Über die Politik der Angst
Soziologe Maurizio Bach (68) sagt im Interview, dass dringend über eine Änderung der in der Pandemie bislang praktizierten Angst-Politik diskutiert werden müsse. Ein Gespräch mit dem Universitätsprofessor über tiefe Eingriffe des Staates in die Interaktionssphäre der Bürger Man hat in diesen Zeiten sehr vorsichtig sein Wort zu wählen.– und über Fügsamkeit und Anpassungsdruck, basierend auf dem „Narrativ der Todesangst“.
Herr Professor, die Situation scheint sich zwar ein bisschen zu entspannen, Sie aber sagen, dass die Corona-Krise ein gesellschaftliches Klima der Angst geschaffen habe, mit schweren Folgen ...
In der unübersichtlichen Lage zu Beginn der Pandemie gab es wohl keine Alternative zu den radikalen Einschränkungen im Zusammenhang des Lockdowns. Aber mittlerweile sind die sozialen und politischen Verwerfungen der pandemischen Angstpolitik mit Händen zu greifen. Viele gesellschaftliche Gruppen erleben die Lockdown-Zyklen als einen nicht enden wollenden Albtraum, die Mütter, die Gastronomen und Hoteliers, die Künstler und Künstlerinnen. Es ist überfällig, über Alternativen zum Regieren durch Angst nachzudenken. Man muss nicht die Angstpotenziale in der Gesellschaft mobilisieren, um Verhaltensänderungen in der Bevölkerung zu erreichen, die sie vor Infektionen schützen.
Wie ist das zu verstehen?
Ich wundere mich beispielsweise seit Beginn der Pandemie, dass immer so getan wird, als ließe sich an den begrenzten Krankenhauskapazitäten, an den Engpässen auf den Intensivstationen nichts ändern. Als sei das ein naturgegebenes Limit! Es werden Milliarden ausgegeben für Überbrückungsmaßnahmen, für Konjunkturprogramme und für die Rettung von Airlines. Aber niemand diskutiert darüber, wie man denn das Gesundheitssystem belastbarer machen könnte. Würde in die Schaffung von Kapazitäten und in die Qualifizierung von Personal im Gesundheitswesen mehr investiert, dann könnte sich statt einer Politik der Angsterzeugung eine Politik der Angstbeherrschung und -verminderung etablieren.
Wenn die Frage also lautet, ob es Alternativen gibt, dann sage ich: Jawohl, es gibt Alternativen. Wir müssten nur offen und kritisch diskutieren können, um diese Alternativen auch zu finden. Allerdings ist mittlerweile an die Stelle rationaler Diskurse die irrationale Angst als zentrales Steuerungsmedium der Politik getreten.
Und die allgegenwärtige Maske ist ein sichtbarer Beleg dieser Politik?
Ja, die Maske ist zum unübersehbaren Symbol der pandemischen Angstpolitik geworden. Die Maske symbolisiert die verloren gegangene Unbekümmertheit im Umgang mit anderen Menschen. Mit ihr sind wir uns noch fremder geworden, jetzt, da wir nicht mehr in unseren Gesichtern lesen können. Und sie ist zu einem doppelten Symbol geworden: Wer sie trägt, zeigt Konformität oder zumindest Konformitätsbereitschaft, wer sie nicht trägt, demonstriert Unbotmäßigkeit und Dissens.
Apropos. Sie haben in einem vielbeachteten Text geschrieben, dass die Politik in der Pandemie gezielt Angst als Ressource nutze, um das erwünschte Verhalten der Menschen zu erzwingen.
