Andreas Staudacher

* 1970, studierter Politikwissenschaftler, ist Fachgruppen­geschäftsführer in der Sparte Industrie in der Wirtschaftskammer Vorarlberg.

150 Jahre Stich um Stich – Der Beginn der industriellen Stickerei in Vorarlberg

September 2019

150 Jahre Stich um Stich ist der Titel einer Veranstaltungsreihe, mit der die Vorarlberger Stickereiwirtschaft an den Beginn der Industrialisierung in der Stickereibranche vor 150 Jahren erinnert.

1869, genau am 28. März wurden die ersten zwei Handstickmaschinen von den Brüdern Hofer in der Kapellenstraße 7 in Lustenau in Betreib genommen und begründeten somit den Beginn der industriellen Stickerei in Vorarlberg. Das Haus der „Höfern“ im Winkel ist quasi die Wiege der Vorarlberger Stickereiindustrie und der Beginn einer sehr bewegten Geschichte, die nach und nach das wirtschaftliche und damit das soziale und kulturelle Gesicht Vorarlbergs prägte.

Die Stickerei prägte Vorarlberg aber schon seit dem Jahr 1763, als eine St. Galler Sticklehrerin nach Schwarzenberg und Lingenau geschickt wurde, um die Mädchen dort das Sticken zu lehren. Die Ostschweiz rund um St. Gallen galt damals als Stickereihochburg. Die Arbeitskräfte dort genügten aber nicht mehr, um die Nachfrage nach bestickten Baumwollstoffen in Frankreich zu befriedigen. Deshalb ließen St. Galler Kaufleute ihre Baumwolle auch in Vorarlberg von bald Tausenden Heimarbeiterinnen im Bregenzerwald und im Rheintal von Hand besticken. Heute würde man sagen, dass die Schweizer Kaufleute Teile ihrer Produktion ins benachbarte Billiglohnland ausgelagert haben.

Für die vorwiegend bäuerlichen Regionen in Vorarlberg war dies ein willkommener Erwerbszweig, denn viele Vor­arlberger gingen nach Deutschland, um beispielsweise als Hopfenpflücker und Krautschneider ihr Geld zu verdienen. Da sich die Stickerei sehr rasch in Vorarl­berg ausbreitete und diese Lohnaufträge aus der Schweiz von großer wirtschaftlicher Bedeutung waren, bestätigte Kaiser Franz der I. im Jahre 1818 das Privileg des Stickereiveredlungsverkehres, d. h. Baumwollgewebe und Stickgarn konnten zollfrei aus der Schweiz eingeführt werden – mussten aber in gleicher Menge nach dem Besticken wieder ausgeführt werden. 

Damit wurden in Vorarlberg erste Ansätze für eine bescheidene Konsumgesellschaft geschaffen. Viele Frauen verfügten erstmals über eigenes Geld, trugen entscheidend zur Aufbesserung des Familienbudgets bei, und das führte auch zu einer Emanzipation der Stickerinnen, was damals nicht immer gern gesehen wurde. Eine besondere Gefahr sahen die Behörden 1840 vor allem in jenen Stickerinnen, die alleine lebten, sich einmieteten und ein Kost- oder Wochengeld bezahlten, „nur um den Augen der Eltern, der Geistlichkeit und der Gemeindevorstehung“ zu entgehen.

Als nun 1869 die ersten Handstickmaschinen nach Vorarlberg kamen veränderte sich der Charakter der Branche sehr schnell. Obwohl im Bregenzerwald bis weit ins 20. Jahrhundert hinein meist von Frauen in Heimarbeit zwar nicht mehr von Hand, wohl aber mit der Kettenstichmaschine der sogenannten Pariser- oder Cornely-Maschine gestickt wurde, ist die Handstickmaschine vor allem in den Rheintalgemeinden und vor allem von Männern bedient worden. Große Stickereifabriken waren jedoch die Ausnahme – meist blieb der Einmaschinenbetrieb im eigenen Haus die Regel, wobei nebenberuflich eine kleine Landwirtschaft betrieben wurde.
Eine Handstickmaschine mit ihre 312 Nadeln ersetzte rund 30 Stickerinnen. Gleichzeitig stieg die Zahl der Handstickmaschinen in Vorarlberg rasch an. Sieben Jahre nach den Höfern waren 1876 bereits 187 Handstickmaschinen und 1900 sogar 4032 Maschinen in 66 Vorarlberger Gemeinden im Einsatz. 

