Die Zukunft selbst gestalten
Wettbewerb in Vorarlbergs Bildungslandschaft zulassen: Bei entsprechendem Willen könnte im Herbst 2015 eine Modellschule in Vorarlberg Realität werden. Vorbild ist eine deutsche Erfolgsgeschichte.
In Göttingen, einer Stadt in Niedersachsen, befindet sich eine der renommiertesten deutschen Schulen, die Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule. Und dass in dieser Schule so manches nicht dem gewohnten Bild entspricht, das wird Besuchern bereits bei einem Blick in das Konferenzzimmer klar. Denn dort stehen, für jeden sichtbar, auf einem Plakat Regeln geschrieben, die eine gute Schule ausmachen. Eine dieser Regeln lautet: „Den Schulwechsel eines schwierigen Kindes nimmt die Schule nicht als Erleichterung, sondern als Niederlage.“ Direktor dieser Schule ist Wolfgang Vogelsaenger. Und der 65-Jährige sagt: „Wir haben eine Aufgabe – jedes Kind gut durch die Schule zu bringen.“
1500 Schüler gehen derzeit in diese Schule, betreut von 150 Lehrern, die Absolventen gehören Statistiken zufolge zu den besten zwei, drei Prozent Deutschlands. Die Gesamtschule, und das ist eine weitere Besonderheit, nimmt die Schüler dabei nach dem repräsentativen Querschnitt der Göttinger Bevölkerung auf. 10 Prozent der Schüler kommen mit einer Hauptschulempfehlung, 30 Prozent mit einer Realschulempfehlung, 60 Prozent mit Gymnasialempfehlung, auch Schüler mit unterschiedlichsten Behinderungen werden aufgenommen. Die in Österreich so schädliche Differenzierung in frühem Alter gibt es hier nicht. Rund die Hälfte aller Schüler mit einer Hauptschulempfehlung schaffen an der Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule das Abitur, ebenso viele der Schüler mit einer Realschulempfehlung. Weniger als ein Prozent der Schüler verlassen die Schule ganz ohne Abschluss. Und bei zentralen Abschlussprüfungen liegt die Schule regelmäßig unter den besten fünf Prozent Deutschlands. „Kinder aus allen gesellschaftlichen Gruppen lernen gemeinsam“, sagt Vogelsaenger. Ihm zufolge ist das Trennen von Kindern in frühem Alter der größte Fehler des klassischen Schulsystems, das in Österreich – an dieser Stelle sei’s gesagt – in seiner Grundstruktur aus dem 19. Jahrhundert stammt. Vogelsaengers Credo mit Blick auf die Gesellschaft: „Wir können doch nicht auf zehn oder fünfzehn Prozent der Kinder, die ohne Schulabschluss aus der Schule gehen, verzichten – und sie gleich in die Arbeitslosigkeit schicken. Das kann sich kein Staat leisten, finanziell nicht und menschlich sowieso nicht.“
Unterschiede berücksichtigt
Der Direktor und seine Lehrerkollegen nutzen an ihrer Schule Heterogenität positiv, auch im Unterricht wird der repräsentative Querschnitt beibehalten – die Schüler lernen zu sechst an Tischgruppen, Starke und Schwache gemischt. „Jeder muss mit jedem können“, erklärt Vogelsaenger, „niemand wird ausgegrenzt.“ Selbstredend verzichtet die Schule auf Sitzenbleiben und Abschulen und bis zur 9. Schulstufe auf Noten, werden Eltern im Rahmen von Abendveranstaltungen mit einbezogen, schreiben Lehrer individuelle Schulentwicklungsberichte, duzen sich übrigens auch Lehrer und Schüler. Wenn der Direktor Besucher durch die weiträumige, architektonisch interessante Anlage führt, fällt die freundliche Atmosphäre an der Schule schnell auf. Und wenn’s so gar nicht geht, dann können Schüler in einem eigenen Streitschlichtungszimmer ihre Kontroversen beilegen – und erwerben damit so nebenbei auch noch eine wichtige Kompetenz fürs spätere Leben. Mit diesen und mit vielen weiteren positiven Elementen gilt Göttingen im gesamten deutschsprachigen Raum als Modellschule, wurde 2011 auch zu Deutschlands Schule des Jahres gewählt. Es mag pathetisch klingen, aber es ist eine Tatsache: Göttingen hat die soziale Selektion im Bildungssystem überwunden. Und in Göttingen passt sich die Schule den Kindern an, nicht umgekehrt – die Individualität des Einzelnen wird gefördert, nicht unterdrückt.
