An American College Girl in Bregenz
Zerrissene Jeans, ausgelatschte Schuhe und College-Sweaters, so das exotische Outfit, mit dem amerikanische Studenten und Studentinnen im verschlafenen Bregenz der 1960er Jahre auffielen. Eine junge Studentin glaubte in einem veröffentlichten Rückblick über ihren Aufenthalt in Bregenz (Titel siehe Überschrift) zu wissen, was die Leute wohl über die jungen Exoten gedacht haben dürften: „Aufgrund der Kleidung müssen die Amis entweder aus ärmlichen Verhältnissen stammen und oder auf jeden Fall sehr seltsam sein.“ Was natürlich überhaupt nicht den Tatsachen entsprach, denn die Teilnehmer des Kulturprogramms waren Studenten des renommierten Wagner-Colleges in New York, die ab 1962 die Gelegenheit bekamen, ein Semester oder ein ganzes Jahr in Vorarlberg zu verbringen.
Das Wagner College ist eine bis heute existierende private Hochschule für Geisteswissenschaften, die 1883 in Rochester, N.Y gegründet wurde. Es war ursprünglich eine lutherische Bildungseinrichtung, der es durch eine großzügige Spende des wohlhabenden John G. Wagner ermöglicht wurde, auf Staten Island ein Grundstück zu erwerben, auf dem sich bis heute auf 42 Hektar der Wagner Campus erstreckt, mit einem großartigen Blick auf Brooklyn, Manhattan und die Verrazzano-Bridge. Das Wagner-Hauptgebäude entspricht so sehr dem Klischee des amerikanische Uni-Campus, dass dort viele Filme gedreht wurden, so etwa 2003 „School of Rock“ mit Jack Black in der Hauptrolle.
Aus dem großstädtischen Milieu New Yorks kommend, war das kleine Bregenz für die Studenten ungewohntes kulturelles Neuland. Schon die Reise nach Europa war damals noch ein kleines Abenteuer, so bedurfte es einer viertägigen Schifffahrt von New York nach Le Havre, wo schon der Vorarlberger Hagspiel-Bus wartete, der die Gruppe nach einem Zwischenstopp in Paris nach Vorarlberg brachte. Obwohl die meisten amerikanischen Austauschprogramme mit europäischen Universitäten abgewickelt wurden, entschied sich das Wagner-College eher unüblich für eine Kleinstadt wie Bregenz. Ein ehemaliger Student fasst die Gründe dafür anschaulich zusammen: „Schon gut, Bregenz ist schön und geographisch günstig gelagert, aber warum wurde gerade Bregenz als Studienort ausgewählt? Warum nicht eine größere Stadt oder überhaupt eine Universitätsstadt? Der Vorteil einer Kleinstadt liegt für ausländische Studenten darin, dass es in Bregenz kaum möglich ist, unter Anonymität zu leiden. Es genügt, die Kirchstraße auf und ab zu spazieren, und schon sieht man immer wieder bekannte Gesichter. Ein Jahr in einer Kleinstadt wie Bregenz kann sehr heilsam sein. Leiden die Studenten gelegentlich auch an Heimweh, sie haben engen Kontakt miteinander und mit den Lehrkräften, und sie werden in Bregenz mit einem angenehmen Lächeln begrüßt.“
Auch tat die Stadt Bregenz ihr Möglichstes, um das Programm tatkräftig zu unterstützen. So stellte sie im Palais Thurn und Taxis Räumlichkeiten für den Unterricht zur Verfügung, während die Unterbringung in der ersten Zeit im Hotel „Weisses Kreuz“ in der Bregenzer Innenstadt stattfand. 1968 konnte das Wagner-College in der Kirchstraße sogar ein eigenes Gebäude beziehen, wo dann die Studentinnen wohnten, während die männlichen Teilnehmer weiterhin auf Gastfamilien verteilt blieben. Dort entstanden oft tiefe Beziehungen und so berichten ehemalige Gasteltern, dass sie noch viele Jahre später in Briefen mit „Liebe Mama“ angesprochen wurden, und es sich manche Studenten nicht nehmen ließen, immer wieder nach Vorarlberg zu reisen, um ihr Heimweh abzustreifen.
