Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Herbert Motter

Technikland Vorarlberg – und die nächste Evolutionsstufe

September 2020

In einer Publikation des Wirtschaftsarchivs sind der Erfindergeist und die Innovationskraft früherer Tage anschaulich dokumentiert. Auch wenn so mancher Entwurf aus heutiger Sicht bizarr anmutet, zeigen viele der historischen Patente, dass technischen Neuerungen in Vorarlberg auch früher schon eine hohe Bedeutung zugemessen worden war. Friedrich Wilhelm Schindler (1856 – 1920), ein Pionier der Elektrizitätswirtschaft und Elektrotechnik, hatte beispielsweise 1893 auf der Weltausstellung in Chicago die erste vollelektrische Küche vorgestellt und unter anderem auch in Kennelbach den ersten elektrischen Generator Österreichs in Betrieb genommen. Historiker Christian Feurstein schreibt in besagter Publikation von der „langen Tradition des heimischen Technologiestandorts“ und von Produktionstechniken am Standort, die zu ihrer Zeit als die modernsten überhaupt galten.

Technische Kompetenz ist der zentrale Faktor für den Wirtschaftsstandort Vorarlberg.
Ronald Mihala, Fachbereichsleiter Technik an der FH Vorarlberg

Ein entscheidender Faktor

Ein Jahrhundert nach Schindlers Tod ist Technik längst zu einem entscheidenden Faktor am Wirtschaftsstandort Vorarlberg geworden. Nun hat jede Region spezielle Rahmenbedingungen und damit auch eine gewisse Startsituation. „Wir verfügen über den Rohstoff Wasser – damit ist Energie ein besonderes Asset –, und über den Rohstoff ‚sehr guter und engagierter Menschen‘“, sagt Johannes Collini. Dem Vorsitzenden des Arbeitgeberkomitees der Vorarlberger Elektro- und Metallindustrie zufolge ist Vorarlberg aufgrund der Rahmenbedingungen dazu prädestiniert, zu produzieren: „Wir haben ein klassisches Produktionsumfeld. Optimales Produzieren ist aber nur über herausragende Technik lösbar. Damit ist die Notwendigkeit gegeben, sich mit Technik zu beschäftigen – da gehört die Digitalisierung dazu – um letztlich mit den Besten auf der Welt mithalten zu können, kurz gesagt, um wettbewerbsfähig zu sein.“ Collini sieht „in dieser Beschäftigung mit Technik eine Überlebensfrage für Vorarlberg, eine Überlebensfrage für den Wohlstand in unserem Land.“
Die Weltmarktführer und die „Hidden Champions“ – von Alpla bis Zumtobel, von Bachmann bis Meusburger – sie alle sind technikgetrieben und damit global erfolgreich, sie prägen den Wirtschaftsstandort. Die Elektro- und Metallindustrie ist stärkster Wirtschaftsfaktor in Vorarlberg, die im Verbund V.E.M zusammengefassten über 120 Unternehmen leisten 65 Prozent der industriellen Wertschöpfung des Landes. In diesen Unternehmen stellen über 20.000 Arbeitnehmer Waren im Wert von über vier Milliarden Euro her, ein jeder einzelne Mitarbeiter erbringt damit, statistisch gerechnet, rund 250.000 Euro Wertschöpfung.

Vorarlbergs Strategie

In Sachen Patentanmeldungen, einem Indikator für die technische Leistungsfähigkeit, ist Vorarlberg traditionell eines der stärksten österreichischen Bundesländer. Rechnet man die Anzahl der Patente auf die Einwohnerzahl, gilt Vorarlberg laut einer Erhebung der Wirtschaftsstandortgesellschaft auch weltweit als äußerst innovative Region. „Vorarlberg“, sagt deren Geschäftsführer Jimmy Heinzl, „ist ein Technologiestandort“; ein Standort, dessen Wertschöpfung ganz stark auf der hohen Innovationskraft im Technikbereich fuße: „Es ist Vorarlbergs Strategie, sich über neue Produkte auf Basis neuer Technologien von anderen Regionen zu unterscheiden, über Technologien, die neu und komplex sind und sehr viel technologisches Wissen verlangen.“ Ronald Mihala nennt Vorarlberg gar ein „technisch-wirtschaftliches Multitalent“, der Fachbereichsleiter Technik an der FH Vorarlberg sagt: „Technische Kompetenz ist der zentrale Faktor für den Wirtschaftsstandort Vorarlberg.“ 
Mihala bringt das auch auf die Formel: „Ohne technische Kompetenz gibt es keine Innovation, und Innovation bedeutet Zukunft.“

