Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Noch verstehen wir nicht“

November 2022

Ariadne von Schirach (44), sagt im Interview, dass die Krise die große Einladung ist, alle Ideen von der Beherrschbarkeit aufzugeben. Ein Gespräch mit der deutschen Philosophin über eine Welt, die nie in Ordnung ist – und den Glauben an den Menschen. Im November ist Ariadne von Schirach in Vorarlberg, im Rahmen der „Montforter Zwischentöne“.

Sehr geehrte Frau von Schirach, Sie sind im Rahmen der „Montforter Zwischentöne“ demnächst in Feldkirch, werden dort laut Programmheft improvisieren. Improvisieren Sie denn gerne? 
Ja. Denken ist immer Denken ins Offene. Denken heißt, sich dem Möglichen anzunähern. Menschsein ist ein Gespräch mit offenem Ausgang; ein Gespräch, das weitergeht, auch wenn wir nicht mehr sind. Trotzdem müssen wir verbindlich sein, das Kind in den Kindergarten bringen, zur Arbeit gehen. Improvisieren heißt für mich, anschlussfähige Positionierungen zu finden, vorläufig brauchbare Vorschläge zu machen, ein mögliches Morgen zu skizzieren, obwohl das Übermorgen im Nebel liegt und bleibt. 

In dieser krisenbehafteten Gegenwart bleibt kaum etwas anderes über, als zu improvisieren.
Das ist das Schreckliche. Und das Gute. Jedenfalls ist es ein wahrerer Zustand als dieses Gefühl, das wir in den 1990ern hatten, als wir dachten, alles werde immer so weitergehen, weil wir am Ende der Geschichte lebten. Was für eine blöde Idee! Dass westliche, also privilegierte, meistens weiße, meist heterosexuelle Menschen das Ende der menschlichen Geschichte verkündet haben, war einfach größenwahnsinnig. Als ob wir allein hier wären, als ob die Geschichte nur unsere Geschichte wäre. Sie ist ebenso die Geschichte der anderen menschlichen Kulturen, aber auch des Zusammenlebens mit den anderen Spezies und dem Erdsystem. Und sie ist nicht vorbei, sondern muss immer wieder neu bewertet werden.

Weil nichts gewiss ist?
Gewissheiten sind temporär. Die Annahme, es gebe Sicherheit, ist ökonomischer Planungswunsch, betäubende Hoffnung und Wahrnehmungsfehler zugleich. Wir können nichts kontrollieren. Und doch haben wir in der Krise, in dieser Unordnung der Welt, sowohl Antworten als auch Verantwortung zu finden. Das ist beängstigend und belebend zugleich. Die Welt ist wesentlich komplexer, als wir uns das zumindest eine kurze Zeit gedacht haben, doch darin liegt auch die Möglichkeit, wieder zu staunen.

Täuscht der Eindruck, dass das Leben früher einfacher war?
Das ist auch eine blöde Idee. Unsere Gegenwart zeichnet bloß aus, dass alles auf eine bisher noch nie dagewesene Art sichtbar geworden ist. Wir wissen, was mit den Menschen in der Ukraine oder mit den Frauen im Iran oder in Afghanistan geschieht, wir wissen um die Klimakrise, den brennenden Regenwald, das Artensterben. Früher waren wir nur in einem gewissen Sinne ignoranter. Und klar: Ignorance is bliss, Unwissenheit ist Glückseligkeit. 

Soziologe Lessenich zitiert in einem Buch folgende Begebenheit: 1968 interviewt der Spiegel den Philosophen Adorno. Der Journalist sagt: Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung … Adorno antwortet: Mir nicht.
Die Welt ist nie in Ordnung. Und niemals auslotbar. Als ich jung war, dachte ich, ich hätte alles verstanden. Ein erster großer Irrtum. Und ich dachte, ich würde irgendwann tatsächlich angekommen sein. Ein zweiter großer Irrtum. Jetzt bin ich 44 und sehe, dass das Leben ein ständiges Bemühen ist, ein ständiges Kümmern, ein ständiges Aushalten und Aushandeln. Und ich sehe, dass die Welt auf eine Weise unordentlich ist, die alle Fantasien, man könne sie begreifen, kontrollieren, endgültig in Händen halten, unterläuft. Aber erst darin liegt die Möglichkeit, zu tanzen. Ich habe einen Essay geschrieben, der heißt: „Ode an eine kaputte Welt“. Die Krise ist die große Einladung, alle Ideen der Beherrschbarkeit aufzugeben, und endlich das Übermorgen loszulassen, um das Morgen zu sichern und sich am Heute zu freuen. Das Weitergehen des Lebens ist der Wert und nicht seine Beherrschung.