Da im Gegensatz zu heute Studienjahre im Ausland damals Neuland war, veröffentliche die Wagner-Leitung mehrfach die Gründe für ihr Programm. Demnach sollte ein Jahr in Europa einen zweifachen Nutzen für die Teilnehmenden stiften. Neben dem Erlernen einer Fremdsprache ging es darum, durch einen längeren Aufenthalt und in täglicher Berührung mit den Einheimischen die Kultur des Gastlandes zu erlernen, die fremden kulturellen Werte im täglichen Miterleben der Werk- und Festtage „durch alle Poren der Haut aufzunehmen. Auf der anderen Seite soll das in einer Gruppe gemeinsam Erfahrene zu einem neuen und tieferen Verständnis des eigenen Heimatlandes führen.“ Besonders in einem Bericht einer jungen Studentin wird das Interesse und die Sympathie für Vorarlberg eindrücklich sichtbar: nachdenklich fragt sie sich, was denn wohl aus ihr geworden wäre, wenn sie nicht zwischen den Wolkenkratzern New Yorks, sondern in Bregenz geboren worden wäre, wie anders denn ihr Leben verlaufen hätte können, wenn sie in Vorarlberg verheiratet wäre, hier Kinder bekommen und hier sterben würde.
Allerdings flachte in den 1980er Jahren das Interesse der Amerikaner an einem Aufenthalt in Bregenz deutlich ab, da der schwache Dollar für viele Studenten die Teilnahme unerschwinglich machte. Als Ersatz dafür gelang es dem damaligen Direktor James Mittelstadt, der Institution neue Gäste zuzuführen, da er mit einer Thailänderin verheiratet war und daher die Probleme junger Südostasiaten kannte, die oft Schwierigkeiten hatten, sich aus dem heimischen Familienverband zu lösen, um dann in einer amerikanischen Großstadt zu studieren.
Die Kleinstadt Bregenz eignete sich für sie optimal dafür, sich an das Leben in der Fremde zu gewöhnen. So stammten dann 1983 von den 81 Gästen in Bregenz nur noch 27 aus den USA, 51 aus Südostasien, sowie andere aus Kanada, Nigeria und anderen Ländern der „Dritten Welt“. Trotz all dieser Bemühungen sah sich die New Yorker Zentrale 1992 gezwungen, aus finanziellen Gründen die Vorarlberger Filiale zu schließen, denn um das Programm in Bregenz kostendeckend fortzuführen, hätte es mindestens 30 bis 40 Studenten pro Semester bedurft, tatsächlich waren es zuletzt nur noch 13. Für die Stadt Bregenz waren die amerikanischen Besucher so sehr zur Institution geworden, dass man den Abgang des Wagner-Colleges nicht einfach so hinnehmen wollte und daher in den USA nach einem neuen Partner suchte, der dann in der Southern Illinois University at Carbondale gefunden wurde. Durch die neue Kooperation hatte man sich 40 bis 50 Studierende pro Jahr erhofft, was sich allerdings als viel zu optimistisch herausstellte. Da bis 1997 jährlich kaum mehr als 20 Amerikaner das Angebot annahmen, sah sich die Stadt Bregenz gezwungen den Vertrag zu kündigen, womit für BRAYgenns (in einer Wagner-Broschüre, die in der Vorarlberger Landesbibliothek erhalten blieb, wird die Aussprache für Bregenz so empfohlen) eine lieb gewonnen Tradition ein Ende fand. Immerhin waren es insgesamt doch fast 2000 ausländische Studierende gewesen, die internationales Flair an den Bodensee brachten.
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