Günter Lenz

1959, lebt in Zwischen­wasser, ist seit 24 Jahren Unternehmensberater mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit, Berater für Ökoprofit Plus und Gemeinwohl-Ökonomie, sowie Fachbuchautor.

Auf den Umbruch antworten!

Oktober 2021

Der Lebensmittelsektor und die da mit auf das Engste verbundene Landwirtschaft stehen vor enormen Umbrüchen. Gründe dafür sind neben dem geänderten Verbraucherverhalten und einer Sensibilisierung vieler Menschen durch die Pandemie und durch die Klimakrise auch zunehmende gesetzliche Vorgaben (EU Green Deal). Die großen Herausforderungen sind im „Donut-Modell“ der britischen Wirtschaftswissenschaftlerin Kate Raworth (Cambridge, Oxford) dargestellt, das auf Forschungen des Stockholm Resilience Centre (Uni Stockholm) basiert und die planetaren Grenzen aufzeigt.
Von den neun ökologischen Kern-Indikatoren haben vier die Grenzen der planetaren Tragfähigkeit überschritten, sie sind durch die „ökologische Decke“ gegangen. Es ist wohl kein Zufall, dass genau diese Indikatoren stark von der Landwirtschaft und der Lebensmittelindustrie beeinflusst werden: Klimawandel, Verluste der Artenvielfalt, Landnutzungsänderungen, Nitrate und Phosphor im Boden und den Gewässern. Auf der gesellschaftlichen Ebene müsste man ergänzend auf oft schwierige sozioökonomische Aspekte der Landwirtschaft hinweisen wie etwa Preisverfall, Betriebsübergabe, zu große Abhängigkeit von Förderungen … Damit sind die Kernaufgaben definiert, denen sich „das System Lebensmittel“ stellen muss.

Schlaglichter auf problematische Entwicklungen

Klimakrise

Die Viehwirtschaft ist einer der Hauptverursacher aufgrund der großen Emission von Methan (28 mal klimawirk­samer als CO2; Herkunft vor allem Wiederkäuer) und Lachgas (298 mal so wirksam wie CO2; Herkunft: mineralischer Dünger). Die FAO beziffert den Anteil der Klimagase aus der weltweiten Lebensmittelproduktion tierischen Ursprungs mit 18 Prozent, dazu kommen aber noch die pflanzlichen Lebensmittel. Das Worldwatch Institute kommt sogar auf den unglaublich hohen Wert von 51 Prozent – nur für tierische Produkte! Denn die US-Wissenschaftler zählen alles auf, was die FAO in ihrer Bilanz vergessen habe, etwa die Aquakulturen der Fischproduktion, der CO2-Ausstoß beim Bau der Tierfabriken, die Energie für die Kühlhäuser etc. Eine drastische Reduktion des Fleisch- und Milchproduktekonsums und die bewusste Wahl von regional und „bio“ produzierten Lebensmitteln ist schon aus diesem Grunde das Gebot der Stunde. Der „Peak Meat“, also der Höhepunkt des Fleischkonsums, ist in den alten Industrieländern vielleicht schon überschritten.

Verlust der Artenvielfalt

Laut der Living Planet Index-Studie 2020 des WWF gibt es zwischen 1970 und 2016 bei den vielen tausend beobachteten Arten einen Rückgang von gewaltigen 68 Prozent, bei Süßwasser-Spezies sind es sogar 84 Prozent. Täglich sterben hunderte Arten aus. Kein Wunder: Rund 80 Prozent der weltweiten landwirtschaftlichen Nutzfläche werden für die Produktion tierischer Lebensmittel verwendet. Dem Anbau von Futtermitteln musste ein Drittel aller natürlichen Wälder weichen. Die Viehwirtschaft ist der wichtigste Verursacher von Habitatverlusten für Tiere und Pflanzen. Die EU-Biodiversitätsstrategie hat daher die Umwandlung von 30 Prozent der Landfläche in Naturschutzgebiete zum Ziel.

Verlust der Bodenfruchtbarkeit

Wenn wir die Bodenfruchtbarkeit stärken, indem wir den Humusgehalt erhöhen, dann hilft das dem Klima, der Biodiversität und der Ernährungssicherheit. Die konventionelle Landwirtschaft leidet an einer massiven Überproduktion auf Kosten von Überbeanspruchung der Böden und natürlichen Ressourcen. Die EU-Strategie „Farm to Fork“ hat daher die biologische Bewirtschaftung von einem Viertel der EU-Agrarfläche zum Ziel. 

Lösungsansätze

Biolandwirtschaft hat unter anderen auch folgende Vorteile: sie stärkt die Bodenfruchtbarkeit durch Humusbildung und sorgt so für langfristige Ernährungssicherheit, Biodiversität und enorme CO2-Bindung; sie verwendet organischen statt mineralischen Dünger und schützt damit die Böden und das Wasser; sie hilft der Biodiversität durch Fruchtfolgen, Blühflächen und (zunehmend) Agroforstwirtschaft; sie verwendet möglichst wenig mit hohem Flächenverbrauch (Brandrodung) produzierte Kraftfutter, und sie verzichtet auf Gentechnik und Glyphosat und hat damit auch eine positive gesundheitliche Wirkung.
Aus all dem ergibt sich die Notwendigkeit des Umbaus von industrieller, ressourcen-, energie- und chemieintensiver Landwirtschaft hin zu einem Ökolandbau – ein Trend, der glücklicherweise in Vorarlberg und Österreich relativ stark ist. Der Aufwand dafür ist aber höher, der Gewinn oft kleiner. Daher braucht es solidarische Konsumenten, Interessensgemeinschaften zwischen Landwirten und Konsumenten sowie dem Handel und gezielte Förderungen seitens der öffentlichen Hand. Über den kleinen Vorarlberger Tellerrand geschaut: Weltweit 80 Prozent der Landwirte bewirtschaften weniger als einen Hektar Land und ernähren davon den größten Teil der Menschheit – diese sollte man aus der Abhängigkeit von multinationalen Konzernen (Saatgut, Dünger …) befreien.
Also zurück in die „Steinzeit“? – Keineswegs. Die Digitalisierung wird auch in der Landwirtschaft eine wichtige Rolle spielen, Stichwort Digital Farming mit Drohnen und GPS-gesteuerten Maschinen. Es braucht digitale Plattformen, um Konsumenten, Landwirte und den Handel besser miteinander zu vernetzen. Auch, um volle Transparenz zu schaffen was die Herkunft der Rohwaren für die Lebensmittel betrifft. Daher werden neue Technologien wie Blockchain eine wichtige Rolle spielen, damit volle Rückverfolgbarkeit für Industrie, Handel und Verbraucher gegeben ist. Auch Urban Agriculture spielt eine zunehmend wichtige Rolle. Sie versetzt die Konsumenten in die Lage, aktiv und autarker zu werden, und führt zur Gemeinschaftsbildung innerhalb anonymer Städte. Vertical Farming, der Anbau in die Höhe statt in die Fläche, ist eine platz- und ressourcenschonende Art der Produktion von Gemüse und Obst. Ohne Digitalisierung geht das alles nicht. 
Eine zentrale Rolle im „System Lebensmittel“ spielt der Handel. Denn er ist die Drehscheibe zwischen Konsumenten und Produzenten (Landwirtschaft, Industrie) und beeinflusst beide gleichermaßen stark. Damit hat er auch große Verantwortung für ein nachhaltiges Lebensmittelsystem.

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