Kooperationen

Daneben spielen Kooperationen eine immer wichtigere Rolle, besonders in Fragen der Ausbildung und Qualifizierung. Das Technikland Vorarlberg geht diesen Weg, agiert auch branchenübergreifend. Aus einem guten Grund: Vorarlbergs Industrie ist auf die Zulieferungen, Dienstleistungen anderer Branchen, wie zum Beispiel des Handwerks, angewiesen. „Wenn wir mit unseren Betrieben auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig sein wollen, dann müssen auch alle unsere Partner in der Lage sein, auf Weltmarktniveau zu arbeiten. Wir möchten die anderen Branchen daher unterstützen, eine qualitativ hochwertige Lehrlingsausbildung anzubieten. Das ist ein wesentlicher Teil der Wertschöpfungskette“, berichtet Johannes Collini. Gerade eben wurde dem Gewerbe und Handwerk in Vorarlberg neben finanziellen Mitteln auch Know-how für die Qualifizierung von Lehrlingen beziehungsweise von Ausbildern zur Verfügung gestellt. Die vorhandenen Potenziale in den Ausbildungsbetrieben im Gewerbe und Handwerk „sollen auf Vorarlberger Art verstärkt genutzt und aktiviert werden.“ In einem zweistufigen Verfahren (quantitativ und qualitativ) werden von der V.E.M. für 100 zusätzliche technische Lehrstellen bis zu 500.000 Euro bereitgestellt. „Ein weiterer wichtiger Qualitätsfaktor im Technikland“, sagt V.E.M.-Geschäftsführerin Stefanie Huber, „ist die innerbetriebliche Ausbildung, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, stetig zu wachsen und qualitativ hochwertige Produkte für alle Welt zu produzieren.“ So würden die Betriebe der VEM „das positive Image als antriebsstarker Motor für Vorarlberg auch in die Welt hinaustragen.“
Neue Aufgaben

Die Digitalisierung wird die nächste Evolutionsstufe im Technikland Vorarlberg sein.
Udo Filzmaier, CEO der SIE Holding AG

Mit der fortschreitenden Digitalisierung wird die Bedeutung von Technik am und für den Standort weiter zunehmen. Mihala ortet da Handlungsbedarf: „Das technische Niveau in den Vor­arlberger Unternehmen ist sehr hoch, auch dank vorausschauender Ausbildung. Allerdings müssen viele Vorarlberger Unternehmen im Bereich der digitalen Transformation noch sehr viel mehr nachziehen.“ Denn nur Unternehmen, die in ihren Geschäftsmodellen und Geschäftsprozessen Digitalisierung „und auch Nachhaltigkeit im Sinn von Ressourceneinsatz“ entsprechend verankert hätten, „werden sich im künftigen Wettbewerb auch durchsetzen können.“ 

Die kritische Masse

Udo Filzmaier, Bildungssprecher der Industrie und CEO der SIE Holding, schließt da an. Vorarlbergs Unternehmen, große und kleine, seien stark technologiegetrieben, zurückzuführen auf die breite technische Ausbildung im Land, beginnend mit der Lehre, über die Höheren Technischen Lehranstalten bis hin zur Fachhochschule. „Vorarlberg ist ein Technikland. Technik prägte und prägt den Wirtschaftsstandort. Aber es sind Anstrengungen zu unternehmen, um auch in Zukunft ein Technikland sein zu können.“ Und da habe sich das Land, kollektiv gesehen, zu rüsten; es gelte, das technische Grundverständnis, das technische Wissen einer kritischen Masse weiter voranzubringen: „Denn die Digitalisierung wird die nächste Evolutionsstufe im Technikland Vorarlberg sein.“ Das Technikland ist Filzmaier zufolge also in die nächste Stufe zu transferieren, um etwa dem Slogan „chancenreichstes Land“ gerecht werden zu können, müsse man die neuesten Technologien implementieren und den Kindern damit die Basis geben, auch im zukünftigen Wettbewerb bestehen zu können. „Bildung“, sagt Filzmaier, „ist der wichtigste Ansatz.“ „Vorausschauender Ausbildung“, so formuliert das Mihala, „kommt entscheidende Bedeutung zu. Auch, um dem Facharbeitermangel zu begegnen.“

