Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Die Landwirtschaft, ein Spiegelbild der Gesellschaft“

Oktober 2022

Landwirte und Verbraucher begegnen einander mit starken Vorbehalten.Warum das so ist, was hinter diesen Vorbehalten steckt und wie sich dem mit dem neuen Narrativ des „Zukunftsbauern“ begegnen lässt, das erklärt Tiefenpsychologe Jens Lönneker (65). Der Marktforscher sagt: „Wir haben zu wenig Diskurs darüber, was die Landwirtschaft wirklich ist – und was sie sein soll.“

Herr Lönneker, Sie haben eine Studie zum Thema Landwirtschaft publiziert. Ein spannendes Thema, in der Landwirtschaft verdichten sich ja viele Themen der Gegenwart. 
Ja. Wird über Landwirtschaft diskutiert, wird gleichzeitig über Klimawandel, Bodenverbrauch, Massentierhaltung, Artensterben und anderes diskutiert. Was wir essen und wie wir es produzieren hat Auswirkungen auf Klima und Natur, es sind also ganz viele verschiedene Aspekte, die von der Landwirtschaft berührt werden. Nachdem wir aber einen psychologischen Background haben und unser Fokus die empirische Sozialforschung ist, hat uns interessiert, wie die Landwirtschaft in der Gesellschaft psychologisch gesehen und behandelt wird. Denn die Art und Weise, wie die Landwirtschaft wahrgenommen wird, ist auch ein Spiegelbild der Gesellschaft. 

Ja? Die Landwirtschaft hat in der breiten Bevölkerung nicht unbedingt das beste Image.
Ja und nein. Man kann sagen, dass der größere Teil der Landwirtschaft, die konventionelle Landwirtschaft, sehr kritisch betrachtet wird, weil sie im Verdacht steht, die Natur eher zu zerstören oder zumindest zu beeinträchtigen. Es gibt aber umgekehrt auch ein Bild von der ökologisch betriebenen Landwirtschaft, das dermaßen überbetont positiv ist, dass es den betreffenden Landwirten oftmals selbst beinahe peinlich ist, wie sie wahrgenommen werden. Die Bevölkerung hat also die Neigung, die Landwirtschaft sehr pointiert, geradezu überspitzt wahrzunehmen. Wobei aus meiner Sicht die konventionell arbeitenden Landwirte tendenziell zu negativ und die Öko-Landwirte tendenziell zu positiv betrachtet werden. Wir haben zu wenige Zwischentöne, zu wenig Diskurs darüber, was die Landwirtschaft wirklich ist – und was sie sein kann und sein soll.

Sie sagen ja, es sei eine Frage der unterschiedlichen Wahrnehmung, eine Frage des Eigenbildes und des Fremdbildes, die nicht übereinstimmen. Wie ist das gemeint?
Das Bild, das die Landwirte von sich selbst haben, unterscheidet sich von dem Bild, das die Verbraucher von den Landwirten haben. Wir haben in den Interviews oftmals gehört, dass Landwirte sagen: Wie können die Verbraucher denn ernsthaft glauben, dass wir die eigenen Existenzgrundlagen gefährden würden? Landwirte sind in aller Regel wirklich empört, wie negativ sie wahrgenommen werden. Die restliche Bevölkerung hat aber ein anderes Bild von den Landwirten und sieht auch nur wenig Anlass, dieses Bild zu korrigieren. Unter anderem, weil es heutzutage nur noch wenige direkte Berührungspunkte zur Landwirtschaft gibt. Und solange kein direkter Austausch, kein Diskurs zwischen diesen Gruppen stattfindet, so lange wird dieses Bild auch nicht korrigiert werden. 

Wobei man angesichts medial verbreiteter Bilder – etwa von Massentierhaltung – Schwierigkeiten hat, in der Landwirtschaft ausschließlich Gutes zu erkennen.
Das ist richtig. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich bin nicht der Verteidiger der konventionellen Landwirtschaft. Aber ich will Fairness im Umgang miteinander. 

Inwiefern?
Vor ein paar Jahren hatte eine niedersächsische Landwirtschaftsministerin in ihrer Landwirtschaft eine Geflügel-Massentierhaltung betrieben. Eines Tages betrat ein freies Fernsehteam den Stall, drehte dort und filmte dabei unter anderem auch eine tote Pute, die in einem Eck des Stalls gelegen war. Diese tote Pute schaffte es in die Tagesthemen des deutschen Fernsehens. Die Ministerin musste zurücktreten, so groß war die Empörung. Doch ein Journalist der FAZ, Jan Grossarth, recherchierte nach. Er traf sich mit dem Fernsehteam. Und die haben ihm gesagt, in dem Stall sei eigentlich alles in Ordnung gewesen, sie hätten mehrere Stunden gefilmt und dieses Bildmaterial allen Redaktionen angeboten. Aber die Redaktionen wollten eben nur eines: Die tote Pute. 

