Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Die Neue Seidenstraße und Chinas globaler Machtanspruch

Juni 2023

Journalist Philipp Mattheis (44) hat monatelang in Ländern entlang der Neuen Seidenstraße recherchiert – und das Ergebnis nun in einem Buch publiziert. Im Interview erklärt der deutsche Auslandskorrespondent, warum China bevorzugt in autoritären Staaten investiert. Sein Fazit: „Die Neue Seidenstraße ist ein dreckiges Projekt.“ Für die Uiguren, sagt Mattheis, ist Chinas globaler Machtanspruch gar zur „Hölle auf Erden“ geworden.

Herr Mattheis, Sie haben lange recherchiert, in vielen Ländern vor Ort. Und kommen in Ihrem Buch zu dem Schluss: „Die Neue Seidenstraße ist ein dreckiges Projekt.“ 
Ja, der Begriff „Seidenstraße“ eignet sich zwar bestens dazu, einen orientalischen Schleier über die Wirklichkeit zu legen. Aber wenn man genauer hinsieht, merkt man zwei Sachen sehr schnell: Erstens, dass auf den Autobahnen und Zugstrecken entlang der Neuen Seidenstraße nicht nur chinesische Waren transportiert werden, sondern auch Ideologie und Dominanz. Und zweitens, dass das chinesische Geld an sehr vielen Stellen große Probleme geschaffen hat. China vergibt bewusst Kredite für In­frastrukturprojekte an arme Länder, die mit der Schuldentilgung überfordert sind und schafft so neue Abhängigkeiten.

Wie viele Staaten sind in dieser Hinsicht bereits abhängig geworden von China?
Das ist eine Frage, die nicht so leicht zu beantworten ist. Aber der Internationale Währungsfonds hat erst im April vermeldet, dass 21 Staaten kurz vor der Insolvenz stehen oder zumindest massive Finanzierungsschwierigkeiten haben; und diese Staaten sind fast alle Teil der Seidenstraße. Betroffen sind Länder in Afrika und in Asien, also Länder des globalen Südens, aber auch Staaten in Zentralasien und in Südamerika. 

Gibt es denn Schätzungen, wieviel Geld China bislang in die Seidenstraße investiert hat?
Die gibt es: Man schätzt, dass das bislang zwischen 800 Milliarden und einer Billion US-Dollar waren.

Sie sagen: „Chinesisches Geld fließt oft in die Hände korrupter Politiker, in autoritäre Staaten, die sich weder um Menschenrechte noch um Umweltstandards scheren.“ Ist das ein Fazit Ihrer Recherchen, Ihrer Reisen?
Es ist nicht so, dass chinesisches Geld ausschließlich in autoritäre Staaten fließt. Allerdings hat es Peking in solchen Staaten wesentlich leichter, man verhandelt oftmals nur mit einer Person, die sich dann, entsprechend geschmiert, entgegenkommend verhält. Zudem ist es in autoritären Staaten nicht besonders gut um Menschenrechte und Umweltstandards bestellt, um das vorsichtig zu formulieren. Man kann also schon sagen, dass es einen eindeutigen chinesischen Schwerpunkt gibt, in autoritären Staaten zu investieren.

Sie haben in den vergangenen Monaten in über einem Dutzend afrikanischer und asiatischer Länder entlang der Seiden­straße recherchiert …
Und ich habe gesehen, dass der jeweiligen lokalen Bevölkerung in den allermeisten Fällen nichts bleibt, außer Umweltschäden und zerstörte Lebensräume. Fairerweise muss man anmerken, dass sich Infrastrukturprojekte wie eine Zugstrecke erst über einen längeren Zeitraum positiv auswirken, und zunächst einmal Umweltschäden anrichten. Trotzdem - die Menschen vor Ort wurden meist nicht gefragt, und oft nicht entschädigt. Ich habe von direkt Betroffenen so gut wie nie etwas Positives über die chinesischen Investitionen gehört.
Aber am schlimmsten, sagen Sie, sei die Situation für die Uiguren.
Für das Volk der Uiguren ist die Seidenstraße die Hölle auf Erden. Diskriminierung von Uiguren hat in der Provinz Xinjiang, im Nordwesten des Landes, immer schon stattgefunden, aber ab den Jahren 2013, 2014 hat sich das massiv verschärft. In den von den Chinesen in diesen Jahren errichteten Umerziehungslagern waren seither Schätzungen zufolge eineinhalb bis zwei Millionen Uiguren inhaftiert, wurden dort gefoltert und einer Gehirnwäsche unterzogen. Und darüber hinaus hat China dort eine Art digitales Freiluftgefängnis geschaffen, testet seine digitale Überwachungstechnologien, wie etwa Gesichtserkennung, an den Uiguren. Ich bin im Zuge der Recherchen immer wieder auf die Frage gestoßen: Warum kam es zu dieser massiven Verschärfung der Unterdrückung der Uiguren, die zeitlich mit der Schaffung der Neuen Seidenstraße zusammenfällt?

