Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Die Propheten des Untergangs“

Juni 2023

Emil Kowalski (86), Physiker und Philosoph, im Interview über Klimawende, Öko-Diktatur und Atomkraft.

Herr Kowalski, leben wir in einer Zeiten­wende? Was sagt der Philosoph? Und was sagt der Physiker? 
Da sind sich die beiden ausnahmsweise einig: Wir leben in einer Zeitenwende. Wobei ich diese Zeitenwende auch in einer anderen Hinsicht begreife: Wir wissen als Gesellschaft viel zu wenig, wovon wir eigentlich leben und bemerken deswegen kaum die vor uns stehende epochale Dimension der Veränderung.

Und was ist diese epochale Dimension der Veränderung?
Was das Kollektiv der Menschheit in 250 Jahren hervorbrachte, seit James Watt die Dampfmaschine erfunden hat, das wollen wir nun innerhalb einer einzigen Generation wiederholen. Der totale, der globale Verzicht auf die Nutzung fossiler Energieträger bedeutet, unsere technische Zivilisation von Grund auf neu aufzubauen, ohne auf den heutigen, demokratischen Wohlstand zu verzichten. Es geht um nicht weniger als um die Neuerfindung unserer wissenschaftlich-technischen Zivilisation in einer umweltgerechten Version innerhalb kürzester Zeit. Das ist ein Einschnitt, der die Bezeichnung ‚Zeitenwende‘ wahrlich verdient.

Wobei das Ziel der Dekarbonisierung unbestritten ist. Nur der Weg dazu nicht.
Das Problem wird moralisiert und schöngeredet, indem unterstellt wird, das Klima könne substanziell durch geändertes Verhalten der Gesellschaft gerettet werden, durch Effizienzsteigerung, konsequentes Sparen und den Abbau der Wohlstandsansprüche. Und durch erneuerbare Energien allein. Dieser ökologische Purismus, die Mentalität der Beurteilung technologischer Alternativen unter ideologischen Aspekten ist gefährlich. 

Sie kritisieren in Ihrem aktuellen Buch den „antitechnologischen Geist unserer Zeit“.
Mit Recht. Es gibt genügend karbonfreie Technologien, um den Energiebedarf einer umweltbewussten Zivilisation zu befriedigen, ohne dass der Wohlstand und dadurch auch die liberale Demokratie leiden, man darf aber auf keine Technologie verzichten, auch nicht auf die nukleare. Wir dürfen uns nichts vormachen: Der Verbrauch von elektrischem Strom wird stark ansteigen, weil große Mengen fossiler Energie im Verkehr und in der Materialwirtschaft durch klimaneutralen Strom zu ersetzen sein werden.

Sie rufen nach Atomkraft? Das weckt – vor allem in unseren Breiten – Urängste.
Und doch zeichnet sich eine Renaissance der Kernenergie ab. Mit Ausnahme primär von Deutschland und der Schweiz wird der Betrieb bestehender Anlagen weltweit verlängert und neue werden zugebaut. Einmal erstellt, erlaubt die nukleare Technologie eine Stromproduktion ohne CO2, mit wenig materiellen Ressourcen, kleinem Platzbedarf und das rund um die Uhr, wetterunabhängig. Die neuen Reaktorkonzepte sind intrinsisch sicher, unabhängig vom Faktor menschlicher Unzuverlässigkeit. Übrigens, in keinem Reaktor, der nach dem Jahr 1982 gebaut worden ist, ist es zu einem nuklearen Unfall gekommen, und zwischen diesem Jahr und dem heutigen Datum liegen über vier Jahrzehnte Sicherheitsforschung. Doch die Gegner der Atomkraft erreicht man mit diesen Fakten nicht. Deutschland nahm die letzten Atomkraftwerke vom Netz, nur um neue Kohleabbaugebiete zu erschließen. Man denkt, Atomkraft sei des Teufels. Also ist die Atomkraft des Teufels! Ich richte da nicht. Ich stelle nur fest. Der Mensch ist, wenn ihm etwas nicht gefällt, absolut faktenresistent. Und die technische Ignoranz der Allgemeinheit macht es schwer, die diversen Energietechnologien verständlich zu kommunizieren.

