Sabine Barbisch

Von der Verlockung „Großstadt“ und der Liebe zu einer Sprache

November 2015

Geboren in der Türkei, aufgewachsen in Vorarlberg, in Innsbruck und Maastricht studiert, in Istanbul gearbeitet und in Paris das Masterstudium absolviert – Esra Tugba Tatli erzählt, in welchem Land sie gelernt hat, richtig flexibel zu sein, was sie an Österreich schätzt und für welche Sprache ihr Herz schlägt.

Mit ihren heute dreißig Jahren hat Esra Tugba Tatli schon viele Umzüge hinter sich gebracht. Geboren wurde sie in der türkischen Hauptstadt Ankara, im Alter von vier Jahren zog sie mit ihrer Familie nach Vorarlberg, weil ihre Eltern vom türkischen Staat als Lehrer nach Österreich geschickt wurden, um den türkischstämmigen Kindern Unterricht in ihrer Muttersprache zu geben. In Vorarlberg lebte sie in Hörbranz, Höchst und Bregenz. Dort besuchte sie auch das Bundesgymnasium Blumenstraße, bevor sie zum Studium der Internationalen Wirtschaftswissenschaften nach Innsbruck zog. Für ihre ersten Jahre in Vorarlberg findet sie warme Worte: „Ich hatte eine wunderbare Kindheit in Österreich. Wir hatten großes Glück mit unseren Nachbarn. Zwei Familien mit Kindern in meinem Alter haben mich sehr herzlich aufgenommen, ich war immer in ihrem Haus willkommen, und ich bin mir sicher, dass dies dazu beigetragen hat, dass ich sehr schnell Deutsch gelernt habe.“ Und so war das erste Buch, das Tatli gelesen hat, auf Deutsch verfasst, „obwohl Türkisch meine Muttersprache ist“. Als selbsternannte „Leseratte“ arbeitete sie auch jahrelang in der Bücherei und entwickelte dabei eine regelrechte Hingabe zur deutschen Sprache: „Ich liebe diese Sprache. Ich liebe zusammengesetzte Wörter wie Alltagssprachgebrauch, Blumentopferde, Mandelapfelauflauf. Ich könnte stundenlang über deutsche Wörter nachdenken, und ich habe auch bemerkt, dass ich generell viel auf Deutsch denke und immer auf Deutsch zähle.“ Die Sprache ist einer jener Aspekte, die Esra Tugba Tatli an Österreich bewundert: „Den Stolz auf die Sprache und die verschiedenen Dialekte schätze ich sehr, wie auch jenen auf das Kulturerbe.“ An den Türken begeistert sie deren Offenheit und Gastfreundschaft und „die Gemeinschaft und das gemeinsame öffentliche Leben, das in der Türkei sehr wichtig ist“. An Österreich gefallen ihr wiederum Pünktlichkeit und Ordentlichkeit. „Generell versuche ich die guten Eigenschaften beider Kulturen herauszupicken“, meint sie schmunzelnd.

Fünf Jahre zwischen Orient und Okzident

Schon als Kind war das Reisen ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens: „Jeden Sommer haben wir mit meiner Familie unsere Verwandten besucht, die über die gesamte Türkei verstreut leben. Das heißt, dass wir viel gereist sind“, erzählt sie lachend und berichtet, dass die damals geweckte Reiselust auch heute noch anhält. Nach der Matura am BG Blumenstraße in Bregenz übersiedelte sie nach Innsbruck und studierte Internationale Wirtschaftswissenschaften. Während eines Auslandsjahrs in Maastricht lernte sie Holland kennen und lieben: „Die Zeit dort war großartig, und ich könnte mir gut vorstellen, länger dort zu leben. Die Holländer sind sehr offen gegenüber Ausländern, und ich mag ihre direkte Art.“ Trotzdem sollte es sie nach dem Abschluss ihres Studiums in die entgegengesetzte Richtung verschlagen: „Mein Diplomarbeitsthema war ‚Gender Equality in Management‘ und ich habe Österreich und die Türkei bezüglich dieses Themengebiets verglichen.“ Dazu zog sie vorübergehend in die Türkei. Noch während der Ausarbeitung ihrer Diplomarbeit hat sie daraufhin verschiedene Jobangebote in Istanbul erhalten. „Somit habe ich mich entschieden, dauerhaft dort zu bleiben“, berichtet Tatli von der unkomplizierten Jobsuche. Herausfordernder war es für die gebürtige Türkin, sich an das hektische Tempo und das flexible Arbeitsleben in der Türkei zu gewöhnen. Der viel zitierte Kon­trast zwischen Ost und West hat Tatli hingegen von Anfang an am „vor Energie und Leben“ strotzenden Istanbul fasziniert. Aber auch die „Verlockungen der Großstadt“, die sich so sehr vom Leben in Vorarlberg unterschieden, machten sie glücklich.

Energie vs. Rastlosigkeit einer Großstadt

Da ihr Sprache und Kultur der Türkei durch ihren familiären Hintergrund sehr bekannt waren, konnte sie unter anderem als Projektmanagerin und Planungsleiterin in Istanbul rasch beruflich Fuß fassen. Mehr Kopfzerbrechen bereitete ihr die Arbeitsweise in der Türkei: „Ich dachte immer, dass ich eine flexible Person sei. Als ich nach Istanbul gezogen bin, habe ich gesehen, dass ich in meiner Arbeitsweise typisch österreichisch und damit nicht so anpassungsfähig bin, wie ich dachte. Ich mag Regeln, Prozesse und klare Abgabetermine, die alle natürlich auch im türkischen Arbeitsleben existieren, nur nicht so strikt und endgültig, wie es meine österreichische Seite gerne hätte. Auf diese Weise habe ich in Istanbul gelernt, wirklich flexibel zu sein.“ Im Laufe der fünf Jahre, die Tatli in Istanbul lebte, machten ihr die ständige Rastlosigkeit und die politische Situation aber immer mehr zu schaffen. Sie und ihr Lebensgefährte begannen sich nach anderen Arbeitsstellen umzusehen. Nach der Hochzeit übersiedelte das Paar vor etwa einem Jahr nach Paris. „Die Stadt ist so kosmopolitisch, dass es hier nicht schwer ist, sich zu integrieren. Die Pariser sind es gewohnt, Menschen von überall her um sich zu haben.“ Erst kürzlich hat die ehrgeizige Tatli ihr Masterstudium abgeschlossen und befindet sich in einer „Zwischenphase“, wie sie es beschreibt: „Ich spiele mit dem Gedanken, ein Doktorat anzugehen. Ich liebe aber auch die Arbeitswelt, wo mich der Textilbereich oder die Arbeit von NGOs interessieren.“ Weil sie und ihr Mann wissen, dass Paris nicht die letzte Station ihrer Lebensreise sein wird, genießen sie die Zeit dort in vollen Zügen und lassen sich überraschen, wohin es als nächstes geht.

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