Thomas Milic

ist Forschungsbeauftragter für Politik am Liechtenstein Institut und hat an der Universität Zürich zum Thema „Abstimmungsverhalten in der Schweiz“ promoviert.
Er war für zahlreichen Nach­analysen zu Schweizer Sachabstimmungen verantwortlich und hat zudem ein Standardwerk zur Abstimmungsforschung verfasst.

Individuelle politische Meinungsbildung auf lokaler Ebene

Oktober 2022

Wenn von Politik die Rede ist, dann denken die meisten an die große Bühne der internationalen Politik oder zumindest an die nationale Politik. Selbst Studierende der Politikwissenschaft im ersten Semester assoziieren mit ihrem Studienfach oftmals die glamouröse Welt der internationalen Diplomatie oder doch zumindest die „großen“ nationalen Politikthemen. Nur wenigen kommt dabei die Lokalpolitik in den Sinn. Selbst die politikwissenschaftliche Forschung beschäftigt sich nur sporadisch mit der Politik auf der Ebene der Kommunen. Das ist umso erstaunlicher als die lokale Ebene als „Schule“ und „Ressource der Demokratie“ gilt. Auf dieser Ebene wird Demokratie erlernt (das galt im Übrigen historisch betrachtet auch schon für die kleinen griechischen und italienischen Stadtstaaten mit republikanischer Verfassung) und auf dieser Ebene werden die politischen Talente für die nationale oder internationale Politik rekrutiert. Aber, wie gesagt, nur wenig ist bekannt über die Lokalpolitik. Dies gilt auch und besonders für politische Meinungs- oder Willensbildung auf lokaler Ebene. Das Wahl- oder Abstimmungsverhalten auf nationaler Ebene ist eines der am besten erforschten Teilgebiete der Politikwissenschaft. Aber wie die politische Meinungsbildung auf lokaler Ebene erfolgt, ist wenig bekannt. Davon handelt vorliegender Beitrag.
Zunächst ist festzuhalten, dass der Mensch – ob er sich nun auf nationaler Ebene beispielsweise zum Atomausstieg äußern soll oder auf lokaler Ebene nach seiner Haltung zum Bau eines Windparks in nächster Nähe gefragt wird – im Prinzip stets gleich funktioniert. Grob vereinfacht gesagt, werden Informationen zu einem politischen Entscheidungsproblem gesammelt, mit den bestehenden Grundhaltungen („Prädispositionen“) abgeglichen und daraus eine Meinung geformt. Natürlich ist dies eine sehr grobe Vereinfachung des Meinungsbildungsprozesses. Und des Weiteren wären weitere (teils kognitionspsychologische) Fragen zu klären, wie beispielsweise die Herkunft der Informationen (Quelle), ihr Umfang, die Stabilität von Grundhaltungen, die Verfügbarkeit von Informationen und vieles mehr. Aber was damit gesagt werden soll: Der Meinungsbildungsprozess verläuft auf allen Ebenen generell gesprochen gleich. Was sich unterscheidet, sind indessen die Rahmenbedingungen. Und diese haben durchaus Einfluss darauf, wie sich Bürgerinnen und Bürger ihre Meinung zu lokalpolitischen Themen bilden.
Die Lokalpolitik zeichnet sich im Unterschied etwa zur nationalen Politik durch eine höhere Vertrautheit aus. Gewiss, das muss nicht auf jedes Thema zutreffen, aber im Schnitt sind das gemeinsame Wissen der Bürgerinnen und Bürger über den Lokalraum oder lokale Identitäten größer als auf nationaler Ebene. Die Kandidierenden einer Lokalwahl sind beispielsweise meist persönlich bekannt, während die nationalen Kandidaturen in der Regel nur aus den Medien, wenn überhaupt bekannt sind. Das aber hat zur Folge, dass bei der Bewertung der Kandidierenden die Charaktereigenschaften (und weniger die Parteifarbe) in einer Lokalwahl viel, viel wichtiger werden als bei nationalen Wahlen. In Ermangelung jedwelcher persönlicher