Angst lässt sich durch Strategien der Angsterzeugung und der Angstmobilisierung kontrollieren und ist deswegen eine vorzügliche Quelle der Machtbildung. Spätestens seit Machiavellis Erkenntnis, dass es für einen Fürsten besser sei, vom Untertanen gefürchtet als geliebt zu werden, ist Angst als Machtstrategie ein zentrales Thema der politischen Philosophie. Angst ist für politische, vor allem für staatliche Zwecke bestens einsetzbar, weil sie als eines der stärksten Motive der Fügsamkeit und des Gehorsams wirkt. Wer Angst hat, ist bereit, sich selbst aufzugeben und sich den Anforderungen, Anordnungen und Befehlen der Mächtigen zu unterwerfen. Wer Angst hat, sucht Schutz bei Stärkeren und unterwirft sich deren Autorität. Denken Sie nur an die Macht der Kirche im Mittelalter, die im Wesentlichen auf der Angst der Menschen vor dem Teufel, vor der Strafe Gottes, vor der Hölle basierte.
Und was früher galt, gilt nach wie vor, Angst führt zu Fügsamkeit?
Angst gehört zu den Urelementen von Herrschaftsfunktionen, und sie ist unverändert ein wesentliches Element jeder Form von Machtpolitik. Und auch jetzt, in der Pandemie, hat sich die Erzeugung und Aufrechterhaltung eines relativ hohen gesellschaftlichen Gefahren- und Angstniveaus von Anfang an als zentrales Steuerungselement der Politik erwiesen. Dieses Niveau wurde und wird bewusst auf einem anhaltend hohen Level gehalten, um Folgebereitschaft bei der Bevölkerung zu garantieren.
Lässt sich das denn belegen?
Ja. Bereits im März 2020, also kurz nach Ausbruch der Pandemie, hatte eine Experten-Gruppe im deutschen Bundesinnenministerium ein entsprechendes Strategiepapier erarbeitet, das später öffentlich wurde und heute auch im Internet abrufbar ist. Laut diesem Papier war es von Anfang an das Ziel, die Menschen zu schockieren, damit sie sich den Anordnungen der Regierenden fügen.
In diesem Papier wurde direkt angesprochen, man müsse den Leuten die Angst vor einem möglichen Erstickungstod einflößen, um die gewünschte Fügsamkeit zu erreichen. Diese Schockstrategie war mithin von vornherein von höchsten Stellen der Politik angestrebt worden, und in der Tat wurde das dann auch zur dominierenden politischen Linie in der Pandemiebekämpfung in den darauffolgenden Monaten.
In Österreich hatte Kanzler Kurz im März 2020, also kurz nach Ausbruch der Pandemie, gesagt: ‚Bald wird jeder von uns jemanden kennen, der an Corona gestorben ist.‘
Das ist das Narrativ der Todesangst. Wenn der Tod öffentlich thematisiert wird, dann erzeugt das Angst, weil diese Grundbedingtheit der menschlichen Existenz in unserer Gegenwartsgesellschaft ja immer weiter verdrängt worden ist. Mit den täglichen Meldungen über vermeintliche Corona-Tote aber tritt der Tod wieder ins Bewusstsein. Und das in einer Gesellschaft, in der das Leben, der Genuss, der Hedonismus, der Konsum über allem stehen. Die Todesangst ist zur Hintergrundmelodie der Pandemie geworden, während im Vordergrund die Ansicht steht, Leben und Gesundheit seien zu schützen, und zwar um jeden Preis. Hier zeigt sich übrigens eine gewisse Verschiebung der Machtstrategien im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung.
Eine Verschiebung?
Während in vormodernen Gesellschaften das Schwert noch das wichtigste Symbol der Herrschaft war, das die unbegrenzte Macht des Fürsten oder Königs über Leben und Tod der Untertanen anzeigte, so ist heute die Sicherung des Lebens und der Schutz der Gesundheit zum wichtigsten Ziel und Symbol der staatlichen Herrschaft geworden. Der Staat, der durch Vorsorge und Fürsorge das Leben bestmöglich garantieren will, hat sich damit in gewisser Weise an die Stelle Gottes gesetzt. Er bemächtigt sich gleichsam des biologischen und sozialen Lebens der Bevölkerung und jedes einzelnen Individuums. Der Staat tritt als Kontroll- und Steuerungsinstanz für die Menschen und deren Befindlichkeiten auf, wobei er sogar deren Körper ins Visier nimmt. Das ist eine Strategie der Macht, die im 19. Jahrhundert ihre Anfänge nahm und die man in der Soziologie als Bio-Politik bezeichnet – sie findet einen ihrer Höhepunkte im heutigen Wohlfahrtsstaat, der Sicherheit, Vorsorge und Gesundheit der Bevölkerung zu den Leitprinzipien staatlichen Handelns erhoben hat. Die aktuelle Pandemie markiert allerdings einen weiteren Schritt in der Vervollkommnung dieser bio-politischen Machtstrategie.
