: Jene, die als Kinder zu den Geduldigeren gehörten, waren nach 30, 40 Jahren im Vergleich zu den Ungeduldigen wesentlich besser ausgebildet, verdienten spürbar mehr Geld, waren deutlich gesünder, weniger oft alleinerziehend, tranken weniger, rauchten weniger, waren weniger oft kriminell. Verblüffend! Die Studie zeigte deutlich, dass die Fähigkeit zur Selbstkontrolle, zur Geduld, auf etwas hinzuarbeiten zu können, ungefähr den gleich starken Einfluss hat wie zwei andere wichtige Faktoren: das Elternhaus und der IQ. Geduld ist ein davon unabhängiger Faktor. Das ist sensationell und auch bildungspolitisch von Belang: Unsere Eltern und unseren IQ können wir uns nicht aussuchen. Aber vielleicht kann man durch Interventionen Selbstkontrolle lernen und jungen Menschen damit ein Instrumentarium an die Hand geben, um längerfristige Ziele verfolgen zu können.

Wobei man Geduld tunlichst nicht mit Lethargie verwechseln sollte, oder?

Nein, auf keinen Fall! Das ist ein Missverständnis, genauso wie der Glaube, man könne alles aussitzen. Geduld heißt in unserem Fall, jetzt auf etwas gezielt zu verzichten, um später durch Anstrengung mehr zu bekommen. Geduld heißt, nicht den Spatz in die Hand zu nehmen, sondern die Taube fangen zu wollen – also das härtere, aber auch ertragreichere Ziel zu wählen. Bergsteigen ist aus meiner Sicht ein guter Vergleich: Um die wunderbare Aussicht auf einem Gipfel genießen zu können, muss ich erst einmal den Aufstieg bewältigen. Man muss sich dafür überwinden. Erfolg hängt in weit überwiegendem Ausmaß von Ausdauer ab. Der Wille, auf ein größeres Ziel in der Zukunft hinzuarbeiten, setzt allerdings voraus, dass man bereits positive Erfahrungen damit gemacht und Erlebnisse in seinem Leben benennen kann, bei denen man rückblickend mit voller Überzeugung sagen kann: Das hat sich jetzt aber ausgezahlt.

Was raten Sie ungeduldigen Menschen?

Das ist sehr schwierig. Hätte ich da einen Lebensberater geschrieben, wär’s wohl ein Bestseller geworden (lacht). Aber ab und zu hilft es, wenn man seine Pläne zumindest ein bisschen strukturiert. Als Wissenschaftler hat man viele Projektideen und viele Projekte. Es sind nicht alle gleich mühsam zum Abarbeiten. Aber es ist leider so, dass die mühsameren Projekte auf lange Sicht oft auch die erfolgreicheren Projekte sind. Dennoch ist die Versuchung, den schnellen Sachen den Vorzug zu geben, unglaublich groß. Deshalb schreibe ich regelmäßig Listen und notiere mir dort, was wirklich wichtig ist und an was ich dranbleiben sollte. Mir hilft das. Aber da ist jeder unterschiedlich.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Zur Person
Matthias Sutter (* 7. Oktober 1968 in Hard) arbeitet auf dem Gebiet der experimentellen Wirtschaftsforschung und Verhaltensökonomik und lehrt an den Universitäten Köln und Innsbruck. Der Harder war unter anderem zwei Jahre Professor am Max-Planck-Institut für Ökonomik in Jena und von 2013 bis 2014 Professor of Applied Economics am European University Institute (EUI) in Florenz. Bekannt wurde er durch seinen Bestseller „Die Entdeckung der Geduld“.

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