Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Wochenlang unkritisch berichtet“

Juni 2020

Im Interview übt der deutsche Medienwissenschaftler Stephan Ruß-Mohl (69) harsche Kritik an der Berichterstattung zumindest zu Beginn der Corona-Krise. Der Publizist sagt, dass ihn eine zentrale These beschäftige: „Haben die Medien durch ihre sehr einseitige Berichterstattung den Lockdown mit herbeigesendet und mit herbeigeschrieben?“

Was hat Sie an der Corona-Berichterstattung der Medien geärgert, Herr Professor?
Irritiert hat mich, dass man wochenlang unkritisch berichtet hat, was aus China angelandet ist, obwohl man hätte wissen müssen, dass in diesem autoritären Staat alle Informationen kontrolliert und zensiert werden. Irritiert hat mich weiterhin, wie die Medien von einem Moment auf den anderen nur noch corona-monoman berichtet haben. Es gab ab einem gewissen Zeitpunkt kein anderes Thema mehr. 
Im Fernsehen und in der Presse, selbst in der sogenannten Qualitätspresse, hat das Thema derart dominiert, dass Leute, die die Medien aufmerksam verfolgen, in einer Weise Angst und Panik bekommen mussten, die vielleicht doch nicht so ganz gerechtfertigt war. 

Und ab wann haben sie sich geärgert?
Ab welchem Zeitpunkt waren sie irritiert?

Ich kann das relativ genau eingrenzen, weil es mit dem Karneval und dem Aschermittwoch korrespondiert hat. Während des Karnevals gab es bereits eine dramatische Zunahme der Medienberichterstattung. Der Karneval durfte noch laufen, sozusagen, aber dann war alles anders, von einem Tag auf den anderen. Und wenn man sieht, wie das in Schweden gelaufen ist, kommt man im Rückblick nicht umhin, zu sagen, dass man möglicherweise doch überreagiert hat. Wobei ich da jetzt bitte nicht missverstanden werden will.

Inwiefern denn?
Ich spiele die Gefahr dieser Pandemie nicht herunter. Ich halte es für sehr, sehr wichtig, dass man versucht, so viele Menschenleben wie möglich zu retten. Man muss auf der anderen Seite aber auch sehen, dass mit den Maßnahmen, die getroffen worden sind und die uns wochenlang lahmgelegt haben, wahrscheinlich auch sehr viele andere Menschenleben und Existenzen gefährdet worden sind. Und das hat man am Anfang überhaupt nicht mitbedacht. Da sind die Medien erst sehr viel später darauf angesprungen, viel später, als sie das aus meiner Sicht hätten tun sollen und tun müssen. 

Und da setzt Ihre Kritik an …
Um ihrer Rolle in der Demokratie gerecht zu werden, hätten die Medien zwingend als kritische Instanz gegenüber der Regierung und auch gegenüber den Virologen agieren müssen. Aber es ist halt so, dass in sehr vielen Medienhäusern in den vergangenen 20 Jahren die Wissenschaftsredaktionen abgebaut worden sind. Da fehlt es dann schlichtweg an Kompetenz, mit solch einem Thema umzugehen. Und wenn man die Kompetenz nicht im eigenen Haus hat, dann glaubt man eben der Öffentlichkeitsarbeit des Robert-Koch-Instituts oder anderen, die sich berufen fühlen, die Öffentlichkeit zu informieren.

In Österreich war das wie in Deutschland, in den Medien kam lange Zeit überhaupt niemand zu Wort, der anderer Meinung war ...
Ja. Und wenn man selbst Wissenschaftler ist, dann ist das höchst irritierend. Denn dann weiß man, dass es zu einer wissenschaftlichen Meinung eigentlich fast immer eine durchaus begründete Gegenmeinung gibt. Und das ist eben völlig flachgefallen, es wurden in den ersten Wochen immer dieselben Experten im Fernsehen vorgeführt. Und auch das hätte, wenn der Wissenschaftsjournalismus funktionieren würde, so nicht passieren dürfen.

Es war auch zu beobachten, dass Redaktionen, die sonst von sich in Anspruch nehmen, der Politik gegenüber äußerst kritisch zu sein, tage- und wochenlang unkommentiert die Positionen der Regierungen übernommen haben ...
Ja, das hat mich auch gewundert. Ich habe da von ,Selbst-Gleichrichtung‘ und von Herdentrieb gesprochen, möchte aber unterstreichen, dass wir noch keine Inhaltsanalysen haben. Was Sie und ich also beobachten, das sind Beobachtungen von Menschen, die sich zwar sehr intensiv mit Journalismus beschäftigen, die aber trotzdem in ihrer Filterblase sitzen und deshalb auch keinen völligen Überblick haben. Wir müssen also, um endgültige Aussagen über das Übermaß an Medienberichterstattung treffen zu können, wahrscheinlich doch noch Inhaltsanalysen abwarten. Aber die werden erst erstellt, das wird dauern.