Ein weiterer Schritt?
Der Staat greift jetzt noch tiefer in die Interaktionssphären seiner Bürger ein. Wie viele Kontakte dürfen wir haben? Wie viele Begegnungen dürfen wir haben? Wann dürfen wir sie haben? Zu welcher Tageszeit dürfen wir aus dem Haus gehen, wann nicht? Wieviel Abstand müssen wir zu anderen halten? Im Handumdrehen ist ein vollkommen neues, erschreckend detailliertes, fast millimetergenaues Regelwerk entstanden, das die Interaktionssphäre der Menschen reguliert, strukturiert und steuert, und zwar so umfassend wie niemals zuvor. Und das ist inzwischen alles in Gesetzestexte gegossen worden, sehr unwahrscheinlich, dass sie je wieder vollständig abgeschafft werden.
Soll heißen: Was ist, das wird bleiben?
Vieles davon. Denn auch in Zukunft werden wir mit einem beständigen Wechsel zwischen Notstands- und Freiheitsregimen zu rechnen haben. Das heißt, dass der Staat noch mächtiger werden wird, weil er allein es ist und weiterhin sein wird, der entscheidet, wann der Ausnahmezustand beendet und wann wieder mehr Freiheit angesagt ist. Eine vollkommen neue Situation ist entstanden: Vor der Pandemie waren Freiheitsrechte durch die Verfassung garantiert. Jetzt steht die vom Staat regulierte und beherrschte Lebens- und Angstpolitik über der Verfassung. Im Notstandsregime wird aber die Demokratie im Wesentlichen außer Kraft gesetzt, das ist hochdramatisch und sehr gefährlich, es bedroht die Freiheit.
Es ist allerdings medial und politisch ein Klima entstanden, in dem jemand, der so etwas kritisiert, automatisch als Querulant gilt, als Corona-Leugner.
Ja. Die Polarisierung ist in der Tat sehr scharf. Wer etwas gegen diese Angst-Politik sagt, gilt sogleich als sozial verantwortungslos, wird mindestens als Zyniker verurteilt und stigmatisiert oder gleich pauschal dem Lager der Rechten und der Verschwörungstheoretiker zugerechnet.
Und da sind die Medien Mitverursacher. Presse, Rundfunk und Fernsehen haben sich in der Pandemie als außerordentlich staatstreu erwiesen und sich damit als die vierte Gewalt des politischen Systems selbst ad absurdum geführt. Die Medien haben zu einem überwiegenden Teil ihre kritische Urteilsfähigkeit außer Kraft gesetzt, sie haben sich vielfach als willfährige Propagandisten der Regierungspolitik dargestellt, sie haben die moralische Keule geschwungen und sich gleichzeitig selbst gegen Kritik immunisiert.
Das als zulässig erachtete Meinungsspektrum ist jedenfalls enger geworden.
Sehr viel enger! Wie Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot richtig gesagt hat, hat sich das Spektrum der legitimen Kritik erheblich eingeengt. Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich nicht mehr frei in dem, was ich sagen will und sagen kann und was ich schreiben will und schreiben kann. Es hat eine Zensur um sich gegriffen, auch eine Selbstzensur, die besorgniserregend ist, gesteuert auch von der Angst, sofort als einer dieser Querdenker stigmatisiert zu werden. Man hat in diesen Zeiten sehr vorsichtig sein Wort zu wählen. Unter dem Anpassungs-, Ausgrenzungs- und Stigmatisierungsdruck ist es schwierig geworden, sich kritisch zu äußern. Das ist antidemokratisch, das ist zutiefst besorgniserregend.
