Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Das ist die Verantwortung, die auf unserer Generation liegt“

Dezember 2022

Philipp Blom (52) schildert in seinem aktuellen Buch „Die Unterwerfung“ die Geschichte der Jahrtausende alten Obsession, der Mensch müsse die Natur unterwerfen. Im Interview mit „Thema Vorarlberg“ sagt der renommierte Historiker: „Es gibt so viele Dinge in dieser Welt, die wir noch nicht verstehen. Wir wissen nur, dass wir sie im Moment signifikant zerstören.“ 

Herr Blom, Sie sagten einmal, Sie seien ein Historiker auf Abwegen, weil Sie sich nicht nur mit der Vergangenheit, sondern auch mit der Zukunft beschäftigen würden … 
Das erwartet man von einem Historiker normalerweise nicht, ist aber aus demselben Interesse gespeist und hat sogar dieselbe Methode. Als Historiker ist man nicht am bloßen Datum einer bestimmten Schlacht interessiert oder an der Art von Geschichte, die man in der Schule lernt. Vielmehr geht es darum, Strukturen zu verstehen; zu verstehen, was eine Zeit antreibt, was sie begrenzt, was sie zusammenhält. Was sagt das, was wir in der Geschichte betrachten, über uns selbst? Man kann diese Methode auch auf die Zukunft anwenden, indem man sich fragt, was heute bereits klar erkennbare und stark wirksame Strukturen, wie beispielsweise der technologische Wandel oder die Klimakatastrophe, mit unseren Gesellschaften machen werden.

In Ihrem aktuellen Buch „Unterwerfung“ schildern Sie die Jahrtausende alte Geschichte der Obsession, der Mensch müsse die Natur beherrschen. Ist denn das Wissen um die Vergangenheit dieser Obsession unabdingbar, um die Zukunft noch ändern zu können?
Ich weiß nicht, ob es unabdingbar ist. Aber es ist sicherlich nützlich. Es ist nützlich, zu verstehen, wie die Denkstruk­turen, in denen wir heute denken, zustande gekommen sind. Es ist nützlich, zu verstehen, dass die Art und Weise, wie wir heute die Welt betrachten, das Ergebnis einer historischen Genese ist. Was wir für normal erachten, weil wir nie etwas Anderes gekannt haben, kann sich ein paar hundert Kilometer entfernt bereits vollkommen anders darstellen. Es ist also wichtig, historische Strukturen zu erkennen, zu beschreiben und zu verstehen, um den eigenen Denkraum und den eigenen Handlungsspielraum erweitern zu können.

Wie stellt sich denn die Zukunft aus heutiger Sicht dar? 
Aus heutiger Sicht? Als eine Kaskade von Katastrophen, in denen mensch­liche Gesellschaften alles tun werden, um durch Anpassung und durch eine radikale Änderung ihres Lebensstils irgendwie zu überleben. Wobei dieses sehr schlimme Szenario eine ironische Fußnote hat. 

Eine ironische Fußnote?
Das ist die Tatsache, dass wir zwar das Wissen und die Technologien und das Geld und die Möglichkeit hätten, um diese Katastrophe noch wesentlich abschwächen und uns damit einen viel besseren Platz in diesen neuen Systemen erarbeiten zu können, aber dass wir das einfach nicht tun. Wir reden über Veränderung, aber die Art von Veränderung, die wirklich notwendig wäre, um jetzt noch einen ausreichend großen Unterschied zu machen, die findet einfach nicht statt. Wir müssten verstehen, dass auch hier Denkstrukturen am Werk sind, die unser Denken in eine bestimmte Richtung lenken.