Und wie lautet die Antwort?
Eine wichtige Antwort liegt in der Geografie. Sehr lange Zeit war Xinjiang, eine große Region, eine Art Hinterhof von China, an der Grenze zur Sowjetunion, mit der man keine gute Beziehungen hatte. Mit der Schaffung der Neuen Seidenstraße aber wurde aus dem einstigen Hinterhof Drehscheibe und Tor sowohl nach Zentralasien als auch nach Südasien. Diese Region ist für Peking so wichtig geworden, dass mit der massiven Unterdrückung der Uiguren Aufstände und Unruhen in Xinjiang von vornherein unterbunden werden sollen. Es ist belegt, wie brutal China dabei vorgeht, auch wenn Peking das nach wie vor bestreitet. Es sind nicht viele Menschen, denen die Flucht aus Xinjiang gelungen ist, aber deren Schilderungen sind eindeutig. Aber viele Firmen, darunter auch deutsche, sehen nach wie vor kein Problem, in dieser Region zu produzieren und präsent zu sein. In der Öffentlichkeit findet das Thema leider immer noch zu wenig Aufmerksamkeit.

Sprechen wir über die Anfänge? Wann beginnt die Geschichte der Neuen Seidenstraße?
Das ist eine sehr gute Frage. Es ist mir bei der Recherche mehrfach aufgefallen, wie unklar das eigentlich ist. Es hatte bereits vor dem offiziellen Start der Neuen Seidenstraße im September 2013 chinesische Aktivitäten in anderen Ländern gegeben, auch lässt sich ihre Route nicht mit ihrem historischen Vorgänger vergleichen, das machen Projekte in Westafrika, in Südamerika und selbst im Polarmeer deutlich. Auch die Zugstrecke zwischen Chongqing und Duisburg gibt es bereits seit 2011. Ab 2013 sieht man eine deutliche Zunahme, das stimmt schon; aber vieles, was es zuvor bereits gegeben hatte, wird von Peking unter dem Begriff der Neuen Seidenstraße subsummiert. 

Und doch bleibt Ihrem Buch zufolge „vieles im Unklaren, die Seidenstraße lässt sich geografisch nicht verorten, China selbst hat nie eine Karte der Route noch eine Liste von Projekten veröffentlicht“. Wird die Seidenstraße absichtlich nebulös gehalten?
Es ist auf jeden Fall ein Muster, dass man in China oft erkennt. Man sieht das auch bei Gesetzen, in denen manche Formulierungen bewusst so vage gehalten werden, dass die Entscheider noch immer Raum für Willkür haben. Und bei der Seidenstraße war und ist das ähnlich, das Projekt ist vage, um situationsbedingt reagieren zu können, aber eventuell auch, um sich im Fall von Misserfolgen nicht daran messen lassen zu müssen.

Und vermutlich auch, um den eigenen, globalen Machtanspruch zu verschleiern?
Das kommt sicherlich auch dazu. 

Sie sagen ja, dass auf der alten Seiden­straße einst vor allem Seide transportiert worden ist, heute aber nebst diversen Produkten vor allem auch Ideologie und Machtanspruch verbreitet werden.
Ja. All diese Länder, die auf der Neuen Seidenstraße liegen, kommen in Kontakt mit chinesischen Politikern, chinesischem Geld, chinesischen Marken – und damit auch mit chinesischen Gedanken. Und da sind wir wieder bei den Lieblingsempfängern von Pekings Krediten, bei den Autokratien. Für jemanden, der nicht unbedingt eine freiheitliche Werteordnung teilt, für den sind beispielsweise chinesische Überwachungstechnologien nochmals viel verlockender. Wobei es natürlich auch um Güter des täglichen Gebrauchs geht, um chinesische Smartphones und um andere Produkte. Auf jeden Fall aber werden die Beziehungen mit China enger, es erwächst Vertrautheit, unter anderem auch mit der Folge, dass sich die Staaten dann im Zweifel eher auf die chinesische Seite stellen, sollte es zu einem Konfliktfall kommen. Man sieht das bereits am Krieg in der Ukraine. 

Inwiefern?
Peking hat zwar ehrliches Interesse daran, dass dieser Krieg bald endet, will es sich aber mit keinem verscherzen: Man ist auf russische Energie angewiesen, teilt mit Russland auch bestimmte Ziele, ist gleichzeitig aber auch vom Westen und von den USA wirtschaftlich stark abhängig. Peking nimmt also nicht klar Stellung. Und deswegen haben viele Staaten entlang der Seidenstraße ebenfalls nicht klar Stellung bezogen. Sie folgen China.

Muss man, um die Neue Seidenstraße besser verstehen zu können, auch Xi Jinping besser verstehen?
Das ist wichtig, ja. Im Westen ist noch nicht im ausreichenden Maße verstanden worden, wie mächtig Chinas Präsident eigentlich ist. Xi Jinping ist der mächtigste Staatsführer seit Mao Zedong. Unter Xi Jinping ist das riesige Land wesentlich autoritärer geworden, er hat beispielsweise seine eigene Amtszeitbeschränkung abgeschafft. Alles eint sich in ihm, alles konzentriert sich auf ihn, alle im Staat wollen ihm gefallen und in dem glänzen, was er als wichtig erachtet. Wir wissen nur sehr wenig, wie es im Inneren der Kommunistischen Partei zugeht. Aber aus seinem Credo macht Xi Jinping keinen Hehl.