Die Jahre bis 1884 waren die goldenen Jahre der Stickereiwirtschaft im Vorarlberger sowie im Schweizerischen Rheintal. „Die Löhne waren hoch, es gab reichlich Arbeit, und so war es kein Wunder, dass ein wahrer Stickereiboom das Land ergriffen hatte. Viele verließen ihre gewohnte Beschäftigung, um sich mit ihren Ersparnissen oder auf Raten eine Maschine anzuschaffen, mit der anfangs viel Geld zu verdienen war. Der Lustenauer Kirchenchronist vom Jahre 1883 berichtet: „Viele kauften auf Bürgschaft eine Maschine und hatten diese in zwei Jahren abgezahlt. So kamen manche, besonders solche, die eigenes Personal hatten, zu bedeutendem Wohlstand, andern wieder gereichte das leichtverdiente Geld nicht zum Besten, denn es gab auch solche, die sich in den Wirtschaften an einen eigenen Platz setzten und prahlerisch „Stickerwein“ (Anm. den Besten) verlangten.

Der Lustenauer Schriftsteller und Heimatkundler Beno Vetter zeichnet in seiner 1968 erschienenen Autobiographie „Menschen am Strom“ ein bezeichnendes Bild aus dieser Zeit:
„Ende der 1890er Jahre gab es fast so viele Maschinen als Häuser. Von sieben Uhr früh bis abends neun war Straßen auf und ab das Gerassel der stählernen Kolosse zu hören, von deren Ertrag viele hundert Familien leben und obendrein die Zinsen und Termine an die Geldgeber aufbringen und einhalten mussten“.

In wenigen Jahren hat sich das Produktionsvolumen vervielfacht, wodurch die Branche weltweit in eine chronische Überproduktion schlitterte, was zur ersten massiven Stickereikrise führte. ln der zweiten Hälfte des Jahres 1884 war der Punkt erreicht, an dem die Docks in London die Stickereimassen nicht mehr aufnehmen konnten, die Stichpreise in den Keller fielen und der massenhafte Ruin der Sticker drohte. Der Preisverfall von Stickereien erreichte ein bis dahin unbekanntes Ausmaß. Die Stichlöhne fielen innert kürzester Zeit von 80 cts für 100 Stiche auf 24 cts.

Die Sticker hatten ihre eigene Krisenstrategie: Je tiefer die Löhne sanken, desto mehr wurde gestickt, oft 18 Stunden pro Tag.
Als Antwort auf die wirtschaftliche Depression Mitte der 1880er Jahre organisierten sich die Schweizer und die Vorarlberger Sticker und versuchten sich gemeinsam durch Lohn- und Preisabsprachen aus der Krise zu manövrieren. Dabei entstand eines der ersten internationalen Wirtschaftskartelle.

1885 wurde zur Verbesserung der Lohn- und Arbeitsverhältnisse auf Betreiben der St. Galler Exporteure der „Zentralverband der Ostschweiz und des Vorarlbergs“ gegründet, dem sich auch 23 bayrische und ein Württemberger Sticker anschlossen.

Unter anderem einigten sich die Mitglieder auf:

  • Einhaltung eines Mindeststichlohns von 33 cts/100 Stiche. Den Vorarlbergern wurde gestattet, einen Rappen unter diesem Tarif zu sticken.
  • Beschränkung der Arbeitszeit in Vorarlberg auf elf Stunden nach Schweizer Vorbild.
  • Leistung einer Einmalabgabe in Höhe von 200 Schweizer Franken an den Verband als Indikation gegen das „Maschinenfieber“.

 

Obwohl sich der Zentralverband bereits 1893 wieder auflöste, weil sich viele Sticker nicht an die Vorgaben hielten, sollten die Hauptpunkte dieses solidarischen Krisenmanagements 40 Jahre später durch Kundmachung des Vorarlberger Stickerei-Krisenfonds als Landesgesetz 1933 wieder aktuell werden. Damals waren aufgrund der Weltwirtschaftskrise nur rund 37% der Stickmaschinen beschäftigt, und man suchte nach Möglichkeiten, die Folgen der Krise zu mildern.

