Sabine Barbisch

Jurist in Amsterdam: Im Namen des Rechts

Oktober 2022

Der aus Bludenz stammende Jurist Stefan Salomon berichtet aus Amsterdam, wie er mit seiner Klage die seit 2015 in der Europäischen Union durchgeführten Grenzkontrollen zu Fall gebracht hat – und wie das österreichische Innenministerium das EU-Recht in dieser Sache „flagrant verletzt“.

Im Sommer 2019 stand Stefan Salomon am Grenzübergang Spielfeld knapp eine Stunde im Stau, Grund waren die Grenzkontrollen, die dort durch das Innenministerium durchgeführt wurden: „Während der Einreise weigerte ich mich, meinen Reisepass vorzuzeigen und wies mich stattdessen nur mit meinem Führerschein aus. Daraufhin erhielt ich eine Verwaltungsstrafe wegen unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet. Strafhöhe: 36 Euro. Gegen diese Strafe erhob ich Beschwerde vor dem Landesverwaltungsgericht Steiermark, welches den Fall dem Europäischen Gerichtshof vorlegte, da der Fall die Auslegung von Europarecht betraf.“ Mit seiner Weigerung, den Pass vorzuzeigen, verfolgte Salomon den Gedanken, ein System zu Fall zu bringen, das rechtswidrig ist. Das bedarf einer kurzen Erklärung: Die Reisefreiheit ist einer der großen Vorzüge für die Menschen in der Europäischen Union, Grenzkontrollen im Binnenraum der Union sind an sich verboten. Der Schengener Grenzkodex erlaubt nur eine vorübergehende und kurzfristige Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen. „Liegt eine besondere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder innere Sicherheit vor und kann dieser Gefahr durch kein anderes Mittel begegnet werden, dürfen Mitgliedstaaten maximal für sechs Monate Grenzkontrollen wiedereinführen“, erklärt der Jurist.

Reisefreiheit: Kern der europäischen Integration 
Sechs Monate? Und doch finden in Europa Kontrollen statt, und das bereits seit 2015; seit der großen Fluchtbewegung kontrollieren mehrere Staaten wieder ihre Grenzen – Österreich beispielsweise zu Slowenien und Ungarn. Laut Stefan Salomon ist die zentrale Frage in dem Fall, „wie lange ein EU-Mitgliedstaat, nach EU-Recht, Kontrollen an seinen Binnengrenzen wiedereinführen darf.“ Die bedeutendere Frage, die hinter dem Verfahren stecke, sei die Spannung zwischen der Zukunft einer EU ohne Grenzkontrollen und der Freizügigkeitsrechte von Unionsbürger:innen einerseits und den Sicherheitsinteressen von Mitgliedstaaten andererseits. In Stefan Salomons eingangs erklärtem Fall stellte der Europäische Gerichtshof fest, dass eine faktisch permanente Wiedereinführung von Grenzkontrollen nicht mit EU-Recht vereinbar ist. 
Das EU-Recht stelle hier besonders strenge Anforderungen an die Mitgliedstaaten für die Wiedereinführung von Grenzkontrollen, das sei verständlich, wie Salomon ausführt, „wenn man sich bewusst ist, dass die Abschaffung von Kontrollen an den Binnengrenzen seit den Anfängen der Europäischen Gemeinschaft – und spätestens seit den 1980er-Jahren – zum Kern der europäischen Integration zählt. Die EU in ihrer heutigen Form ist ohne die Freiheit, sich ungehindert in Europa zu bewegen, nicht vorstellbar.“ Trotzdem weigert sich das österreichische Innenministerium, das Urteil umzusetzen und ordnet laut Salomon immer noch alle sechs Monate die Verlängerung der Grenzkontrollen an: „Obwohl es dafür keine offensichtlichen Gründe gibt. Die Missachtung des EuGH-Urteils ist eine flagrante Verletzung von EU-Recht und mit grundlegenden rechtsstaatlichen Prinzipien unvereinbar. Ich bin erstaunt, dass die Bundesregierung – zu Recht – den Mangel an Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn ankreidet, zugleich aber die anhaltende Missachtung einer der Kernbereiche des Unionsrechts durch eine seiner eigenen Behörden einfach geschehen lässt.“ 