Ließe sich der Wandel mit erneuerbaren Energieträgern allein nicht bewerkstelligen?
Die notwendige Dekarbonisierung der Energieversorgung ist mit den volatilen Quellen Photovoltaik und Windenergie allein nicht zu bewältigen. Sie brauchen Speicher und sehr viel Fläche. Sie brauchen sehr viel Material. Zudem sind mit diesen Energien auch negative Umwelteffekte verbunden, auch sie schaffen teilweise gefährlichen Abfall, der zu entsorgen ist. Erneuerbare Energien allein sind also nicht segensmachend. Die Schweiz müsste viele der freien Bergflächen mit Sonnen-Paneelen zupflastern. Und man vergisst gerne, dass die Sonne auch in der Schweiz dummerweise nur am Tag scheint. Und auch dann nur drei, vier Stunden für die Spitzenleistung der Paneele. Nur traut sich die Politik kaum, diese Fakten klar anzusprechen.

Und wenn man den Fokus ausschließlich auf die Verhaltensänderung der Gesellschaft setzt?
Die Abstinenz wird propagiert. Man hat in sich zu gehen und vollständig anders, asketischer zu leben. Aber jetzt sage ich als Mensch der Praxis, der im Osten und im Westen gelebt hat und mittlerweile 86 Jahre Lebenserfahrung hat: Dass der Mensch seinen hedonistischen Neigungen ohne drastischen Zwang abschwört und durch Verhaltensänderungen zwecks Rettung des Klimas freiwillig zu vorindustriellen Mangelzu­ständen regrediert, das erachte ich als völlig ausgeschlossen. Und weil dazu Zwang ausgeübt werden müsste, landet man unweigerlich in der Tyrannei eines sozial-ökologischen Dirigismus und damit in einer vormodernen Zivilisation. Der alte Marxismus trägt heute ein unverdächtig grünes Mäntelchen. Und ich habe Angst, dass dieser Zwang zur Askese demokratische Werte zerstört. Hermann Lübbe, ein bekannter Philosoph, hatte einst vom ‚Sieg der Gesinnung über den gesunden Menschenverstand‘ geschrieben …

Sie sprechen in Ihrem Buch auch vom „Marketing des schlechten Gewissens“.
Mit dem Appell an das schlechte Gewissen zwingen Minderheiten ihre partikulären Interessen einer mutlosen Mehrheit leicht auf. Und warum? Weil unsere Gegenwart süchtig geworden ist nach übertriebener Selbstkritik und nach kontraproduktiven Schuldbekenntnissen. Wir haben die Bereitschaft, die Schuld für alles und jedes bei uns zu suchen, bereits verinnerlicht. Wir sind zu Buße bereit. Mitten in der Behaglichkeit des Wohlstands gehen wir den Propheten des Untergangs auf den Leim. Die abendländische Kultur hat so viel Positives hervorgebracht: die liberale Demokratie, die moderne Wissenschaft, die Technik und den daraus folgenden breiten Wohlstand. Eigentlich müssten wir daher mit dem Selbstbewusstsein eines erfolgreichen gesellschaftlichen Systems agieren. Doch an seinem Beitrag zum Wohl der Welt wird unser erfolgreiches gesellschaftliches Modell kaum noch gemessen, nur noch …

Nur noch?
… an den Kollateralschäden, die es verursacht. Eine Saldierung der Positiva gegenüber den Negativa findet nicht statt. Bereits der Versuch einer solchen Saldierung wird als schönfärberisch und mithin unethisch abgekanzelt. Und wir realisieren gar nicht, dass die modernen Strömungen der „Political Correctness“, der „Cancel Culture“ oder der „Wokeness“ weit über das angestrebte ethische Ziel hinausschießen: Sie stellen eine Gefahr für unser liberales Gesellschaftssystem dar. Wir, die wir das heutige Wohlergehen als etwas Selbstverständliches erachten, bagatellisieren die Konsequenzen der Systemkritik, bis wir schließlich selbst nur noch die Schattenseiten unseres Wohlstands sehen.