Das da lautet?
Xi Jinping zufolge ist die Zeit gekommen, in der das einstige Reich der Mitte wieder seine angestammte Position im globalen Machtgefüge antreten kann. Im Inneren Chinas stehen die Zeichen auf Diktatur – und nach außen hin verstärkt sich der Konflikt mit dem Westen. Man kann nun lange diskutieren, ob es vielleicht auch die USA unter Präsident Donald Trump waren, die da sozusagen den ersten Stein geworfen haben; aber seitdem befinden sich die Beziehungen Chinas mit dem Westen jedenfalls in einer Abwärtsspirale. Die Spannungen haben definitiv zugenommen, sie haben sich zugespitzt.

In der Geschichtsschreibung der Kommunistischen Partei ist das 19. Jahrhundert eines der Demütigung. Ist die Neue Seidenstraße im Licht dieser Historie zu sehen?
Ich glaube auf jeden Fall, dass man in den Führungszirkeln in China so denkt. Man findet auch immer wieder Echos der Geschichte. Ein Beispiel ist Sri Lanka: Dort wurde im Rahmen der Seidenstraße mit chinesischem Geld ein strategisch für China gut gelegener Hafen gebaut, und als Sri Lanka dann mit den Rückzahlungen in Probleme geriet, hat man sich darauf „geeinigt“, dass China den Hafen für 99 Jahre pachtet. Die Briten hatten China im 19. Jahrhundert dazu gezwungen, ihnen Hongkong für 99 Jahre zu verpachten. Es gibt mehrere Beispiele dieser Art. Ob das Revanche für historisch widerfahrenes Unrecht ist? Ganz allgemein gesprochen, lässt sich in jedem Fall sagen, dass China mit Projekten dieser Art erstmals wieder Macht nach außen projiziert, und das ganz bewusst, in Afrika, in Asien, in Südamerika und auch in Teilen Europas. Und Tatsache ist, dass der gesamte Westen dem derzeit nicht viel entgegenzusetzen hat.

Sie nennen den Süden und Osten Europa in Ihrem Buch eine „offene Flanke“…
Chinesische Staatsunternehmen „üben“ in diesen Ländern, wie gut sie mit den Standards und Auflagen der Europäischen Union zurechtkommen. Zudem hat man im Fall von Ungarn und von Serbien Staatsführer, die sich der westlichen Werteordnung nicht ganz so zugehörig fühlen. Es kommt also nicht von ungefähr, dass dort chinesische Investitionen angelaufen sind, man hat den Chinesen dort auch so manche Bedingung erleichtert. Wobei man fairerweise auch sagen muss, dass diese Länder erstens einen größeren Bedarf an Infrastrukturprojekten haben, und zweitens auch nicht jede chinesische Investition in Europa von vornherein schon schlecht sein muss. Man muss nur genau hinschauen und sich stets bewusst sein, dass auch andere Absichten und ein größeres Programm dahinterstehen können.

Was bringt die Zukunft? 
China, die Fabrik der Welt, hat innerhalb kürzester Zeit Japan und Deutschland hinter sich gelassen und könnte laut Prognosen bis 2030 die USA als größte Volkswirtschaft der Welt ablösen. Die Ursachen sind nicht zufällig, sondern Ergebnis der strategisch geplanten Wirtschaftspolitik Chinas auf der einen und Folge der Naivität und des kurzfristiges Profitdenkens seitens des Westens auf der anderen Seite. China verfolgt dabei die Idee der zwei Kreisläufe: Ein Teil der chinesischen Wirtschaft wird sich in den kommenden Jahren verschließen, während der andere aggressiv auf Märkte in Asien und Europa vordringen soll. Die Neue Seidenstraße ist bestens kompatibel mit diesem Konzept. Und noch ein Trend ist nicht mehr aufzuhalten: China, aber auch Gesamt-Asien werden im globalen Gefüge immer wichtiger. Um 1800 fanden 60 Prozent des Welthandels in Asien und in China statt, bis 1950 sank dieser Anteil auf zehn Prozent. Heute liegt man wieder bei 40 Prozent. In dieser Region der Welt nimmt man das 20. Jahrhundert als historische Anomalie wahr.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person

Philipp Mattheis, * 1979 nahe München, hat Philosophie studiert und die Deutsche Journalistenschule in München besucht. Mattheis, der jahrelang in Shanghai und später in Istanbul gelebt hatte, arbeitet als Auslandskorrespondent für mehre deutsche Medien, unter anderem für den „Stern“ und die „WirtschaftsWoche“. Von Mattheis 2021 erschienen ist das Buch „Ein Volk verschwindet. Wie wir China beim Völkermord an den Uiguren zuschauen.“ Sein aktuelles Buch „Die dreckige Seidenstraße“ ist bei Goldmann, München, im Mai 2023 erschienen.

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