Informationen, dominiert die Parteifarbe eines Kandidaten bei der Entscheidungsfindung. Sie ist, wie gesagt, oftmals das Einzige, was man von einem solchen Kandidaten weiß und sie ist ein einigermaßen verlässlicher Indikator dafür, wie dieser – ansonsten komplett unbekannte Mensch – politisch denkt und aller Voraussicht nach handeln wird. Anders auf Lokalebene: Hier werden viel öfter auch Kandidierende ohne jegliche Parteibindung gewählt, weil man den Menschen kennt. Nicht selten wählt man jemanden, der zwar die „falsche“ Parteifarbe trägt, aber aufgrund persönlicher Kontakte als integer oder sympathisch gilt. Lokalwahlen sind deshalb viel weniger ideologisch geprägt und stärker praxisbezogen. Tatsächlich berichten Politiker und Politikerinnen, die auf beiden Ebenen tätig waren, dass die Diskussionen auf Lokalebene konstruktiver und sachbezogener seien, während im nationalen Parlament oft Reden aus dem Fenster heraus gehalten werden.
Sodann ist aufgrund fehlender Mittel die ganze Kommunikation der politischen Akteure im Lokalraum weniger professionalisiert. Geringere Professionalisierung wird meist gleichgesetzt mit „schlechter“, aber sie hat auch gewisse Vorteile, die auf den ersten Blick seltsam klingen mögen: Geringere Professionalisierung wird von den Menschen auch als authentischer wahrgenommen. Und mehr Authentizität in der Politik ist wiederum ein Vorteil, denn es schafft Vertrauen.
Auf Lokalebene ist zudem das persönliche Gespräch die dominante Informationsquelle. Nicht, dass bei nationalen oder internationalen Angelegenheiten der persönliche Austausch von Informationen nicht wichtig wäre. Aber in Ermangelung eines hochprofessionalisierten Mediensystems auf lokaler Ebene ist der Kontakt zu Mitmenschen zwecks Meinungsbildung noch unentbehrlicher. Hinzu kommt, dass Menschen zu lokalen Themen meist auch gemeinsame Bezugspunkte haben. Man kommt viel einfacher ins Gespräch.
Was das Sachwissen anbelangt, so sind die wissenschaftlichen Befunde hierzu ambivalent. Schweizerinnen und Schweizer beispielsweise sind über gewisse nationale Themen gut informiert, über gewisse lokale Themen hingegen weniger. Aber wenn es sich um vertraute lokale Angelegenheiten handelt, so sind die Bürgerinnen und Bürger meist sehr gut informiert und deshalb auch umso eher imstande, einen kompetenten Entscheid zu fällen.
Die Demokratie ist bekanntlich die beste aller schlechten Regierungsformen, aber für kleinräumliche Einheiten scheint sie wie geschaffen zu sein. Tatsächlich sind republikanisch-demokratische Verfassungen zunächst in kleinen Stadtstaaten geschaffen worden. Und auch heute sind es oftmals Kleinstaaten oder kleinere räumliche Einheiten, die ihren Einwohnern sehr weitgehende, direkte Mitbeteiligungsform einräumen. Denn die Rahmenbedingungen für das Funktionieren einer gesunden Bürgerinnendemokratie sind auf lokaler Ebene nahezu ideal.

Was ein Dorf zusammenhält 
Veranstaltungstipp in Hittisau! Politikwissenschaftler Thomas Milic ist einer der Referenten der diesjährigen „Land_Gespräche Hittisau“, die am Samstag, den 8. Oktober, ab 13 Uhr im Ritter von Bergmann-Saal in Hittisau stattfinden und dem Thema gewidmet sind: „Was ein Dorf zusammenhält.“ Zudem sprechen Kabarettistin Gabi Fleisch, Sozialwissenschaftlerin Erika Geser-Engleitner und Reinhard Haller – der renommierte Psychiater referiert dabei zum Thema „Sozialpsychologische Aspekte eines produktiven Miteinanders im Dorf“. Informationen, Anmeldung: tourismus@hittisau.at oder unter 05513 6209 250.

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