Schriftsteller, Reiseautor, Diplomat oder Jurist
Der passionierte Jurist erinnert sich, dass die Idee, Rechtswissenschaften zu studieren, nach dem ersten Jahr seines politikwissenschaftlichen Studiums aufkam, weil ihn vor allem die Gebiete Völkerrecht, Grundrechte und Europarecht interessierten. „Zugleich war mir auch bewusst, dass der Großteil des juristischen Studiums eben nicht aus Völkerrecht, Europarecht und dem Erlernen der Grundrechte besteht, sondern aus anderen – und wie ich damals annahm langweiligeren – Rechtsgebieten. Ich nahm dies billigend in Kauf. Je länger ich mich jedoch mit Rechtswissenschaft beschäftigte, desto faszinierter war ich und revidierte meine Meinung über die anderen Rechtsbereiche.“ Seine Studien absolvierte er in Innsbruck, Lyon, in Medford (USA) und in Graz. Seit rund zwei Jahren lebt Stefan Salomon nun in Amsterdam. Er lehrt als Assistenzprofessor an der Universität Amsterdam am Institut für Europäische Studien und hält Seminare und Lehrveranstaltungen zu verschiedenen Bereichen des EU-Rechts für Bachelor- sowie Master-Studierende. Daneben betreut Salomon deren Abschlussarbeiten, ist in mehrere Forschungsprojekte involviert, organisiert und besucht verschiedene Konferenzen, hält Gastvorträge in- und außerhalb der Niederlande, schreibt für Zeitungen und ist wie eingangs erwähnt in der Prozessführung vor nationalen Verwaltungsgerichten und dem Europäischen Gerichtshof aktiv. „Meine Arbeitstage gestalten sich von Woche zu Woche unterschiedlich: je nachdem ob gerade viele Konferenzen anstehen, was meist eine hohe Reisetätigkeit in interessante Städte bedeutet, oder ob Abschlussarbeiten von Studierenden zu begutachten sind, was wiederum sehr lange Tage auf meinem Wohnzimmerboden mit den vor mir verstreuten Arbeiten bedeutet.“
Seinem Kindheitstraum, einen Beruf auszuüben, bei der man sein Geld mit Schreiben verdient, kommt er damit aber recht nahe: „Ich vermute, dass ich in meinen kindlichen Vorstellungen so etwas wie Schriftsteller oder Reiseautor werden wollte. Obwohl ich mir in meinen kindlichen Vorstellungen das Schreiben nicht als eine Tätigkeit ausmalte, die auch sehr mühsam sein kann, trifft mein heutiger Beruf meine Vorstellung von damals sehr gut. Ich glaube, dass ich in meiner späteren Jugend dann auch mit der Idee spielte, in die Diplomatie zu gehen und das Reisen schreibend zu verarbeiten. Wenn man so will, ein Diplomat mit schriftstellerischen Tendenzen. Davon gibt es in der Literaturgeschichte ja einige.“

Lebenslauf
Stefan Salomon, * 1984, ist in Bludenz aufgewachsen und hat Rechts- und Politikwissenschaft in Innsbruck und in Lyon studiert. Seinen Master in Laws hat er an der Fletcher School of Law and Diplomacy an der Tufts University in Medford (USA) absolviert, das Doktorrat in Rechtswissenschaften an der Universität Graz. Ab 2010 war Salomon bei der EU-Grenzschutzagentur Frontex und danach beim Österreichischen Außenministerium beschäftigt. Zwischen 2012 und 2019 wurde er Lektor und wissenschaftlicher Projektmitarbeiter an der Universität Graz und seit zwei Jahren ist Stefan Salomon Assistenz-Professor an der Universität Amsterdam.

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