Eine Modellschule für Vorarlberg
Was hat Göttingen nun mit unserem Land zu tun? Ganz einfach: Eine Modellschule in Vorarlberg nach diesem Vorbild könnte die Lösung sein in Österreichs erstarrter Bildungslandschaft. Wenn offiziellen Erhebungen zufolge in Österreich mindestens ein Fünftel der Schulabgänger nicht sinnerfassend lesen können und nachweislich auch weitere Kompetenzen fürs spätere Leben fehlen, dann stimmt etwas nicht im System. Im Bildungssystem. Die PISA-Ergebnisse sprechen eine klare Sprache, und die von Österreich selbst kreierten Bildungsstandards runden das unzulängliche Bild ab. Im unserem rohstoffarmen Land, heißt es in politischen Sonntagsreden stets, ist Bildung das einzige Kapital. In Wahrheit aber werden auf dem Altar der politischen Befindlichkeiten Veränderung und Innovation blockiert, ohne Rücksicht auf Österreich, ohne Rücksicht auf unsere Kinder. Es tobt ein ideologischer Kampf, der Stillstand regiert. Und wer auf Besserung hofft, der hofft vergebens. „Das Bildungselend ist ausgebrochen“, schrieb Philosoph Robert Menasse einst angewidert, und Bildungsexperte Andreas Salcher konstatierte: „SPÖ und ÖVP hängen in ideologischen Fixierungen fest.“
Selbst gestalten
Das Land Vorarlberg könnte diese ideologischen Fixierungen der Bundesparteien umgehen – mit dem Start einer Modellschule im Rahmen eines Schulversuchs, dem der Bund allerdings zustimmen müsste. Doch Christoph Jenny, der Bildungsexperte der Wirtschaftskammer Vorarlberg, erwartet da keine Schwierigkeiten: „Wir wollen ja nichts abschaffen. Wir wollen nur einen Schulversuch starten.“ Das wiederum ist wesentlich: Es geht nicht darum, Gymnasien abzuschaffen, oder Mittelschulen, oder von oben die quasi beste Schulform zu verordnen, gegen Widerstände und Sorgen von Schülern, Eltern und Lehrern. Ziel ist es, eine Schule oder eine Region zu finden und dort beispielsweise eine Mittelschule und ein BORG, die sich freiwillig zu einem Modell nach Göttinger Vorbild weiterentwickeln. Freiwillig! Und warum nicht von den Besten lernen? Warum nicht in Göttingen Inspiration und Mut für Veränderungen finden? Denn selbst Göttingen hatte Vorbilder: Eine Exkursion von Eltern, Lehrern, Erziehungswissenschaftlern, Architekten und Politikern Anfang der 1970er Jahre nach Schweden hatte letztlich den Ausschlag gegeben, Neues zu wagen und die nunmehr preisgekrönte Schule zu gründen.
Wettbewerb erlauben
Eine Modellschule mit neuem pädagogischen Konzept auch in unserem Land zuzulassen, hieße Wettbewerb in eine erstarrte Bildungslandschaft zu bringen. Und vom Wettbewerb, das wäre gewiss, würden alle Bildungseinrichtungen profitieren. Veränderungen und Verbesserungen würden quasi zum Selbstläufer, um bestehen zu können. Auch das zeigen die Niedersachsen: 2016 wird es in Göttingen keine Hauptschule und keine Realschule mehr geben und ein bis zwei der insgesamt fünf städtischen Gymnasien werden schließen müssen. Warum? Weil sich an diesen Schulen nicht mehr genügend Schüler anmelden. Weil alle an die Integrierte Gesamtschule drängen. Die IGS Göttingen hat mittlerweile doppelt so viele Anmeldungen, wie Aufnahmen möglich sind. Über die Jahrzehnte hatten die Göttinger Schulverantwortlichen übrigens immer wieder mit Widerständen zu kämpfen, in Niedersachsen etwa war lange die Gründung von Gesamtschulen verboten, unter Ministerpräsident Christian Wulff erlebte die Schule laut Vogelsaenger „nur Schikanen“. Der Direktor konnte sich deswegen ein Grinsen nicht verkneifen, als seine Schule 2011 zu Deutschlands bester gewählt wurde – und Wulff, nun als deutscher Bundespräsident,sichtlich zerknirscht den Preis zu übergeben hatte. „Politik gegen Realität“, sagt der Direktor heute, „das passiert halt manchmal.“
Ab Herbst 2015 Realität?