Soll heißen?
Was ich damit sagen will, ist folgendes: Wir sind darauf programmiert, Stereotype und Vorurteile zu sehen. Ich verteidige nicht die Massentierhaltung. Aber ich sage: Wir brauchen den Diskurs, wir brauchen die vernünftige Diskussion. Wenn wir über Geflügelzucht sprechen, dann müssten wir beispielsweise auch jene Leute hören, die sagen, dass es angesichts unseres Konsums gar nicht möglich wäre, das gesamte Geflügel frei herumlaufen zu lassen – weil das unter anderem verheerende Folgen für die gesamte Umgebung hätte. Aber dank der Vorurteilsbildung findet ein solcher Diskurs gar nicht statt.

Vorurteilsbildung? Klingt interessant.
In der Psychologie gibt es eine starke Tradition, die sich mit Vorurteilsforschung beschäftigt, der US-Amerikaner Gordon Allport wäre da zu erwähnen. Nun ist Vorurteilsbildung in gewissen Bereichen noch nicht einmal schlecht. Der Mensch hat grundsätzlich die Neigung, in der Wiederholung dessen, was er im Alltag beobachtet, Muster zu erkennen. Diese Muster helfen dem Menschen, sich in der Welt zurechtzufinden. Allerdings ist der Übergang von diesen Mustern zu Vorurteilen fließend. 

Ist es das, was sie mit dem Satz meinen: „Stereotype Geschichten, stereotype Bilder prägen die öffentliche Meinungsbildung?“
Ja. Auch das ist Psychologie: Wenn Bevölkerungsgruppen am gleichen Ort zur gleichen Zeit nebeneinander leben, aber wenig Austausch miteinander haben, dann ist das der beste Nährboden, um Stereotype und Vorurteile zu entwickeln. Der eine kann von dem anderen etwas behaupten, oder im anderen etwas sehen, was sich ohne Austausch untereinander weder prüfen noch korrigieren lässt. Also wollten wir herausarbeiten, was denn jetzt an Stereotypen auf die Landwirte projiziert wird und umgekehrt, und was an diesen Stereotypen verhandelt wird. In der Psychologie sind Projektionen immer auch ein Ausdruck dessen, was die projizierenden Menschen selbst als Thema haben. Der Mensch neigt dazu, bei anderen das zu kritisieren, zu dem er selbst neigt. Der Nörgler kritisiert etwa, dass alle anderen nörgeln. Also ist die Frage, was in dieser Hinsicht bei den Landwirten passiert.

Und die Antwort lautet?
Die Verbraucher sagen über die Landwirte: Das sind diejenigen, die die Natur zerstören. In den psychologischen Interviews haben wir aber folgendes festgestellt: Die meisten Menschen wissen, dass auch sie selbst nicht immer im Einklang mit den Erfordernissen des Klimawandels agieren. Man achtet darauf, möglichst keine Lebensmittel wegzuwerfen, fliegt dann aber doch in den Urlaub, trägt also selbst zur Umweltzerstörung bei. Und diese eigenen „Sünden“ handelt man dann ein Stück weit an den Landwirten ab.

Sie formulieren im Buch den interessanten Satz: „In der Kritik an den Bauern äußert sich auch das Unbehagen über den eigenen Lebenswandel.“
Wir wissen, was wir selbst anders machen müssten, sind in vielen Punkten aber oft zu bequem. Es erscheint uns oft zu umständlich, konsequent zu sein. Lebt man so, als müsste man über die Sache nicht nachdenken, dann wird das Leben erst mal ein Stück weit einfacher. Vermeintlich. Denn ein latentes Unbehagen bleibt zurück, weil wir eben doch wissen, dass das nicht richtig ist. Und dieses Unbehagen wird behandelt, in dem man sagt: Die Landwirte sollen anders mit den Tieren umgehen! Die Landwirte sollen weniger Gülle auf den Feldern ausbringen! Das ist nicht in Ordnung, was die da machen! 

Der Verbraucher kritisiert die Massentierhaltung der industriellen Landwirtschaft, kauft aber deren Produkte. Wie passt das zusammen? Wie erklärt das der Psychologe?
Das wird in unserem Umfeld gerne mit dem Ausdruck „Mind-Behavior-Gap“ bezeichnet, als eine Lücke zwischen dem, was wir wollen und dem, was wir tun; eine Lücke zwischen unserer Vernunft und unserem Verhalten. Die allermeisten Menschen wollen nicht, dass Tiere gequält werden. Dann stehen sie vor dem Kühlregal, sehen den Kilopreis für vorbildlich produziertes Fleisch, werden schwach – und folgen erst wieder ihrem Portemonnaie. Letztlich sagen die Verbraucher zu den Landwirten: Löst dieses Problem für uns! Wir wollen das gute nachhaltige Produkt. Aber zum günstigen Preis. Und die Landwirte sagen: Wir geben euch nachhaltigere Produkte! Aber ihr müsst mehr zahlen!