Vorbei scheint jedenfalls die Annahme zu sein, man könne das Leben planen …
Das hängt auch mit dem Bruch des liberalen Versprechens zusammen. Wir sind noch mit der Idee aufgewachsen, dass sich Leistung lohnt. Zu Zeiten unserer Großeltern hieß es: Ich kaufe mir ein Haus. Zu Zeiten unserer Eltern hieß es: Ich kaufe mir eine Wohnung. Heute fragt man sich, ob man sich überhaupt noch die Miete leisten kann. Ob man sich überhaupt noch Kinder leisten kann! Zum Prekär-Werden des Lebens addiert die Klimakrise die zunehmende Fragwürdigkeit unseres gemeinsamen Überlebens. Die Schattenlinie kommt näher. 

Die Schattenlinie?
Im Zeitalter des Anthropozäns, im Zeitalter des Menschen, nährt sich der Verdacht, dass es mit uns vielleicht doch nicht so gut weitergeht. Also nicht mehr: Ende der Geschichte. Sondern: Ende der Menschheit. Wir sind diesbezüglich auf eine selten dagewesene Art und Weise mit unserem eigenen Scheitern konfrontiert und dabei zugleich alarmiert und ohnmächtig. Und das ist ein sehr psychotischer Zustand.

Die psychotische Gesellschaft, die Sie 2019 beschrieben haben, scheint nochmals psychotischer geworden zu sein …
Ja. Die Welt brennt nicht zur Gänze, aber wir sehen alle Brände. Alles spitzt sich zu, alles zeigt sich, und ich habe das Gefühl, dass die Temperatur in jeglicher Hinsicht noch steigt, verbunden mit dem Gefühl, dass 2023 ein hartes, vielleicht erschreckendes Jahr wird.

Die von Ihnen beschriebene Auflösung des Allgemeinen, sie setzt sich weiter fort?
Ja und nein. Zum einen löst sich alles auf, Geschlechterrollen, politische Profile, selbst die Sprache, zugleich verfestigt sich alles, die soziale Ungleichheit, die Macht umweltzerstörender Konzerne, die politische Stagnation. Wir haben also eine Gleichzeitigkeit von Auflösung und Verfestigung, das ist das eigentlich psychotische Element.

Was, und das ist die Frage an die Philosophin, kann da Halt geben, Orientierung geben?
Eine zumindest akzeptabel scheinende Annäherung an den Kern der Philosophie, die Weisheit, ist die Kenntnis des Dauernden im Wandel der Welt. Es sind einfache und zugleich wahre Dinge, die vom Herzen eines jeden Menschen intuitiv verstanden und begrüßt werden: Dass der Mensch innen größer ist als außen und dass unser Reichtum innerlich ist. Dass unsere Beziehungen das Wichtigste sind und dass es glücklich macht, Zeit in der Natur zu verbringen. All das gibt in der Krise Halt. All das kostet kein Geld. Aber es kostet Zeit. 

Fehlt da Demut, um das zu verstehen?
Wir leben in einer Zeit, in der sich der Mensch immer noch als die Krone der Schöpfung begreift und die Erde als eine Art Sandkasten versteht, den er nach Gutdünken formen kann. Noch verstehen wir nicht, dass unsere Art, wie wir mit dem Leben, mit der Erde, mit der Natur umgehen, Reaktionen hervorruft. Schon alleine das Erdsystem mit seinen komplexen Wechselwirkungen überschreitet unser Begreifen. Wenn wir das Nichtwissen annehmen, öffnen wir uns dafür, immer wieder neu hinzusehen, neu zu antworten. Demut wäre auch etwas, das wir von den Religionen übernehmen könnten, die alle davon sprechen, dass man sich von Gott kein Bild machen soll. Und auch nicht vom Leben. Übrig bleibt ein Staunen über alles, was ist, eine Freude über die Schönheit der Welt und eine Bescheidenheit angesichts unserer Rolle in ihr. 