Ein gesellschaftliches Problem?

„Da passiert zu viel, was wir implizit und explizit mitgeben, als dass Mädchen dann noch eine wertfreie, neutrale Berufsentscheidung treffen könnten.“
Katharina Mader, Ökonomin an der Wirtschaftsuniversität Wien

Der Facharbeitermangel ließe sich allerdings lösen, würden sich mehr Frauen für technische Berufe begeistern. Laut Thomas Mayr vom Institut für Bildungsforschung der Wirtschaft wäre das Fachkräfteproblem in den technischen Berufen „größtenteils lösbar, wenn begabte, junge Menschen, unabhängig vom Geschlecht, tatsächlich zu gleichen Teilen in eine technische Lehre, in eine HTL oder in ein technisches Studium gingen“, oder ganz konkret gesprochen, „wenn mehr Mädchen diesen beruflichen Weg einschlagen würden.“ Zwar gibt es in diesem Bereich gute Initiativen und auch Erfolge – Grass etwa wurde Ende 2019 für „herausragende Angebote für Mädchen in technischen Berufen“ mit dem Staatspreis „Beste Lehrbetriebe – Fit for Future“ ausgezeichnet. Auch ist der Lehrberuf der Metalltechnikerin 2019 zum drittbeliebtesten bei Mädchen in Vorarlberg geworden. Aber laut Mayr gibt es in diesem Bereich eben nach wie vor „einen deutlichen Gap“, gesellschaftspolitisch bedingt, durch alte und tiefsitzende Verhaltensmuster: „Es sind gesellschaftliche Verhaltensmuster, die mitunter auch ganz subtil wirken und dazu führen, dass sich Mädchen tendenziell nicht für technische, sondern für andere Berufe interessieren.“
Katharina Mader, Ökonomin an der Wirtschaftsuniversität Wien, sagt, dass die Entscheidung, welche berufliche Laufbahn man nicht einschlage, bei Mädchen bereits sehr früh falle, noch im Kindesalter: „Da passiert zu viel, was wir implizit und explizit mitgeben, als das Mädchen dann noch eine wertfreie, neutrale Berufsentscheidung treffen könnten.“ So sei im allgemeinen Sprachgebrauch, bei fehlender Sensibilisierung, eben beispielsweise stets von dem Techniker die Rede, „also wieso soll sich ein kleines Mädchen vorstellen, dass sie auch eine Technikerin geben könnte.“ Nicht nur das Ausgesprochene, auch das Unausgesprochene kann die Lebensrealität eines Kindes bilden.

