Sabine Barbisch

„Wir erleben die qualitative Neuordnung der Innenstädte“

April 2024

Theresa Schleicher, eine der renommiertesten Zukunfts- und Handelsforscherinnen Deutschlands, im Interview über die Entschleunigung des Onlinehandels und die Entwicklung der Innenstädte. 

Frau Schleicher, Sie definieren einen entschleunigten Onlinehandel als einen der zentralen Trends im Handel. Woran machen Sie das fest? 
In den vergangenen zehn Jahren haben wir einen enormen Onlineboom hinter uns. Speziell die Onlineplattformen und der E-Commerce, sprich die Umsätze über Digitalkanäle, sind jedes Jahr gewachsen; und das sowohl in der Stadt wie auch auf dem Land. Jetzt erleben wir zum ersten Mal, dass das Wachstum stagniert, teilweise sehen wir eine negative Entwicklung. Auch online kommt an die Grenzen und muss sich mit dem Thema Fokus, sowohl im Sortiment wie auch mit dem Thema Profitabilität, auseinandersetzen. Das führt zu einer gewissen Entschleunigung. Es geht nicht mehr unbedingt darum, alles wahnsinnig schnell und in einzelnen Paketen zu liefern und eine maximale Vielfalt von Marken und Produkten zu haben, sondern tatsächlich zu schauen, was Kundinnen zukünftig brauchen: Welche Produkte und Marken machen Sinn? Und wie kann ich sie nachhaltig integrieren – sowohl im Sinne des Planeten wie auch aus wirtschaftlicher Sicht? 

Wie kommt diese Entschleunigung bei der Kundschaft an? 
Ich habe 2023 eine Erhebung gemacht, die zeigt, dass viele Kunden – auch in den urbanen Gegenden – gar nicht mehr so stark das Bedürfnis haben, dass eine Lieferung innerhalb kürzester Zeit ankommen muss. Solange der Liefertermin verlässlich eingehalten wird und die Lösung nachhaltiger ist, genügt die Lieferung zwei, drei Tage später. Ausnahme ist die Lieferung von Lebensmitteln.

Apropos nachhaltiger: das wäre auch der stationäre Einkauf bei regionalen Händlern…
Realistisch gesehen, hat der E-Commerce immer mehr Menschen – vor allem in ländlichen Regionen – auf digitale Plattformen gebracht, dementsprechend wurde weniger stationär eingekauft. Reine Onlinehändler wie Amazon, Zalando oder Otto und jetzt auch asiatische Plattformen versuchen die Kundschaft mit sehr günstigen Preisen zu locken. Das verändert auch das Einkaufsverhalten. Allerdings sind das nur kurze Bewegungen und Wellen. Denn letztendlich fordert das die Mitbewerber im Gesamtmarkt heraus, zu schauen, was den Kunden eigentlich wichtig ist. Wenn Händlerinnen das beste Angebot, und das meine ich nicht preislich, in Form von relevanten Produkten anbieten, dann kreieren sie einen starken Gegenpol zu reinen Online-Wettbewerbern. 

Viele Händlerinnen versuchen dennoch im Onlinegeschäft aktiv zu sein oder zu werden.
Mittlerweile ist es so, dass fast jeder Händler ab einer gewissen Größe in einen Onlineshop und in die Präsenz im Internet investiert. Das heißt, sie verkaufen bereits hybrid. Natürlich sind Onlineshops vor allem für die jüngeren Generationen ein wichtiger Kanal. Aber wir sehen auch, dass der Trend, Produkte online zu suchen und digital zu stöbern und dann stationär einzukaufen, weiterhin da ist. Momentan sehen wir, dass die großen reinen Onlineplattformen zumindest in den größeren Ballungsgebieten immer mehr ins Straucheln geraten: Ihre Relevanz sinkt, denn letztendlich sind sie nur ein Abbild eines digitalen Warenhauses; und wie sich Warenhäuser in den letzten zehn Jahren entwickelt haben, brauche ich Ihnen ja nicht zu erzählen …

Der Handel befindet sich insgesamt in einem Wandel. Wird die Frage nach „online oder stationär“ in Zukunft überhaupt noch relevant sein? 
Nein, letztendlich müssen wir – im Handel und in der Wirtschaft generell – davon wegkommen, über Formate und Kanäle zu sprechen. In Zeiten von Konsumbewusstsein und Nachhaltigkeit lautet die zentrale Frage: Was wollen Kundinnen künftig kaufen und konsumieren? Wir unterhalten uns im Handel gerne darüber, wie wir alles maximal attraktiv gestalten können, sei es mit Preisaktionen, mit Kommunikation, mit neuen Filialkonzepten oder mit digitalen Kanälen und Aktionen in den Sozialen Medien. Aber nochmal: Die generellen Anforderungen an Produkte und Konsumformen verändern sich, das wird in der aktuellen Diskussion zu wenig thematisiert. 

Welche Folgen hat das für die (Einkaufs-)Städte der Zukunft? 
Innenstädte entwickeln sich sehr evolutionär, über deren Entwicklung und Zukunft sprechen wir seit zwanzig Jahren. Die aktuellen Herausforderungen sind Städte, die zum Teil nur noch größere Warenhäuser oder Flagshipstores von bekannten Marken haben und gleichzeitig von extrem vielen Insolvenzen geprägt sind. Ich will nicht unterschlagen, dass es letztendlich eine Bewegung ist, durch die wir eine qualitative Neuordnung der Innenstädte erleben. Jetzt ist die Zeit, genau zu schauen, wie Konsum funktioniert, jetzt ist die Zeit, das Thema Dienstleistungen in Städten anzugehen: was wird gebraucht, wie viel Wohnraum gibt es, was wollen die Menschen dort? Diese qualitative Re- und Neustrukturierung sehe ich positiv; sie führt aber auch dazu, dass manche bei den Veränderungen nicht mithalten können. Das klingt sehr dramatisch, aber Konsum, Wirtschaft und Handel in Innenstädten sind sehr wichtig – auch in Zukunft. 

Was bedeutet das konkret? 
Aktuelle Zahlen zeigen, dass stationäres Flanieren und Einkaufen im Vergleich zum Onlineeinkauf zunimmt. Durch Phänomene wie Homeoffice oder die Souveränität bei der Work-Life-Balance ist die Zeit und Lust da, mehr in der eigenen Region einzukaufen oder im Café zu sitzen. Dementsprechend fangen die Händler jetzt schon an, die Aufenthaltsqualität in den Filialen und Läden schöner zu gestalten, sie so zu arrangieren, dass Menschen sehr gerne reingehen. Das unterstützt die Entwicklung, dass mehr vor Ort eingekauft wird. Wenn sich dadurch die Kaufkraft in einer Region erhöht, gibt es auch wesentlich mehr Händler, die sich trauen zumindest testweise neue Handelskonzepte zu eröffnen.

Welche Vorteile hat das?
Der Einkauf vor Ort ist nachhaltiger, unterstützt die Region, fördert eine lebendige Gemeinschaft. Wenn Menschen darauf aufmerksam gemacht werden und sie auch den Mehrwert dahinter sehen, dann kaufen sie dort auch ein. Und dann zählt nicht die eine Sekunde, die sie gespart haben, weil sie dann doch online oder bei einem großen Filialisten gekauft haben. 

Danke für das Gespräch!

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