Die Stickereiwirtschaft war immer schon eine typische Modeindustrie mit ausgesprochener Exportorientierung. Sie war und ist demzufolge für Änderungen im modischen Geschmack sowie für wirtschaftliche Krisen in den Abnehmerländern bis heute sehr anfällig. Die Geschichte der Vorarlberger Stickerei ist folglich auch geprägt durch ein ständiges Auf und Ab und den Versuch, in guten Zeiten mittels eines Krisenfonds vorzusorgen, ihn mit Pflichtbeiträgen zu speisen, um in Krisenzeiten beschäftigungslose Sticker zu unterstützen. 

Als sich nach Beendigung des 2. Weltkrieges die ersten Anzeichen für eine Wiederbelebung der heimischen Stickerei abzeichneten, war in Stickereikreisen sehr bald der Wunsch laut geworden, die vor dem Krieg bestandene Krisenfondseinrichtung wieder zu errichten. Die dreißiger Jahre hatten zur Genüge gezeigt, wie wichtig eine solch Institution war. 
So kam es schon im Herbst des Jahres 1946 zur Gründung eines provisorischen Stickereikrisenfonds. Aufgrund veränderter rechtlicher Rahmenbedingungen war die Schaffung eines Stickereikrisenfonds für die Vorarlberger Stickerei aber nur mehr durch ein Bundesgesetz (Stickereiförderungsgesetz) möglich, dass dann auch am 7. November 1956 im Österreichische Nationalrat mit den Stimmen aller Parteien beschlossen wurde und erst nach dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Gemeinschaft im Jahre 2000 aufgehoben wurde.

Eine ähnliche Hochphase wie in den 1880er Jahren mit anschließender Krise erlebten die Vorarlberger Sticker noch einmal im Zuge des Nigeria-Booms. Obwohl der Import von Stickereien in Nigeria ab 1976 verboten war, vervierfachte sich der Export von Vorarlberger Stickereien nach Nigeria (über den Nachbarstaat Benin) bis 1982, und im selben Zeitraum erhöhte sich der Bestand an Stickmaschinen in Lustenau um 40%. Der Höhepunkt des Nigeriabooms war 1982 mit einem Exportvolumen von insgesamt € 334 Mio. 1983 aber riss der märchenhafte Boom jäh ab. Die Einnahmen Nigerias aus dem Verkauf von Erdöl gingen drastisch zurück und die Nachfrage nach teuren Stickereien verringerte sich deutlich. Die Vorarlberger Stickereiexporte gingen auf einen Schlag um die Hälfte zurück. Bezeichnend ist, dass mit Beginn der Nigeriakrise 1982 in Vorarlberg noch 107 neue Stickmaschinen angeschafft wurden. Viele wollten noch am Nigeriakuchen mitnaschen. Innerhalb kürzester Zeit standen jedoch ein Drittel der Stickmaschinen (450) still, und der Stickereiförderungsfond zahlte in Summe 58 Mio. Schilling an Unterstützung für plombierte Stickmaschinen aus. Ab 1986 wurden mehr als 200 Stickmaschinen verschrottet, um die Produktionsüberkapazität zu senken. Parallelen zur Krise von 1884 sind durchaus erkennbar.

Am 19. September 2019 veranstaltet die Vorarlberger Stickereiwirtschaft im Lustenauer Freudenhaus die dritte Veranstaltung zur Jubiläumsreihe 150 Jahre Stich um Stich mit dem Titel: Historische Filme und Zeitzeugen.

Weitere Informationen unter www.sticker.at

Weiterlesen

Ferdinand Brüstle
Die Entstehung und Entwicklung der Vorarl­berger Stickerei

Oliver Heinzle Aufschwung, Boom und Krise – Die Stickerei vom Anfang der 1960er- bis Ende der 1980er-Jahre
Heino Strobel Konkurrenten in Harmonie

Franz G. Winsauer
100 Jahre Vorarlberger Stickereiindustrie

Beno Vetter
Menschen am Strom

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