Sensibilisierung der Sprache

In Kinderbüchern, im Alltag, auch in der Schule, würde eine Sensibilisierung in der Sprache deswegen Sinn machen, da ist sich Mader sicher. Die Wirtschaftswissenschaftlerin sagt: „Bei all den guten Programmen, die es gibt, um mehr Frauen in technische Berufe zu bringen: Es hat sich gesamtgesellschaftlich an den Rollenbildern, am Rollverständnis, vor allem aber an den Mustern, die wir im Kopf haben, nur sehr wenig getan. Da gilt nach wie vor die Vorstellung: Hinter einer Maschine sitzt ein Mann.“ Mader nennt einen weiteren Grund, warum nach wie vor nur wenige Mädchen eine technische Ausbildung wählen: „Es mangelt an öffentlichen Rollenbildern, es müssten mehr Frauen, die in technischen Berufen erfolgreich sind, an die Öffentlichkeit treten. Denn jedes Mädchen kennt beispielsweise eine Friseurin oder eine Einzelhandelskauffrau, aber kaum jemals eine Metallerin oder eine IT-Technikerin.“ Und sie sagt auch, dass allein die Vorstellung, in eine typisch männlich dominierte Branche zu gehen, viele Mädchen bereits frühzeitig abschrecke. Laut Thomas Mayr lässt sich das sogar statistisch belegen: „In jenen Lehrberufen, in denen ein Geschlecht im Anteil stark dominiert, ist die Dropout-Quote des anderen Geschlechts massiv erhöht, das gilt bei Mädchen und bei Buben. Das jeweils unterrepräsentierte Geschlecht fühlt sich in der Situation offenbar unwohl.“ Es brauche eine kritische Masse an den jeweils anderen, schließt Mader an, „aber wenn man sieht, dass sich auch einzelne Frauen in Branchen durchsetzen können, die bis dato typisch männlich geprägt sind, dann kann das Vorbildwirkung haben.“ Und Mayr erklärt: „Es geht primär darum, Mädchen in ihrer Selbstmeinung zu stärken, dass nicht nur Buben, sondern auch sie Fähigkeiten und Begabungen in technischen Gebieten haben können.“ Im Rahmen der Technikland-Marketingkampagne sei „Vieles möglich. Alles kann!“, eines ihrer Lieblingsmottos, sagt wiederum Stefanie Huber: „Chancengleichheit hat bei uns oberste Priorität! Wir setzen uns seit Jahren dafür ein, schon früh Mädchen und Jungs für Technik zu begeistern, mit Projekten wie Code4Talents oder Lego Mindstorms.“

Die Sache mit den Hürden

„Wir haben in Bezug auf unser Verhalten, den Einrichtungen und infrastrukturellen Vorgaben noch viel zu lernen.“
Johannes Collini, Aufsichtsratsvorsitzender der Collini GmbH

Johannes Collini sieht im unterschiedlichen Zugang von Mädchen und Buben zu den Ausbildungswegen einen Lösungsansatz. Drei Viertel der 15-Jährigen Buben absolvieren eine Lehre, bei den Mädchen sind es nur etwa ein Drittel. „Wenn es uns gelingen würde, die Lehrlingsquote bei den Mädchen auf jene der Buben zu heben und einen Teil davon in die Technik zu bringen, dann hätten wir genügend Fachkräfte in Vorarlberg.“ Das Potenzial bei den Buben sei nahezu ausgeschöpft, bei den Mädchen aber bei weitem noch nicht, auch wenn die Zahlen von Mädchen in technischen Lehrberufen langsam nach oben gehen würden. Als Beispiel nennt Collini Blum – unter den 94 Lehrlingen, die heuer begonnen haben, sind 23 Mädchen.
Collini bringt auch einen speziellen Zweig – die Informationstechnologie – ins Spiel. Er habe Vorarlberger Betriebe nach dem Frauen-Anteil in IT-Abteilungen befragt. Das Ergebnis sei ernüchternd: „Die IT in Vorarlberg ist zu etwa 90 Prozent in den Händen von Männern. Dabei wäre gerade die IT ein höchst flexibler Beruf, denken wir nur daran, was in diesem Bereich mit Teilzeit oder Homeoffice alles möglich ist.“ Das Projekt Code4Talents sei ein sehr positives Beispiel, um Frauen die Hemmschwelle zu nehmen, sich mit Technik zu beschäftigen. Insgesamt aber gelinge es Frauen einfach zu wenig, in bestimmte Männerdomänen vorzudringen. Mit Folgen, sagt Collini, „die Lohnschere ist somit auf lange Sicht prolongiert.“ In der Tat: Die Einkommensunterschiede beginnen bereits bei den Lehrlingsgehältern – und setzen sich nach Abschluss der Berufsausbildung fort.
Noch gilt es – in den Unternehmen, in den Elternhäusern, in den Schulen – viele Hürden zu bewältigen, schließt Collini: „Wir haben in Bezug auf unser Verhalten, den Einrichtungen und infrastrukturellen Vorgaben noch viel zu lernen.“

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