Weil eine demokratische Gesellschaft auch an ihrer Kritikfähigkeit zu messen ist?
Kritik muss in einer Demokratie prinzipiell möglich sein. Gerade in der aktuellen Situation haben die Maßnahmen und deren Wirkung kritisch diskutiert zu werden, etwa die Aussagekraft der Inzidenzzahlen, an denen sich jetzt alles orientieren soll. Dabei ist die Aussagekraft des Inzidenzwertes sehr begrenzt, weil er nur ein isoliertes Merkmal herausgreift: die Corona-positiv Getesteten. Inzidenz ist aber noch keine Erkrankung, eine Erkrankung ist noch kein schwerer Verlauf, und ein schwerer Verlauf ist noch kein Todesfall. Trotzdem sind die Inzidenzzahlen zum zentralen Steuerungsinstrument in der Pandemiepolitik geworden.
Hinzu kommt: An die Stelle von Meinungsaustausch, Interessenvermittlung und Kompromissfindung, den Grundmechanismen liberalen Demokratien, ist das Postulat der fundamentalen Alternativlosigkeit getreten, was die von Regierungsseite getroffenen Entscheidungen betrifft, sowie massiver Konformitätsdruck. Damit ist der Weg in einen autoritären Politikstil vorgezeichnet.
Sie warnen in Ihrem Text die Bürger davor, die Situation zu unterschätzen.
Ist Angst als zentrales Medium der Politik erst einmal dominierend geworden, dann wird sie sich nicht mehr so leicht aus der Welt schaffen lassen. Dann ist ein fataler Teufelskreis von Anpassungszwängen, Radikalisierung, Depressionen und staatlichem Autoritarismus in Gang gekommen, der sich nur schwer wieder stoppen lässt. Und diese neue Form fürsorglich-autoritärer Staatlichkeit wird eine Politik sein, die weniger an liberalen Prinzipien und an Rechtsstaatlichkeit orientiert ist, als mehr an Kontrolle und Regulierung, Zwang und Sanktionen. Das muss keine totalitären Formen annehmen. Aber es ist in jedem Fall eine neue Variante der sozialen Disziplinierung und bürokratischen Reglementierung. Das Ganze steht paradoxerweise im Zeichen der Banalität des Guten: Um Leben zu retten und die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen, kommen neue bio-politische Technologien der Politik in Spiel. Diese erweitern nochmals um ein Vielfaches die Macht des Staates über die sozialen Kontakte, die räumlichen Bewegungen, den physischen Körper, ja sogar über die Psyche der Menschen. Angst ist ihr wichtigstes Medium.
Selbst die Politikerinnen und Politiker sind nicht frei davon. Man braucht ihnen keine bösen Absichten zu unterstellen oder Scheinheiligkeit. Auch sie handeln wahrscheinlich naiv und im guten Glauben.
Vielen Dank für das Gespräch!
Zur Person
Maurizio Bach * 1953 in Trient, Italien, lehrte ab dem Jahr 2000 bis zu seiner Emeritierung im April 2019 Soziologie an der Universität Passau. Im April 2020 wurde Bach als Seniorprofessor für Soziologie an die Europa-Universität Flensburg berufen. Der deutsche Soziologe hatte als Gastprofessor auch an Universitäten in Michigan, Zürich, Trient, in Sao Paulo, Rio de Janeiro und Rom unterrichtet. Den im Interview diskutierten Artikel „Angst und Politik in der Pandemie“ hatte Bach im Internet auf verfassungsblog.de veröffentlicht, einem wissenschaftlich-juristischen Blog. Maurizio Bach hatte übrigens längere Zeit in Bregenz gewohnt.
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