Gerald A. Matt

Kunstmanager, Publizist und Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst Wien

Das Leben der Krawatten

November 2022

Zum neuen Buch von Monika Helfer und Michael Köhlmeier

Diesmal darf ich über ein neulich erschienenes Buch, „Das Leben der Krawatten“ berichten, an dem ich beziehungsweise wohl mehr meine Krawatten einen gewichtigen Anteil hatten. Ein Textauszug sei meinen Ausführungen vorangestellt: „… am 14. Juni wurde vor dem Polizei-Hauptquartier in Little Italy in einem abgestellten Packard die Leiche eines Mannes gefunden. Aus den Papieren, die er bei sich trug, ging hervor, dass er Hank Hammer hieß. Recherchen ergaben, dass er in Brooklyn gemeldet war und als Elektriker in der City Hall arbeitetet. Bei der Obduktion fand man in seiner Luftröhre eine Krawatte, sie war ihm in den Hals gestopft worden. An ihr klebte ein Zettel. darauf stand: „I’m a bastard.“ Hank Hammer wurde das Opfer einer Verwechslung.“ Von diesen und anderen Unwägbarkeiten und Schicksalen von Krawattenträgern handelt das kürzlich bei Brandstätter erschienene Buch von Monika Helfer und Michael Köhlmeier. Michael Köhlmeier waren meine Krawatten aufgefallen. Ich erzählte ihm, dass ich Krawatten leidenschaftlich und seit vielen Jahren, inspiriert durch die elegante, immer krawattentragende Erscheinung meines Großvaters, nicht nur trage, sondern vielmehr auch sammle. 
Als er mich fragte, wer diese Krawatten getragen habe, war die Idee eines Buches geboren. Auch Monika Helfer war von der Idee, den Krawatten eine, ihre Geschichte zu geben, zugleich begeistert. Wir wählten gemeinsam aus meiner mehrere tausend Stück umfassenden, von den 1920ern bis in die 70er-Jahre reichenden, Sammlung über 50 Stück aus. Indem sie den Krawatten in ihren gemeinsam erdachten Geschichten eine Art Biografie gaben, hauchten sie ihnen neues Leben ein, machten sie zu den Stars dieses Buches. Dabei bezogen sie sich auf die Formen, Stoffe, Muster und Farben der in das Buch aufgenommenen Lieblingsstücke meiner Sammlung, in denen sich unterschiedliche Zeiten und Moden verdichten. 
Denn Monika, Michael und ich verstehen die Krawatten auch als Zeitdokumente, die über modische Fragen hinaus soziale, wirtschaftliche und politische Entwicklungen widerspiegeln.
Die einzelnen Erzählungen werden jeweils von einem Bild der zu ihnen gehörigen Krawatte begleitet. Durch Perspektive, Positionierung, Hintergrund und Beleuchtung werden die im Buch abgebildeten Krawatten zu einzigartigen Skulpturen. Die Erzählungen und Bilder verwandeln meine Krawattensammlung nicht nur in ein historisches Archiv vergangener und im Wandel befindlicher Lebensstile und -welten, sondern auch in eine Wunderkammer außergewöhnlicher, geradezu magischer Objekte. 
Es ist die Dialektik von Sichtbarem und Unsichtbarem, von Objekt und Subjekt, Material und Individualität, Erinnerung und Traum, Schönheit und Vergänglichkeit, Biographie und Historie, Wirklichkeit und Möglichkeit, die den ausgewählten Krawatten ihre Aura und Anziehungskraft und den wunderbaren Geschichten von Monika und Michael ihre Spannung und Verführungskraft geben. Und es ist wie Walter Pater es einmal formulierte „The power of being deeply moved by beautiful objects“, die mich zum Sammler der Krawatten und MK und MH zu Erzählern dieser wunderbaren Geschichten machte.
Als ich mein Studium begann, trug man keine Krawatte, viele männliche Studenten präsentierten sich noch mit langer Mähne und T- oder Sweatshirt. Jeans und Turnschuhe waren der Standard der damaligen Uniformität. Die Nachwehen eines mittlerweile zum Mainstream degenerierten Protestes der 68er-Generation schlugen sich in mangelndem Gebrauch von Deodorants, der Verklärung des Konsums von Rotwein aus Doppelliterflaschen und der strikten Ablehnung des Krawattentragens nieder. Ich hingegen liebte es, mit Anzügen aus vergangenen Tagen und den dazugehörigen Krawatten für Aufmerksamkeit zu sorgen, was mir bissige Kommentare oder verwundertes Unverständnis mancher Kommilitonen eintrug. Gleichzeitig durfte ich aber auch aufmunternde Blicke und schmeichelhafte Komplimente von Studienkolleginnen ernten. Aber auch in sogenannter guter Gesellschaft sorgte das Abweichen von den damals üblichen Modecodes sowie das Unterlaufen bürgerlicher Konventionen durch Paraphrasierung der gebräuchlichen Anzug- und Krawattenformen für ein von mir gerne registriertes Unverständnis. Denn auch wenn die modischen Zuordnungen meiner Krawatten und Anzüge den meisten Mitmenschen entgingen, beziehungsweise von ihnen nicht gelesen werden konnten, so wurden sie doch durch deren Anderssein irritiert.
Arnold Hauser unterschied in seiner Sozialgeschichte der Kunst zwischen jenen, die den Kragen lieber offen tragen, den Bohemiens, und jenen, die lieber eine Blume im Knopfloch tragen, den Dandies; zwei unterschiedliche Formen der Revolte und Deviation, wobei die um den Hals gebundene Krawatte als letztem Schmuck des Mannes Hausers Blume im Knopfloch gleichkommt.
Der französische Philosoph Baudrillard sah darin einen Akt der Subversion durch Überaffirmation, indem die Konvention ad absurdum geführt und lächerlich gemacht wird. Der deutsche Philosoph Georg Simpel erklärte schon 1905 in seiner „Philosophie der Mode“ das Phänomen Mode: „Sie basiert auf Nachahmung und genügt damit dem Bedürfnis nach sozialer Anlehnung, sie führt den Einzelnen auf die Bahn, die alle gehen. Nicht weniger aber befriedigt sie das Unterschiedsbedürfnis, die Tendenz auf Differenzierung, Abwechslung, das Sich-abheben“.
Eine andere kurze Geschichte von Monika Helfer und Michael Köhlmeier sei noch hinzugefügt: „Die Krawatte stammt aus dem Nachlass des Hollywoodschauspielers Robert Mitchum. Sie wurde bei einer Auktion in Los Angeles erworben. Der Preis war 490 Dollar. Als nach dem Zuschlag bekannt wurde, dass er die Krawatte während der Dreharbeiten zu „His kind of woman“ von seiner Filmpartnerin Jane Russel geschenkt bekommen hatte und dass an der unteren Innenseite noch Spuren von Russels Lippenstift zu sehen waren, wurde dem Käufer ein Angebot über 4900 Dollar zugestellt. Der Käufer lehnte ab.“ Mehr gibt es wohl zur Haltung eines wahren Sammlers nicht zu sagen. 
Ich bin mir jedenfalls sicher, dass die Bilder und Erzählungen von Helfer und Köhlmeier den Leser und Betrachter an unserer Faszination für Krawatten teilhaben lassen.

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