Sie haben in einem Dossier zur Sache* allerdings kritische Fragen formuliert, die man jetzt schon stellen kann. Und eine dieser Fragen lautet: Haben die Medien mit ihrer Corona-Berichterstattung mehr Angst und Schrecken geschürt als nötig?
Ich habe das sehr bewusst als Frage formuliert, weil ich nicht als Oberlehrer, der letzte Wahrheiten verkündet, daherkommen möchte. Fragen zu formulieren halte ich für zielführender, als einfache Antworten parat zu haben. Aber wir müssen uns damit kritisch auseinandersetzen. Denn wir wissen, dass Medien auch in früheren Situationen Angst erzeugt und damit enorme wirtschaftliche Schäden angerichtet haben, das war etwa beim Rinderwahnsinn der Fall oder bei SARS. Und ich befürchte, dass es auch dieses Mal so ist. Das hat nichts damit zu tun, dass ich den Fehler aus der Antike begehen würde und die Botschafter, die die schlechten Nachrichten überbringen, bestrafen möchte. Nein! Es ist im Gegenteil ganz, ganz wichtig, dass wir einen funktionierenden Journalismus haben.

Aber?
Aber zum Funktionieren würde eben auch gehören, zumindest zu versuchen, Risiken realistisch zu bewerten. An der Stelle hätten also Risikoforscher mehr beitragen müssen. Man hätte die Bilder aus Bergamo und von den Leichenkühlhäusern in New York nicht so in den Vordergrund rücken dürfen, wie das geschehen ist. Und es waren nicht nur die Bilder, es waren ja auch die täglichen Statistiken weltweit von Corona-Toten und von Corona-Infizierten. Und nichts davon ist zunächst auch nur in irgendeiner Weise kontextualisiert, also in Relation zu Dutzenden anderer Todesursachen gebracht worden, um die sich keine Regierung schert. 

Wer in dieser Hochphase versucht hatte, Vergleiche zu ziehen, wurde diskreditiert ...
Ja, das hat mich auch gestört. Man darf natürlich alles sagen, aber man darf nicht alles ungestraft sagen. Und man dringt auch, wenn man Kritisches sagen möchte, in bestimmten Situationen nicht durch. Das ist mir auch selber so gegangen. Ich bin seit Jahrzehnten journalistisch tätig, habe es aber in den ersten Wochen der Pandemie nicht geschafft, Beitragsangebote dort unterzubringen, wo ich sie gerne gesehen hätte; wo meine kritischen Fragen also etwas mehr Resonanz erzielt hätten als in der Form, in der ich sie dann tatsächlich in Umlauf gebracht habe.

Sie sagen, dass Sie eine These umtreibe: Haben die Medien möglicherweise durch ihre sehr einseitige Berichterstattung den Lockdown mit herbeigesendet und mit herbeigeschrieben?
Diese Frage würde ich gerne als Frage weiter diskutiert sehen. Ich hätte diese Frage allerdings nicht gestellt, wenn ich nicht den Eindruck hätte, dass an der These etwas dran ist. So wie die Medien plötzlich im Gleichklang und im Übermaß über Corona berichtet haben, sind die Regierungen in Zugzwang geraten.

Es tauchte jedenfalls stets auch der Ausdruck der Alternativ­losigkeit auf. Das ist lustig.
Ich schmunzle mit Ihnen. Das halte ich für eine der raffiniertesten Erfindungen unserer Regierungen überhaupt. Soweit ich das überschaue, ist Frau Merkel besonders tüchtig, wenn sie mit dieser Formel operiert. Aber sie hat da sicher kein Monopol darauf, auch der Herr Kurz hatte da ja nicht viel anders argumentiert. Und da muss man doch sehen, dass es in der Demokratie in aller Regel schon eine Alternative gäbe, und andere Länder in der Tat ja auch anders mit dem Thema umgegangen sind. Wir wissen mittlerweile, dass man das nicht unbedingt so hätte machen müssen, wie das in Österreich oder in Deutschland gemacht worden ist. 

Sie sagten in einem Interview, Medien hätten recherchieren sollen, ob sich das Virus nicht auch mit geringeren Einschränkungen des Lebens erfolgreich hätte bekämpfen lassen.
Recherchieren ist schwierig, weil es ja wirklich ein neues Virus ist und Regierende, Journalisten und Virologen allesamt vor einer vollkommen neuen Situation gestanden sind. Aber welche Einschränkungen die Obrigkeit für uns alle verfügt hat, das ist für eine Demokratie, in der Grundrechte ja eigentlich garantiert sind, schon ziemlich heftig. Und dass wir das weitgehend auch so widerspruchslos hingenommen haben und dass an jeder Straßenecke inzwischen auch Blockwarte auftauchen, die aufpassen, dass andere sich an die Regularien halten, das finde ich schon merkwürdig – und zum Teil auch bedrohlich.