Ihnen zufolge gibt es eine kausale Verbindung zwischen der Produktivität unserer Wirtschaft und der Liberalität unserer Demokratie. Wie ist das zu verstehen?
Es ist in der Tat notwendig, die kausale Verbindung zwischen der Produktivität unserer technisch-industriellen, energiebasierten Wirtschaft und der Liberalität unserer Demokratie zu verstehen. Es besteht ein in sich geschlossener Kreislauf: Ohne die liberal-demokratische Marktwirtschaft und Technologie-Offenheit hätten wir einen Mangel an klimafreundlicher Energie, ohne ausreichende Energieversorgung keinen Wohlstand, ohne ausreichenden Wohlstand keine sozial gerechte Umverteilung des Sozialprodukts, ohne Umverteilung soziale Unruhen und Demokratieabbau. Wenn wir über den Klimawandel sprechen, haben wir zu erkennen: Ohne jederzeit verfügbare saubere Energie ist der Fortbestand unserer Demokratie nicht möglich. Das aber verkennen die Aktivisten der Umweltbewegung, die mit ihrem absoluten Anspruch der Klimaneutralität das Jahr 2050 zum Heiligen Gral machen. Wir brauchen dringend einen realistischen Blick. Und mehr Zeit.

Wie ist das zu verstehen?
Die Klimakrise ist ein globales Problem. Unsere lokale Atmosphärenerwärmung ist durch den weltweiten CO2-Ausstoß gegeben, also primär durch das Verhalten der großen Emittenten China, Russland und USA. Wie schnell die Alpen-Gletscher schmelzen, das wird heute in Peking entschieden ... Ein kleines Land kann das globale Klima nicht beeinflussen. Das könnten nur die Großmächte durch koordiniertes Vorgehen tun. Und diese Mächte sind in anderen Konflikten über die Maßen gebunden, es ist auch der Kampf der Weltmächte um Weltbeherrschung. Und es ist in höchstem Maße unrealistisch, zu erwarten, dass die antagonistischen Kräfte der Welt all die Konflikte der Gegenwart lösen, nur um sich dann gemeinsam auf den Kampf gegen den Klimawandel zu konzentrieren. Weil wir den spürbaren Auswirkungen der Klimaerwärmung also nicht mehr ausweichen können, bevor eine globale Lösung greift, werden sich gerade Länder wie Österreich, die Schweiz und sogar Deutschland darauf besinnen müssen, was sie in dieser Lage realistischerweise und verantwortbar tun können. Man hat daher in Kenntnis seiner begrenzten Möglichkeiten klare Prioritäten zu setzen, hat die nationale, souveräne Strategie zu suchen, um sich für das zu rüsten, was unvermeidlich ist.

In Kenntnis seiner begrenzten Möglichkeiten klare Prioritäten setzen? Welche?
Erstens: In eigener Kompetenz den Folgen der unausweichlichen Klimaerwärmung Vorsorge tragen und sich durch eine Strategie der Anpassung möglichst gut auf die Gefahren vorbereiten. Beispielsweise durch bauliche Maßnahmen in Gebieten, die von Bergstürzen – oder andernorts durch steigende Meereshöhe – bedroht sind. Zweitens: Ebenso in Eigenkompetenz und mit gleicher Dringlichkeit dafür sorgen, dass die Wirtschaft weder durch diese Vorsorge noch durch zu schnelle Dekarbonisierung geschädigt wird. Und erst in dritter Priorität muss man die eigene Energieversorgung schrittweise dekarbonisieren und die internationalen Bemühungen mittragen, und das wirksam, mit allen verfügbaren klimaneutralen Technologien, einschließlich der ungeliebten, aber bewährten Kernenergie. 

Können wir die Aufgabe überhaupt noch lösen?
Wir müssen! Aber es wird mehr Zeit benötigen, als unsere grünen Aktivisten annehmen. Es wird Technologieoffenheit brauchen. Und es wird mehr Gelassenheit nötig sein. Die Gretchenfrage der Gegenwart ist letztlich, ob es uns gelingt, die Klimaprobleme im Rahmen der liberalen Demokratie zu lösen. Eine Moral des Absoluten würde uns zwingend ins Verderben führen. Auch eine Diktatur im Namen des sogenannten Guten ist eine Diktatur. 

Vielen Dank für das Gespräch!

Weiterlesen! 

Emil Kowalski, „Pathologie des Wohlstands. Bewährungsprobe der liberalen Demokratie“
Kohlhammer, Stuttgart, 2023.

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