Und wo bleibt da der Mensch? Zurückgeworfen auf sich selbst, in dieser dramatischen Zeit?
Wenn wir einsehen, dass nicht nur der Kosmos oder das Erdsystem, sondern auch wir selbst uns ein Rätsel sind, dann werden wir vielleicht ein wenig gütiger und gelassener und weniger kontrollgetrieben. Der Mensch ist ein geworfener Entwurf, wie Heidegger sagt, wir können nichts für die Familie, in die wir hineingeboren sind, nichts für die Kultur oder die Epoche, in der wir leben. Aber wir können alles dafür, wie wir damit umgehen. Wir können nicht alles kontrollieren, aber wir tragen für alles die Verantwortung. Das gilt auch in der Krise. Wir haben Tag für Tag zu versuchen, einen Umgang zu finden, der uns ein Morgen ermöglicht. Wir brauchen keine andere Welt, sondern ein anderes Bewusstsein dessen, was ist. Wenn wir die Gründe für unser Handeln verändern, verändern wir unser Handeln und dadurch auch die Wirklichkeit. 

Von Ihnen stammt der Satz: „Manchmal muss man sich trennen – von Gewohnheiten, von Menschen, von Deutungen, die nicht mehr passen.“ 
Wir müssen gerade vieles verabschieden, und vieles bäumt sich beim Gehen noch einmal so richtig auf – vom Patriarchat über ausbeuterische Konzerne hin zu faschistischen Diktaturen. Zusammengefasst könnte man sagen, dass wir als Menschheit langsam und unter großen Trennungsschmerzen dabei sind, das egoistische und gierige fossile Zeitalter zurückzulassen und es Stück für Stück durch ein planetares Bewusstsein von Teilhabe, Verbundenheit und Verantwortung zu ersetzen. Es ist wirklich Zeit, wieder mehr in die Welt hineinzugeben, als wir hinausnehmen. Ein anderer Ausdruck für diese Haltung ist Liebe. Und ich halte es mit der Hoffnung. Wir Menschen werden das, was andere von uns denken. Und deshalb ist der Glaube an den Menschen, obwohl es gerade so viele Gründe gibt, zu zweifeln, etwas, an dem wir festhalten müssen.

Welche zentrale Frage stellt sich der Mensch heute nicht?
Warum bin ich hier? Wir haben das Warum verloren. Mit dem Herzen begreift man das sofort: Wir sind hier, um uns zu entwickeln, lieben zu lernen, und um in vielen Beziehungen einen kleinen Anteil an der unendlichen Komplexität des Seins zu haben. Wir sind hier, um zu geben, zu leuchten und zu tanzen. Aber wir sind nicht hier, um über unsere Bauchmuskeln nachzudenken, oder über unser Konto, oder darüber, wie man einen Acker so optimiert, dass die Pflanzen das Dreifache an Ertrag bringen.

Ein Fazit, wie könnte es lauten?
Wir leben in einer Zeit, in der sich die Frage nach dem Menschsein mit neuer Dringlichkeit stellt. Wir leben in einer Zeit, in der es schwer ist, zu schlafen, und leicht ist, wach zu sein. Wir sind nicht hier, um blöd herumzustehen, wir sind hier, um unser Leben zu gestalten. Das sagt die Philosophie schon seit ihren Anfängen, aber jetzt sagt es uns auch die Welt. Und es ist Zeit, dass wir diese Einladung annehmen. 

Haben Sie auch deswegen einmal geschrieben, wir sollten nicht Buchhalter unserer Lebenszeit sein, sondern ihre Nutznießer?
Ja. Wenn wir es schon machen müssen, warum machen wir es nicht schön?

Vielen Dank für das Gespräch!

© Foto: Rahel Taeubert

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