Sie sagen da, dass sich die Konsumenten und die Landwirte gegenseitig den Schwarzen Peter zuschieben.
Es ist schön, dass Sie das ansprechen! Beide Seiten schieben sich den schwarzen Peter für die Missstände rund um die Produktion und das Angebot von Lebensmitteln zu. Die Landwirte fordern die Verbraucher auf, ihren Konsum umzustellen, die Verbraucher fordern die Landwirte auf, die Produktion umzustellen. Beide Gruppen klagen sich gegenseitig an, verlangen also von dem jeweils anderen, die Missstände zu beheben und gleichzeitig die Kosten dafür zu tragen. Am Ende führt das dann eben dazu, dass sich gar nichts verändert, dass alles so bleibt, wie es ist. Das Spiel hat am Ende den insgeheimen Sinn, nichts verändern zu müssen.

Sie skizzieren in Ihrer Studie allerdings einen Weg, wie dieses Schwarze-Peter-Spiel beendet werden könnte – mit einem neuen Narrativ.
Robert Shiller, ein US-amerikanischer Ökonom und Nobelpreisträger, hat sich mit Narrativen vergangener Jahrzehnte beschäftigt und dabei festgestellt: Sind Narrative gut, kann ihre Verbreitungsgeschwindigkeit sehr hoch sein. Der Kampf um die Meinungshoheit in der öffentlichen Meinungsbildung ist ein Kampf um die Narrative. Vor diesem Hintergrund haben wir uns auf die Suche nach einem Narrativ gemacht, welches das Potenzial hat, dieses Schwarze- Peter-Spiel zu überwinden. Wir haben mehrere Varianten ausgearbeitet – die Landwirte als Ernährer, als Versorger, als regionale Identitätsstifter, als Bewahrer der Natur oder eben als Zukunftsbauer – und Landwirten und Verbrauchern vorgelegt. Und durchaus zu unserer Überraschung, das will ich gar nicht verhehlen, haben beide Gruppen bei einem Narrativ einhellig gesagt: Das ist es! Das ist genau das, was wir hören möchten! Und das ist das Narrativ des Zukunftsbauern.

Wie lautet dieses Narrativ?
Wir haben folgenden Text vorgelegt: „Landwirtschaft heißt, Zukunft gestalten. Wenn die Zukunft für immer mehr Menschen gesichert werden soll, können Umwelt, Böden und Vieh nicht immer weiter so ausgebeutet werden, dass sie dauerhaft geschädigt werden. Landwirtschaft der Zukunft bedeutet daher mehr als Ertragssteigerung. Schon jetzt produziert die Landwirtschaft erneuerbare Energien, entwickelt zum Beispiel Kartoffelzüchtungen für Salzböden oder arbeitet an Steigerungen der Bodenqualität, mit dem Ziel, weniger Pflanzenschutzmittel einsetzen zu müssen. Landwirtschaft war immer schon aufgeschlossen gegenüber neuen Technologien. Die Kombination alten Wissens und moderner Technik kann Nachhaltigkeitsaspekte stärken und die Umwelt bewahren, ohne dass dies zulasten der Produktionsmengen gehen muss. Technik und Landwirtschaft könnten also in Zukunft mehr denn je miteinander harmonieren.“ Der deutsche Bauerntag hat dieses Konzept nun zum Motto des diesjährigen Bauerntages gemacht. Das ist gut so. Das freut mich. Es liegt an der Landwirtschaft, aktiv zu werden. Die Landwirtschaft, die bisher eindeutig zu wenig mit der Bevölkerung kommuniziert, muss den Dialog mit den Verbrauchern entwickeln. 

Welches Fazit ließe sich in der Sache denn ziehen?
Ich glaube, dass es angesichts der aktuellen Krisen zu einer Polarisierung zwischen konservativ-restaurativen und zukunftsorientierten Kräften kommen wird. Die Konservativ-Restaurativen werden sagen, wir können uns angesichts dieser Krisen nur wenig Zukunft und wenig Naturschutz leisten. Die Zukunftsorientierten werden dagegen sagen: Gerade in diesen Zeiten können wir nicht so weitermachen wie bisher. Das ist auch meine Meinung.

Vielen Dank für das Gespräch!

Jens Lönneker , * 1957 in Hannover, ist Tiefenpsychologe mit dem Schwerpunkt Markt, Medien und Kulturforschung. Mit seinem 2010 gegründeten „rheingold salon“ mit Sitz in Köln forscht und berät er national wie international in den Bereichen Grundlagenforschung, Produkt- und Markenentwicklung und Kommunikationsstrategien. Als Lehrbeauftragter beziehungsweise Referent war Lönneker unter anderem an der Universität der Künste in Berlin, der Business School Berlin (BSB) und der Universität St. Gallen tätig.

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.