Ein Zitat von Ihnen: „Und wenn sich Politiker hinstellen und den Eindruck erwecken, dass sie alles im Griff hätten, dann müsste ein Aufschrei der Journalisten durchs Land gehen!“
Diesen Aufschrei, den habe ich über Wochen hinweg vermisst! Da hat man sich wochenlang lammfromm gegenüber der Regierung gegeben, was erst dazu geführt hat, dass uns die Obrigkeit dermaßen bevormunden konnte – und hat dann erst viel zu spät eine kritische Einschätzung dessen abgeliefert, was da möglicherweise an Kollateralschäden angerichtet worden ist. 

 

Und wenn sich Politiker hinstellen und den Eindruck erwecken, dass sie alles im Griff hätten, dann müsste ein Aufschrei der Journalisten durchs Land gehen!

Diese Reduktion, diese Einseitigkeit aber treibt Menschen in andere Informationskanäle und wird wieder die Mär von der Lügenpresse nähren ...
Die Gefahr, dass das passiert, sehe ich auch. Wobei ich mit dem Ausdruck Lügenpresse sehr vorsichtig bin, weil das ja in einer Weise Absicht unterstellt, die ich eigentlich nirgendwo sehe. Ich bin jemand, der seit Jahren dafür kämpft, dass Journalisten bessere Journalisten werden, der im Grunde genommen aber doch daran glaubt, dass die allermeisten Journalisten redlich sind in dem, was sie machen. Lügen verbreiten diejenigen, die aus geschäftlichen Interessen oder aus Machtinteressen Desinformation in die Welt setzen. Das kann man den allermeisten Journalisten, die ich kenne, nicht vorwerfen. Allerdings haben die Journalisten zumindest insofern Mitschuld, weil sie etwas in den vergangenen 20, 30 Jahre massiv vernachlässigt haben: Über das eigene Metier, über den Journalismus selbst, über seine Möglichkeiten, aber auch über seine Grenzen angemessen aufzuklären. Und wo eine solche Aufklärung fehlt, entstehen Räume, in denen sich Vorwürfe wie jener der Lügenpresse ausbreiten; Räume, in denen Verschwörungstheorien Nahrung und Resonanz finden. Ich frage mich immer, warum der Medienjournalismus so eine absolut kleine und kleinste Rolle spielt. Hätten wir ein paar Sportjournalisten weniger und ein paar Medien- und Wissenschaftsjournalisten mehr in den Redaktionen, dann wäre dem öffentlichen Interesse besser gedient. Vielleicht ließe sich sogar die „Alles gratis“-Mentalität bekämpfen, wenn die Leute wüssten, warum guter, unabhängiger Journalismus Geld kostet …

Noch eine Frage aus Ihrem Dossier soll gestellt sein: Ist Journalisten hinreichend bewusst, dass sie mit Ihrer Berichterstattung auch Wirklichkeit konstruieren? 
Journalisten wissen natürlich, dass sie aus dem unendlich großen Weltgeschehen tagtäglich Auswahlentscheidungen treffen müssen. Und mit jeder Auswahl – Was ist für meine Leser, für mein Publikum wichtig und was nicht? – konstruiert der Journalist eben auch ein Stück weit die Welt für sein Publikum. Was das Publikum erfährt, was die Leser, Hörer, Zuschauer erfahren, das erfahren sie nicht, weil sie am Geschehen teilnehmen, das erfahren sie aus den Medien. Was sie aus den Medien erfahren, ist aber eben nur ein ganz kleiner Ausschnitt aus der Realität und ist deswegen immer konstruierte Realität. Und wenn Medien wochenlang mit einem Trommelfeuer nur noch über ein Thema berichten, dann entsteht Medienrealität, die mit der Vielfalt der Realitäten in unserer Welt nicht mehr sehr viel zu tun hat.

Man kann in Sachen Corona nur ein vorläufiges Fazit ziehen, weil uns die Folgen noch lange Zeit beschäftigen werden. Wie aber fällt Ihr vorläufiges Fazit aus?
Mit einem Satz?

Dürfen ruhig ein paar Sätze sein.
Mit Blick auf unsere Freiheitsrechte sage ich: Das war eine sehr merkwürdige Kombination aus medialem Versagen und Politikversagen, das sich wechselseitig hochgeschaukelt hat und das mit großer Wahrscheinlichkeit Kollateralschäden verursacht hat, die größer sind als die Schäden, die das Virus selbst anrichten hätte können. 

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Zur Person Stephan Ruß-Mohl 

*23. Mai 1950 in Frankfurt am Main, ist emeritierter Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Lugano und Gründer des Europäischen Journalismus-Observatoriums. Ruß-Mohl ist unter anderem auch für die Neue Zürcher Zeitung journalistisch tätig und Autor mehrerer Bücher. Zuletzt von ihm erschienen:
„Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde. Warum die Digitalisierung unsere Demokratie gefährdet“, Köln, 2017.

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