Sie haben in einem „Thema-Vorarlberg“-Interview 2019 gesagt, wir wären imstande, die Zukunft noch zu ändern. Gilt das nach wie vor, auch angesichts der gegenwärtigen multiplen Krisen?
Ja. Die Geschichte der Zukunft ist noch nicht geschrieben. Die Zukunft kann sich noch anders darstellen. Die Natur kann beispielsweise viel größere Regenerationskapazitäten haben, als wir diesem System zutrauen. Aber wir müssen ihr eine Chance dafür geben! Wir müssen ganz mächtig auf die Bremse treten, um uns überhaupt noch eine Chance zu geben. Dies ist der Moment, grundlegende Entscheidungen zu treffen, dies ist vor allem der Moment, unser Handeln zu ändern. Das ist tatsächlich die Verantwortung, die auf unserer Generation liegt. Es gibt so viele Dinge in dieser Welt, die wir noch nicht verstehen. Wir wissen nur, dass wir sie im Moment signifikant zerstören. Wir wissen, dass diese menschliche Aktivität – und das ist keine moralische Frage, sondern eine phy­sische Frage – Systeme so dramatisch zum Kippen bringen, dass sie wahrscheinlich unsere Lebenssituation unterminieren werden. Aber was wirklich passiert, wissen wir erst, wenn es passiert ist. 

Ein Zitat aus Ihrem Buch lautet: Die Unterwerfung der Natur hat keine ideologische Farbe, keine religiöse Quelle, keine politische Überzeugung. Sie ist in Asien geboren, in Europa aufgewachsen und längst zur Weltbürgerin geworden …
Dieses Buch ist die Biografie einer Idee – die Biografie der absonderlichen Idee, Menschen könnten die Natur beherrschen und außerhalb des Systems Natur stehen, gar darüber erhaben sein. Sie ist keine natürliche Idee der menschlichen Existenz. Die meisten Kulturen haben kein Konzept davon, dass Menschen außerhalb der Natur und über der Natur stehen. Diese Idee ist in Mesopotamien geboren, als Könige dafür lebten, alles zu unterwerfen, sie wurde in der Bibel über Jahrhunderte konserviert und ist dann mit der Bibel nach Europa gekommen und hat da ein neues Leben angefangen. 

Im Buch datieren Sie den Beginn der Zerstörung auf das 15. Jahrhundert.
Im 15. Jahrhundert beginnt die europäische Eroberung und damit auch die Christianisierung anderer Kontinente. Aber es ist auch der Anfang einer Wissens-Revolution, einer kulturellen Revolution, die in die Aufklärung übergeht und in der industriellen Revolution mündet. Das sind die Schlüsselfaktoren: Die Idee der Beherrschung der Natur war so lange keine zutiefst zerstörerische Idee für natürliche Zusammenhänge, solange die Gesellschaften nicht die Technologie hatten, um tief in die Natur einzugreifen. 
Ließe sich denn eine historische Figur beschreiben, die – stellvertretend auch für andere – für die Verbreitung dieses Unterwerfungswahns steht?
Es gibt viele, die unterschiedliche Aspekte dieses Unterwerfungswahns verkörpern. Denken Sie zum Beispiel an die großen Helden des Kolonialismus, an deren Unterwerfung anderer Länder, anderer Völker und an deren Ausbeutung großer Teile der Natur. Oder denken Sie an jemanden wie René Descartes. Descartes bringt die Idee in die Philosophie, dass nur der Mensch Anteil am Göttlichen hat und der Rest der Natur nicht. Für Descartes ist die Natur nur Materie, für ihn haben zum Beispiel Tiere weder Gefühle noch eine Persönlichkeit, noch können sie Schmerzen fühlen. Das ist ein ganz wichtiger Moment in der Philosophiegeschichte, weil Descartes etwas philosophisch kodifiziert, was religiös schon angelegt war, und weil er uns damit die theoretische Basis dafür gab, mit der Natur umzugehen, wie wir es seitdem als Gesellschaften und als Ökonomien getan haben. Und weil er uns letztendlich die Entschuldigung dafür gibt, 88 Milliarden Tiere pro Jahr zu schlachten; das geht ja nur, indem wir völlig verdrängen, dass diese Tiere Seelen mit Empfindungen sind. 