„Wir wollen die Schulentwicklung in Vorarlberg vorantreiben und unterstützen“, sagt Jenny, „wir wollen Kooperationen unserer Schulen mit den besten Schulen im Ausland.“ Man müsse schauen, was auf hiesige Maßstäbe umlegbar sei, was adaptiert werden könne: „Wir müssen uns dabei an dem orientieren, was in anderen Regionen seit Jahrzehnten erfolgreich umgesetzt wird, wir müssen über den Tellerrand hinausschauen.“ Ziel sei es, ab Herbst 2015 in einer Schule oder einer Region imLand mit einem neuen pädagogischen Konzept zu starten. Selbstredend müsste diese Modellschule laut Jenny als Ganztagsschule geführt werden. „Schüler unterschiedlicher Leistungsgrade wechseln nach der Volksschule in diese Mittelschule. Die äußere Differenzierung, wonach gute Schüler ins Gymnasium kommen und die schlechten in die Mittelschule, wird damit durchbrochen.“ In der modellhaften Mittelschule würde das Potenzial jedes Kindes ausgeschöpft, könnten sich die Kinder ohne Druck entwickeln, würden die Kinder auch möglichst viel Zeit mit ihren Lehrern verbringen. Teambildung ist in diesem Verständnis elementar, Eltern würden intensiv mit eingebunden, Lernentwicklungsberichten würde mehr Bedeutungals den klassischen Noten eingeräumt. Sitzenbleiben gäbe es in dieser, nach Jahrgängen getrennten Schule, nicht. „Wer nach der Mittelschule Matura machen will, wechselt in besagtes BORG. Dort wird nach demselben System weiter unterrichtet. Das sind einige Elemente, die in Göttingen zur Anwendung kommen – und dort zu den besten Bildungserfolgen führen.“ Schüler unterschiedlicher sozialer Herkunft bekämen so die Chance, bessere Bildungserfolge zu erzielen. Und eine bessere Ausbildung in der Kindheit und Jugend wäre das Tor zu einem wirklich selbstbestimmten Leben im Erwachsenenalter. Denn mit der Bildung steht und fällt letzten Endes alles, sie entscheidet über den späteren Lebensweg.
Die Sache mit den Lehrern
An einer solchen neuen Schule müssten freilich auch Lehrer unterrichten, die den neuen Weg mitgehen wollen. „Kommt ein neuer Lehrer zu einem Vorstellungsgespräch, lautet meine erste Frage: Mögen Sie Kinder?“, berichtet Vogelsaenger, „manch einer schaut dann verdutzt – dabei ist das die wesentlichste Frage, die es gibt.“ Der Neuseeländer John Hattie, von der „Times“ zum „wohl einflussreichsten Bildungswissenschaftler der Welt“ geadelt, beschäftigt sich in seinen Forschungen vor allem mit Einflussfaktoren auf gute Schülerleistungen, mit Kreativität und Modellen des Lehrens und Lernens. Sein Fazit? „Was Schüler lernen, bestimmt der einzelne Pädagoge. Auf den guten Lehrer kommt es an.“ Könnte er selbst eine Schule nach seinen Vorstellungen schaffen, würde er folgenden Weg gehen, sagte Hattie in einem Interview: „Ich würde mir eine Gruppe von sehr guten Lehren aufbauen, gewissermaßen die besten des Landes.“ Im österreichischen Bildungssystem bekommen Direktoren Lehrer zugeteilt. An einer Modellschule aber sollte sich ein Direktor selbst sein Personal aussuchen können. Eine Modellschule bräuchte damit also auch mehr Autonomie, als sie Schulen derzeit gewährt wird, nicht nur in personeller, sondern auch in finanzieller und organisatorischer Hinsicht, um die Schüler wirklich in den Mittelpunkt stellen zu können. Mehr Autonomie brächte auch mehr Verantwortung. Schlecht wäre das nun wirklich nicht: Unser Bildungssystem krankt auch an der Tatsache, dass niemand die Verantwortung übernimmt – weder für Schulabbrecher noch für all jene, die trotz Schulabschluss nicht sinnerfassend lesen können und auch in anderen Wissensbereichen grundlegende Schwächen aufweisen.
Neues Modell erlauben, Zukunft wagen
Es geht also nicht, das sei nochmals betont, um die Abschaffung einer Schulform. Es geht um das Zulassen zumindest eines einzigen neuen Schulmodells. Es geht darum, Wettbewerb zuzulassen. Den Mut der Zuständigen vorausgesetzt, könnte eine solche Schule für Furore sorgen. Soll die Bundespolitik doch in ihren ideologischen Schützengräben verharren. Vorarlbergs Verantwortliche könnten agieren und die Zukunft selbst gestalten! Ein Ja zu einer solchen Modellschule wäre gleichzeitig ein Nein zu einem der letzten planwirtschaftlichen Systeme – dem österreichischen Bildungssystem. Im geltenden System wird von oben vorgegeben, unten muss nachvollzogen werden, ohne die Sinnhaftigkeit der jeweiligen Maßnahme auch nur diskutieren oder gar eigene Ideen einbringen zu können. Ein neuer Weg muss beschritten werden! „Wer sich für die Zukunft rüsten will, muss Innovation, Flexibilität und Veränderung zulassen“, sagt Genetiker Markus Hengstschläger an einer Stelle in diesem Magazin, während Zukunftsforscher Matthias Horx postuliert: „Zukunft beginnt mit der Überwindung alter Denkmuster.“ Zeit wäre es.
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