Ein Zitat von Ihnen lautet: „Lügen infantilisieren Menschen und halten sie mit Trugbildern unter Kontrolle.“ Wie lange werden diese Trugbilder noch bestehen?
Ach, wissen Sie, wir haben als Menschen ein großes Bedürfnis nach solchen Trugbildern. Wir haben ein großes Bedürfnis, an etwas zu glauben, uns gut zu fühlen, bei dem, was wir über uns selbst denken. Und dieses psychologische Bedürfnis ist sehr oft sehr viel stärker als unsere Vernunft. Und das ändert sich auch nicht. Wir werden nicht vernünftiger, wir sind in der ganzen Geschichte nicht vernünftiger geworden, wir wissen heute nur mehr über die Welt. Man könnte auch sagen: Unsere heutigen Modelle sind besser geworden als die im Mittelalter. Im Mittelalter hat man die Zusammenhänge der physischen Welt noch mangelhafter verstanden, nach Modellen, die wir heute als falsch erkennen. Aber unser Modell ist auch nur eine Übergangsform. Sehen Sie sich an, wie wir leben; sehen Sie sich an, wie wir die Natur ausbeuten: Obwohl wir längst begriffen haben, dass wir damit unsere eigenen Lebensgrundlagen angreifen, handeln wir nicht rational. Zu verstehen, wie wir die Rationalität stärken können, das wäre immens wichtig. Aber dazu müssen wir erst einmal begreifen, welche Rolle die Irrationalität in uns spielt. 

Der Mensch müsste sich also von Jahrtausende alten Vorstellungen verabschieden …
Ja! Und das ist eine Überforderung. Es ist geradezu eine Zumutung, dass von einer Generation verlangt wird, 3000 Jahre Kulturgeschichte, in denen Menschen von sich gedacht haben, sie seien die Krone der Schöpfung und erhaben über den Rest der Natur, zu überwinden. Es ist eine Zumutung, und eine narzisstische Kränkung, von Menschen zu verlangen, diese sehr schmeichelhafte Position aufzugeben in der Welt, und sich in ihr etwas bescheidener einzufinden, in diesem unendlich komplexen System der Natur, dem wir nun mal angehören. Es ist schwierig, weil es einen mit neuen Arten konfrontiert, sich selbst in der Welt zu sehen. Es ist der Abschied von einer Weltsicht. Aber ist es notwendig, weil das die philosophische und kulturelle Einbindung einer wirklichen Klimawende wäre. Und wir werden diese Wende nicht nur durch neue Gesetze und neue Wirtschaftspraktiken schaffen, sondern auch dadurch, dass wir anfangen müssen, anders über uns selbst nachzudenken. Das fordert unser tiefstes Selbstverständnis heraus. 

Sie haben einmal gesagt, Sie möchten nicht als Untergangs-Prophet verstanden werden. Also lautet die Frage: Besteht Hoffnung?
Natürlich bleibt Hoffnung. Wobei man fragen muss: Hoffnung auf was? Haben wir Hoffnung darauf, uns auch unter schwierigen Bedingungen weiter durchwurschteln zu können? Selbstverständlich haben wir das. Haben wir Hoffnung darauf, dass es auch unter schwierigen Bedingungen gute Gesellschaften geben kann, Gesellschaften, die Blütezeiten erleben oder besondere Qualitäten ausbilden? Natürlich haben wir das. Die radikalen Aufklärer, mit denen ich mich beschäftigt habe, die würden sagen, wir leben nicht aus rationalen Gründen; was uns antreibt im Leben, ist nicht unsere Vernunft, sondern Eros, also die Tatsache, dass wir eine sinnliche Verbindung zur Welt haben. Wir stehen jeden Tag auf, weil die Welt uns fasziniert, weil wir in der Welt leben wollen – und dann wäre dafür zu sorgen, dass diese Welt so gut wie möglich ist.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person
Philipp Blom
* 1970 in Hamburg, studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford. Blom arbeitete anschließend in London und Paris. Seit 2007 lebt er in Wien. Als Journalist hat Blom in diversen renommierten Zeitungen und Zeitschriften publiziert, unter anderem im Guardian, in der Financial Times, in der Zeit, der NZZ und der FAZ. Blom, vielfach ausgezeichnet, ist Autor mehrerer Bestseller, unter anderem von ihm erschienen: „Das große Welttheater“ (2020) und „Was auf dem Spiel steht“ (2017).

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